Mittwoch, 18. Mai 2016

„Im IS steckt jede Menge Westen“

Auftakt zur Veranstaltungsreihe „Wie wir leben können: Terror, Texte, Wirklichkeiten“ mit Nicolas Hénin und Sabine Damir-Geilsdorf im Literaturhaus Stuttgart

Stuttgart - Großer Andrang im Literaturhaus Stuttgart. Es geht an diesem Abend um die Propaganda-Strategien des sogenannten Islamischen Staats, der mit Videos von Geisel-Enthauptungen weltweit Angst und Schrecken verbreitet, andererseits über die sozialen Netzwerke Bilder verbreitet, auf denen sich Dschihadisten als coole Kerle zeigen: mit jungen Kätzchen, die sich auf den Gewehrläufen räkeln. „Propaganda: Sprache, Text und Poesie“ war das Thema der Auftaktveranstaltung einer Reihe zu terroristischer und kriegerischer Gewalt. Zu Gast auf dem Podium: Nicolas Hénin, französischer Nahostjournalist, der im Juni 2013 für zehn Monate Geisel des IS und dann von Frankreich freigekauft wurde, und Sabine Damir-Geilsdorf, Kölner Professorin für Islamwissenschaft, die sich mit der der Bedeutung von Frauen in der IS-Propaganda-Maschinerie beschäftigt.

Moderator Jörg Armbruster, bis 2012 ARD-Nahost-Korrespondent, befragte Hénin nach seinen Erlebnissen im IS-Geisel-Lager in Syrien. Die Zeit habe ihn stark gemacht, sagt Hénin. Wie man aus solchem Horror Stärke gewinnen könne? Die Gräuel, die er erlebt habe, erklärt der Franzose, seien „verhältnismäßig nichts“ im Vergleich zu jenen der Syrer in den Nebenzellen, die vom Abend- bis zum Morgengebet gefoltert worden seien. Für ihn sei der Tagesablauf weniger von Angst als von Langeweile geprägt gewesen. „Man schläft, man schlägt die Zeit tot, man hat einfach nichts zu tun.“ Seine Bewacher kamen aus verschiedenen westlichen Ländern. Alle Typen seien dort vertreten, vom draufgängerischen Cowboy bis zum ganz Schüchternen.

Unterschätzte Frauen beim IS

Warum er in seinem aktuellen Buch „Der IS und die Fehler des Westens“ nichts über seine Geiselhaft berichtet habe, wird Nicolas Hénin gefragt. Zum einen wolle er nicht die Erwartungen des IS erfüllen, über den Schrecken zu berichten und damit die Propaganda fortzuführen, so Hénin. Außerdem wolle er keine Opferhaltung einnehmen. Mit Blick auf das Pariser Attentat im vergangenen November mit 130 Toten meinte der französische Journalist: Das sei furchtbar gewesen, doch wir sollten nicht besessen sein vom eigenen Leid. „Das finde ich kontraproduktiv. In Syrien sterben jeden Tag 130 Menschen“. Die Bevölkerung dort bettle um ein Minimum an Sicherheit, und selbst das verweigere man ihr.

In der Propaganda-Maschinerie des IS spielen Frauen eine besondere, eine wichtige Rolle. Sabine Damir-Geilsdorf untersuchte Blogs, Facebook-Seiten, Twitter-Accounts junger Dschihadistinnen. Sie hat deren Gedichte und verklärenden Erfahrungsberichte gesammelt und ausgewertet. Die meisten stammen von ausgereisten Europäerinnen. In den Blogs herrsche ein subkultereller Jargon, der gespickt sei mit arabischen Phrasen und Schlüsselworten. Was treibe Frauen in die Arme des IS? „Gehirnwäsche oder Sprung in der Schüssel?“, fragt Armbruster. Es sei die Auffassung, sich heldisch für Gott zu opfern, alles als Prüfung anzusehen, das Diesseits nur als unwichtige Zwischenstation auf dem Weg ins Jenseits zu verstehen, meint Damir-Geilsdorf.

Die Syrerin Ahlam al-Nasr ist so etwas wie eine IS-Hofpoetin. In einem Gedicht verklärt sie den Opfertod : „Nein! Sagt nicht: Wir brauchen keinen Dschihad (...). Der Dschihad ist unser Leben und unser Heil.“ Syrien diene Männern wie Frauen als Kulisse für ihre „Hidschra“, die Auswanderung nach dem Vorbild Mohammeds, der 622 von Mekka nach Medina zog, so Damir-Geilsdorf. Selbst bei Zwangsverheiratungen mit Dschihadisten hätten die Frauen das Gefühl, wirkmächtige Akteurinnen beim geschichtsträchtigen Aufbau eines Staates sein, wie er zur Zeit des Propheten Mohamed gewesen sei. Andere freilich trieben schlicht Abenteuerlust oder Heldenverehrung nach Syrien, romantische Phantasmen vom sexuell attraktiven, wilden Kerl. Auch gebe es das Phänomen der Popkultur: Dschihadismus würde als cool empfunden, diene aber auch oft der Rebellion gegen die schockierten Eltern.

Hénin berichtet von einem Gespräch mit dem späteren Brüsseler Attentäter Najim Laachraoui, der geäußert habe, Marine Le Pen habe völlig Recht mit ihrer Parole „Frankreich den Franzosen!“. „Die brauchen einander“, folgert Hénin, „der sogenannte IS und die sogenannte Islamophobie“. Daraus entstehe die Bereitschaft zu Attentaten.

Hénin vergleicht die Rolle der Frauen im IS mit den Tupperwaren-Vertriebstechniken, bei der eine Frau als Verkäuferin anfängt und dann neue Verkäuferinnen anwerbe. Die weiblichen Dschihadisten würden im Westen grenzenlos unterschätzt, da man Frauen prinzipiell in der Opferrolle des IS sehe. Wenn eine Dschihadistin in Deutschland einreise, werde sie so gut wie nicht gefilzt. Werde sie auffällig, drohten ihr lediglich ein paar Wochen Hausarrest, während Männer im gleichen Fall jahrelang hinter Gitter kämen.

Ausdruck einer Krise des Islam

Überhaupt lasse sich das Phänomen des IS-Terrorismus nicht auf ein paar Typen reduzieren, die Bomben legen, gibt Hénin zu bedenken. Er bestehe zu 95 Prozent aus Propaganda und höchstens zu fünf Prozent aus militärischer Gewalt. Das zeige sich schon bei den Videos mit Enthauptungen von Geiseln, die vor allem eines belegten: den sadistischen Erfindungsreichtum der Terroristen, die ihre Geiseln auch auf unspektakulärere Weise töten k önnten.

„Wieviel Westen steckt im IS?“, fragt Armbruster. „Jede Menge“, sagt Hénin, er sei ein Multikulti-Gebilde, ein Auffangbecken. Wer bei uns „zum Abfall der Gesellschaft“ geworden sei, könne dort mit Anerkennung rechnen. Im gegenwärtigen Dschihadismus sieht Hénin vor allem den Ausdruck einer Krise des Islam. Wer bei diesem asymmetrischen Krieg etwas gewinnen wolle, werde dies nicht auf dem Schlachtwelt erreichen. Nur der sei am Ende erfolgreich, dem es gelingt, die Bevölkerung des Gegners zu gewinnen.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 17. Mai 2016.

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