Mittwoch, 18. Februar 2015

Aus der Zeit gefallen

Niccolò Jommellis Oper „Berenike, Königin von Armenien“ an der Staatsoper Stuttgart

Von Verena Großkreutz

Beziehungsstress neben Aposteln: Potentat Lucio Vero (Sebastian Kohlhepp) wird von seiner ungeliebten Braut Lucilla (Helene Schneiderman) bedrängt. (Foto: A.T. Schaefer)

Stuttgart - Heiseres Löwengebrüll dröhnt aus Lautsprechern. Vologeso, König der Parther, soll den wilden Bestien in der römischen Arena zum Fraß vorgeworfen werden. Wie inszeniert man so was heute? In der Stuttgarter Staatsoper, wo am Sonntagabend Niccolò Jommellis Barockoper „Berenike, Königin von Armenien“ Premiere hatte, natürlich nicht naturalistisch: Vologeso drängelt sich durch die vorderen Zuschauerreihen. Berenike, in Angst um ihren heimlichen Verlobten, hetzt ihm über die Sitze kletternd nach. Jetzt fürchtet der römisch-kaiserliche Feldherr Lucio Vero um seine heißgeliebte Gefangene Berenike, wirft seinem Konkurrenten von der Rampe aus sein Schwert zu, damit der die Löwen meuchele. Und dann taucht Lucilla, Tochter des Kaisers Marc Aurel, auf, die eigentliche Verlobte Lucios, erkennt den Betrug ihres Gatten in spe, zwängt sich durchs Orchester an die Rampe, um dort den völlig verwirrten Lucio auf die Pelle zu rücken.

Jossi Wieler und Sergio Morabito haben aus diesem grandiosen Gesangsquartett auch szenisch große Kunst gemacht: Inmitten der Intrigen und Täuschungen, die die Handlung dieser Opera seria gattungsgemäß prägen, scheint plötzlich die Zeit stillzustehen, öffnen sich die Seelen der Protagonisten, wird alles, was sie bewegt, überdeutlich – als reiße ein Nebelvorhang auf: ein Augenblick der Wahrhaftigkeit, fernab von Kulisse und Künstlichkeit, und ganz nah beim Publikum. Wie es auch in Jommellis Musik hörbar wird: dieses Sehnen und Verzweifeln, diese Angst, Verwirrung und Einsamkeit.

Eine Ausgrabung mit wunderbarer Musik – bereits 1993 von Frieder Bernius ediert, konzertant aufgeführt und auf CD eingespielt. 250 Jahre aber gab es keine szenische Aufführung der „Berenike“, einer Vertonung des damals beliebten Librettos von Apostolo Zeno. Der Neapolitaner Jommelli, zu Lebzeiten ein europäischer Opernstar, heute ein großer Unbekannter, komponierte das Werk 1766 während seiner Amtszeit als Hofkapellmeister im Dienste des württembergischen Herzogs Carl Eugen für das damalige Opernhaus in Ludwigsburg.

Das Regieteam und die Bühnenbildnerin Anna Viebrock verlegen die Handlung in die heutige Zeit und brechen den Blick darauf durch einen Kunstgriff. Vorne öffnet sich der Innenhof eines venezianischen Palazzos, in den immer wieder Fragmente aus dem Gemälde „Die Fußwaschung“ des Renaissancemalers Tintoretto implantiert werden – ein Hund, ein Waschbottich, das Knie eines Apostels, alles surreal verzerrt in den Größenverhältnissen. In diese Kunstkulisse flüchten sich zu Beginn der Oper die Protagonisten – wie hineingeworfen in eine andere Zeit, in legerer Alltagskleidung und barfuß, als seien sie zu Hause von einem Erdbeben überrascht worden und suchten hier Schutz. Entdecken Requisiten und Kostüme, Schwerter, Stiefel, Pumphosen, Militärjacken, Lorbeerkranz und Zepter. Das Spiel, die Verkleidung, kann beginnen.

Aber nichts ist so, wie es scheint. Tintorettos Gemälde, auf dem Jesus seinen Jüngern beim Letzten Abendmahl die Füße wäscht, dient zwar als Rahmen für die heutige Aneignung der alten Historienoper. Hinter den Säulen, wo Tintoretto einen Kanal und antike Gebäude malte, blickt man aber auf die heruntergekommene heutige Vorstadt Neapels. Alles ist aufgebrochen an diesem Abend. So wie die Gefühle in „Berenike“ die Machtverhältnisse außer Kraft setzen. Tintoretto, der biblische Ereignisse in seinen Bildern inszenierte, ließ sich bei der Arbeit von der antikisierenden Bühnenkunst seiner Zeit inspirieren. Den Bildhintergrund für seine „Fußwaschung“ fand er in einem Architektur-Buch: eine idealtypische Tragödienkulisse.

Mittendrin im künstlerischen Vexierspiel: die wirren und irren Liebenden. Jommelli weichte die Grenzen zwischen Rezitativ und Arie auf. Die Gefühle sprengen die Form von innen auf. Das Orchester spricht eine neuartige, expressive Sprache. In Stuttgart ist es als Gefühlspool vorne sichtbar auf der Bühne positioniert, leuchtet die Seelen der Protagonisten aus. Gabriele Ferro am Dirigierpult fordert vom Staatsorchester große Emotionen, aber auch differenzierte Rhetorik: ob Seufzen, schmerzvoll dissonante Eintrübungen oder melodiöse und rhythmische Verdrehungen, die ein Lüge entlarven. Der Streichersatz weitet sich durch die Auffächerung in drei Gruppen. An Präzision und Intonation muss das Orchester aber noch arbeiten.

Auf der Bühne sucht sich die auskomponierte Gestik körperliche Ekstase. Flavio, kaiserlicher Gesandter, implodiert beinahe in seiner zornigen Arie von der Flatterhaftigkeit der Gefühle – Sopran Catriona Smith singt das mit Überdruck, am ganzen Körper bebend vor Hochspannung. Auch in der Rollenbesetzung scheint die Regie ein wenig gegen den barocken Strich zu arbeiten. Tenor Sebastian Kohlhepp als Lucio besitzt großes Zukunftspotential: warm das Timbre, sicher die Höhe, phänomenal der Registerausgleich. Aber die Koloraturen verschmieren ihm. Und Berenike scheint geradewegs einer Bellini-Oper entstiegen: Sopran Ana Durlovski singt sie schön, aber etwas anämisch. Dünnhäutig wirkt Berenike, mit leicht wahnsinnigem Touch. Den Intriganten Aniceto, Lucios Diener, gibt Igor Durlovski, Bass und Altus zugleich – und deshalb mit einem ziemlichen Bruch zwischen Kopf- und Bruststimme. Vologeso dagegen, König der Parther, die von den Römern besiegt wurden, ist mit Sopran Sophie Mailley lyrisch besetzt. Sie singt den traumatisierten Kriegsversehrten mit phänomenaler Technik. Wie ein Bruder Werthers wirkt Vologeso in seiner grenzüberschreitenden Emotionalität. Ein Wilder, ein Gegenbild zum pathetisch-großspurigen Römer Lucio. Lucilla, die junge Verlobte Lucios, gibt Publikumsliebling Helene Schneiderman mit reifem Timbre: klar, vibratoarm, sauber. Da sitzt jeder Ton. Grandios Schneidermans darstellerische Gratwanderung zwischen geschäftstüchtiger Verstellung und wahren Gefühlen. Als Strippenzieherin darf sie das unvermeidliche Happy-End befehlen. Aber danach ist in Stuttgart Schluss mit lustig. Es droht im Hintergrund der graue, unvorhersehbare Alltag der Gegenwart. Das Spiel ist aus, Kostüme werden abgelegt, und flugs ist man sich wieder fremd.

Gesangsensemble und Orchester werden am Ende bejubelt, das Regieteam von einem Teil des Publikums ausgebuht. Das ist ungerecht. „Berenike“ bietet einen großartigen, spannenden Theaterabend.

Rezension für die Stuttgarter Nachrichten vom 17. Februar 2015.

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