Dienstag, 2. Juni 2015

Nachgeschöpft

Stuttgarter Philharmoniker mit Mahlers komplettierter Zehnter

Stuttgart - Man stelle sich vor, Thomas Mann hätte ein Romanfragment hinterlassen, von dem das erste Kapitel fertig und der Rest nur im groben Handlungsverlauf angelegt ist. Wäre jemand auf die Idee gekommen, das Buch fertigzuschreiben? Wohl nicht.

Im Fall von Gustav Mahlers Zehnter Sinfonie, bei der ein analoger Fall vorliegt, gab es von jeher keine Skrupel. Viele Versuche wollten das Werk - geschrieben mit der Todesangst eines Herzkranken und dem Liebesleid um die untreue Gattin - komplettieren. Den jüngsten stellten die Stuttgarter Philharmoniker im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle vor. Am Dirigierpult stand der Nach-Schöpfer selbst: der 28-jährige Yoel Gamzou, ein Mahler-Besessener, der schon im Alter von sieben Jahren durch eine Mahler-LP „erleuchtet“ wurde und dann beschloss, sein Leben dem Meister und dessen gut 20 Werken zu widmen. Schon als 19-Jähriger gründete er zu diesem Zweck das International Mahler Orchestra, mit dem er 2010 auch seine Fassung der Zehnten in Berlin uraufführte.

Gamzous Mahler-Begeisterung zeigt sich an diesem Abend auch körperlich: Er bäumt sich auf und krümmt sich, hüpft auf den Fußspitzen, schlägt den Taktstock mal zackig, mal hin und her schwingend, aber man hat manchmal den Eindruck, dass ihn das, was die Philharmoniker spielen, gar nicht mehr so sehr interessiert. So verrät schon das kleckernde Zusammenspiel der Bratschen beim einstimmigen, depressiven Adagio-Einstieg fehlende Feinarbeit. Dennoch gelingt gerade in diesem Kopfsatz - dem einzigen Teil der Sinfonie, den Mahler selbst vollendet hat - den Philharmonikern die plastische Umsetzung der Partitur in ihrer ganzen nervös vibrierenden Sehnsucht, ihrem dissonanten Aufschreien und höhnischen Lachen.

Was Gamzous kompositorische Mitarbeit an den restlichen vier Sätzen angeht, so trifft er die große weite Welt der Mahler-Tonfälle gut: ihre Kontraste aus apokalyptischen Einbrüchen, feierlichen Chorälen, Volksliedton, Naturpoesie und Idylle, aus Tragik und Trivialem. Auch das Finale, das nur in einer Stimme und ein paar Harmonien überliefert ist, klingt bei Gamzou recht mahlerisch - wenngleich die große Trommel übertrieben oft schicksalhaft dröhnt und der idyllische Flötengesang kitschig wirkt.

Interessant ist der Abend allemal. Die Frage bleibt aber, ob Vervollständigungen dieser Art nicht ein Bärendienst sind. Es ist ja nicht Mahlers niederschmetternd depressiver Schwanengesang, der da erklingt. Es ist Gamzous Vorstellung davon.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 2. Juni 2015.

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