Freitag, 16. März 2018

"Nazis sind immer die anderen"

Ein Gespräch mit dem Theaterregisseur und Autor Tobias Ginsburg

Tobias Ginsburg, Regisseur und Autor von „Ein Kriegsspiel“, hat während der Proben in Esslingen noch unter dem Pseudonym Arno Weber gearbeitet. Vorsichtshalber. Weil er ein Buch über seine 8-monatigen Undercover-Recherchen im Milieu der rechtsgerichteten „Reichsbürger“ geschrieben hat, dessen Veröffentlichungsdatum zu diesem Zeitpunkt noch nicht feststand. Er musste mit Morddrohungen rechnen. Am vergangenen Mittwoch ist „Die Reise ins Reich. Unter Reichsbürgern“, eine Mischung aus Reportage, Sachbuch und Abenteuergeschichte, nun erschienen. Die Medien zeigen schon jetzt reges Interesse. Nächste Woche, am 21.3., ist der 32-Jährige in der Talkshow von Markus Lanz zu sehen.

Herr Ginsburg, gerade wurde Ihr Buch-Debüt veröffentlicht. Haben Sie schon Morddrohungen erhalten?
Nein, aber mein Alter Ago verliert gerade mit einer unglaublichen Geschwindigkeit seine Facebook-Freunde. Von fast 1500 sind es jetzt nur noch 1250.

Acht Monate im tumben Reichsbürger-Milieu. Warum tut man sich so was an?
Es war zunächst eine Mischung aus Interesse und Naivität. Das Reichsbürgerphänomen ist ja seit dem Polizistenmord in Georgensgmünd 2016 omnipräsent. Man erhält in den Medien zwar Einblicke in diese völlig schräge Welt aus vereinzelten, irren Rechtsradikalen, aber es erschließt sich kein ganzes Bild. Als ich mit der Recherche anfing, war mir noch nicht klar, dass daraus ein großes Buchprojekt werden würde. Aber dann merkte ich, dass wir es hier nicht mit einer Krankheit zu tun haben, sondern mit einem Symptom von etwas ganz Grundsätzlichem: Nämlich wie Rechtradikalismus in Deutschland momentan funktioniert. Und dann konnte ich nicht mehr davon lassen.

Und wie funktioniert dieser Rechtsradikalismus?

Wir haben es bei den Reichsbürgern mit Verschwörungstheorien zu tun. Wir leben in einer Zeit, wo bestimmte Haltungen nicht toleriert werden. Man kann seinen Judenhass nicht offen zur Schau stellen. Dafür braucht man Codierungen, Chiffren. Und so kommt es zu diesen kuriosen Verschwörungstheorien, die es in der braunen Szene schon immer gab und die in verschiedenen Varianten immer wieder neu artikuliert werden: Es gebe eine neue Weltregierung, „die da oben“, die das deutsche Volk unterdrücke. Mal sind es die Amerikaner, mal Außerirdische, mal Satanisten oder „die mächtigen Ostküstenfamilien“. Deutschland sei besetzt, ein unrechter Staat, und wir müssten uns wehren, das wahre Deutschland zurückholen. Diese Theorien breiten sich krakenartig aus, auch in andere Milieus, ob Esoterik oder Friedensbewegung. Merkwürdig ist, dass sich viele in der Szene gar nicht als Rechte fühlen. Es gibt Menschen, die halten sich für rein spirituell, womöglich sogar für links. Die Nazis, das sind immer die anderen.

Wie fanden Sie Anschluss an die Szene?
Das war sehr einfach. Die Szene ist ja offen für Neuankömmlinge. Ich hatte ein Alter Ego namens Tobias Patera, spielte also eine Rolle, war sehr gesprächig. Ich habe meine Gesprächspartner gespiegelt, und mein Leben, das ich ihnen schilderte, war gar nicht mal aus der Luft gegriffen, nur trister, ein bisschen verzweifelt, sehr viel einsamer, und zur Sicherheit war ich kein Jude. Ich ging mit Stiefelnazis Bier trinken, traf friedensbewegte Esoteriker. Das ist das Gruselige dort, dass sich diese beiden Parteien verstehen, nach dem Motto: Wir tun uns zusammen gegen „die da oben“.

Sie haben ziemlich viel Kurioses erlebt …
Der klassische Selbstverwalter, also ein Reichsbürger, der seine eigene Wohnung zum Dreiraum-Staat ausruft, muss auf den ersten Blick nicht unsympathisch wirken, wenn man ihn besucht. Das wirkt unter Umständen fast links, diese Abkehr vom Establishment. Aber in der Regel ersetzen sie den verhassten Staat mit einem eigenen Wust an Paragraphen, und die selbst erdachten Gesetze, die dort herrschen! Kurios auch, wie da mit der Sprache umgegangen wird, das hat schon etwa Kindliches. Das Wort „Personalausweis“ etwa sei ein Beleg dafür, dass wir nur Personal dieses Staates sind, keine Bürger. Manchmal hatte ich das Gefühl, ich sei verschollen in einem Jelinek-Einakter, wo Wortspiele zur Realität werden. Mein Lieblingswortspiel ist das einer Frau, die weltraummedizinischen Klimbim und gefährliche alternative Heilmethoden verkauft. Sie erklärte mir, wir müssten uns in Acht nehmen vor Onkologen und Gynäkologen, weil in diesen Berufen das Wort „Logen“ drinstecke. Das ist natürlich der totale Wahnsinn.

Für wie gefährlich halten Sie die Reichsbürger?

Es gibt sehr unterschiedliche Milieus. Am unmittelbar gefährlichsten sind die schwerstlabilen Menschen, denen ein Narrativ nahegelegt wird, das zur Paranoia führt. Die dann glauben, jeder würde sie belügen, und sie müssten sich gegen jeden „da draußen“ verteidigen: ob Polizei, Nachbarn, Politik, Presse, Medizin. Ängste sollte man ernstnehmen, aber nicht diese Wahnvorstellungen.

Interview für die Esslinger Zeitung vom 16.3.2018.

Sonntag, 3. Dezember 2017

Unter Hochdruck

Das SWR Symphonieorchester spielt in der Leitung des israelischen Dirigenten Omer Meir Wellber im Stuttgarter Beethovensaal

Stuttgart - Während der israelische Dirigent Omer Meir Wellber beim Schlussapplaus von der Bühne geht, schwingt sein rechter Arm noch nach im Rhythmus des Finales der Dritten Sinfonie Schuberts. Und im Vorbeilaufen versetzt er einem Becken, das dort noch vom Riesenschlagwerkaufgebot des Vorgängerstücks steht, einen kleinen Kick, als wäre er traurig, dass das Stück schon vorbei ist. Wellber wirkt vom rauschartigen Überschwang des Finales noch ein wenig benommen.

Offenbar braucht das fusionierte SWR Symphonieorchester derzeit einen so unter Hochdruck stehenden Dirigenten, um Höchstleistung zu bringen. In der Schubert-Sinfonie jedenfalls, die das Orchester in seinem Abokonzert im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle spielte, wirkte jede Phrase genau geformt und auf Hochglanz poliert. Trotz beachtlicher Größe des Klangkörpers wirkte alles schlank, leicht, akkurat, ausgeputzt, beweglich: eine ungeheuer elektrisierende Aufführung dieses Werks eines Achtzehnjährigen, das mit den anderen fünf Jugendsinfonien Schuberts lange genug von der Nachwelt, allen voran von Johannes Brahms, als „Vorarbeit“ abgetan worden ist. Dieser Abend aber offenbarte ein Meisterwerk an musikalischen Einfällen, und es war geradezu rührend, mit wie viel Liebe fürs Detail Wellber, Shootingstar unter den jüngeren Dirigenten, etwa im Kopfsatz das schäkernde, punktierte Klarinettenthema in Szene setzen oder dem volksliedhaften Gedanken im Allegretto den roten Teppich ausrollen ließ. Und mitreißend, wie sehr sich in der hart akzentuierten Rhythmik des dritten Satzes Beethoven’sche Energie entfaltete.

Schubert war Teil einer auf krasse Kontraste bauenden Dramaturgie, die mit Debussys „Prélude à l’après-midi d’un Faune“ begonnen hatte. Das SWR Symphonieorchester entfaltete hier eine Klangfarbenmagie, die an die besten Zeiten des alten RSO Stuttgart erinnerte, und Wellber brachte schon mal seine tänzerische Beweglichkeit ins Spiel und seine plastischen Fingerzeige, die manchmal an die Gestik eines Zauberers erinnern. Einen grelleren Kontrast zu solch irisierendem, luzidem Schönklang als Bernd Alois Zimmermanns „Dialoge: Konzert für 2 Klavier und Großes Orchester“ von 1960/65 könnte es wohl kaum geben. Allein zwölf Perkussionisten inklusive Pauker positionierten sich auf der völlig überfüllten Bühne. Dazu zwei Steinways und auch noch die beiden Kameraleute für den Internet-Live-Video-Stream des SWR. „Dialoge“ ist ein düsteres Werk. Aus Schlagwerk-Wolken schlängeln erste Motivketten hervor, münden in unheilverkündende Klangflächen. Eruptives, Gewalttätiges, schrille Instrumentenschreie wechselten mit Meditativem, und ins Orchestergeschehen flocht sich das Gegen- und Miteinander des konzentriert und souverän agierenden Pianistinnenduos Bugallo-Williams ein. Collageartig scheinen in diesem Werk immer wieder Klanggestalten aus fernen Zeiten auf, Zitate wie der alte Pfingst-Hymnus „Veni creator spiritus“ oder Mozarts spätes C-Dur Klavierkonzert, aber auch neuere wie Debussys „Jeux“, das nach der Pause dann selbst zur Aufführung kam. Eine Dramaturgie, die beim Publikum zündete und am Ende euphorisch bejubelt wurde.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 2./3.12.2017.

Mittwoch, 29. November 2017

Kecke Attacken

Mirga Gražinytė-Tyla hat in der Stuttgarter Liederhalle das City of Birmingham Symphony Orchestra dirigiert

Stuttgart - Welch ein Donnerwetter! So plastisch entfaltet sich das großartige Gewitterspektakel in der „Pastorale“, dass man meint, ein Luftzug fahre durch den Beethovensaal. Das City of Birmingham Symphony Orchestra in hochgespannter Sitzhaltung spielt Beethovens Sechste Sinfonie mit jugendlicher Frische und Energie, beredt und mit rhythmischer Verve. Ein transparentes, atmendes Klangbild entsteht, vorbildlich die Balance zwischen Streichern und Bläsern. Kein Wunder, dass alles so frisch klingt. Am Pult steht die aus Litauen stammende, erst 31-jährige Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla, die seit August 2016 Musikdirektorin der Birminghamer ist. Von dieser Berufung erhofft sich so mancher einen Paradigmenwechsel, der Dirigentinnen endlich in die Spitzenämter des Musikbetriebs bringt. Denn sie sind nach wie vor selten in den Konzertsälen dieser Welt, wie auch in der Russ-Meisterkonzert-Reihe im leider nicht ganz vollen Beethovensaal.

Dabei zeigte das Orchester schon in Mozarts „Zauberflöten“-Ouvertüre, wie viel Spaß es ihm macht, mit der jungen Frau zu musizieren. Solche Programme hört man immer wieder gelangweilt heruntergespielt. An diesem Abend nicht: Federnd, energiereich, mitreißend klang dieser Mozart, spritzig, feurig, luzide – alles dem auffälligen Dirigierstil der schmalen, drahtigen Litauerin entsprechend: den einerseits höchst eleganten, ja ballettösen Armschwüngen nach oben und zur Seite, andererseits den keck attackierenden Fechtbewegungen, bei denen man sich zuweilen wundert, dass der Taktstock sich nicht selbstständig macht. Zwischendurch lässt es die Dirigentin aber auch laufen. Wippt dann entspannt mit, um im richtigen Augenblick wieder hochzuspringen und mit zackigen Bewegungen Energie einzufordern. Ein Stil der Programm ist: differenziert, sehr genau, aber auch sehr unkonventionell.

Umrahmt von Mozart und Beethoven fühlte sich Chopins Zweites Klavierkonzert pudelwohl. Schönklang, nachtschwärmende Melodien, mal luzides, mal kraftvolles Laufwerk durch die Oktaven, hoch und runter: Da ist der polnische Pianist Rafał Blechacz der richtige Mann. Der 32-Jährige ist derzeit ein sehr angesagter Chopin-Interpret, und das konnte er im Klavierkonzert auf sich selbst geworfen exzessiv ausleben. Aufs Kollektiv musste er gar nicht groß hören. Denn dieses Werk ist ja ein Solokonzert im wahren Sinne des Wortes. Orchester kippen darin vor Unterbeschäftigung beinahe vom Stuhl, dienen fast durchweg nur der Stimmungsmache oder packen den Klavierpart extraschön in Zuckerwatte ein.

Dass Rafał Blechacz sich während des Schlussapplauses vehement weigerte, vor der Dirigentin die Bühne zu verlassen, entspricht einerseits seinem Image als höflicher Junge von nebenan. Andererseits ist es typisch für die konservativen Verhaltensrituale im Klassikbusiness. Mirga Gražinytė-Tyla nahm’s cool, gab nicht nach und behielt die Entscheidungshoheit.

Rezension für die Stuttgarter Zeitung und die Stuttgarter Nachrichten vom 29.11.2017.

Dienstag, 28. November 2017

Im schönsten Land am Weltenrand

„Der Zauberer von Oz“ in der sehenswerten Inszenierung von Wolfgang Michalek am Stuttgarter Staatsschauspiel

Schrilles Quartett: Nina Siewert (Dorothy), Sebastian Röhrle (Löwe), Felix Mühlen (Blechmann), Sebastian Wendelin (Vogelscheuche). Foto: Conny Mirbach

Stuttgart - Was für eine wunderbare Vogelscheuche! In Blümchenjacke, mit irrem, zuckerwattig aufgebauschtem Haarwirrwarr, aufgedreht hüpfend trotz Rückgrats wie aus Gummi: Sebastian Wendelin spielt die Tatsache, dass er als befreiter Strohmann ohne Holzpfahl im Rücken sich nur mühsam aufrecht halten kann, stets mit. Ein genialer, sehr präzise agierender Slapsticker.

Vor Witz sprüht die ganze Weihnachtsproduktion des Staatstheater Stuttgarts, ein Familienstück für Zuschauer ab 6 Jahren: „Der Zauberer von Oz“ nach dem Kinderbuchweltbestseller von Lyman Frank Braun. Regie führte Wolfgang Michalek, selbst komikbegabter Schauspieler im Ensemble des Staatstheaters. Michalek hat auch - gemeinsam mit seiner Kollegin Lea Ruckpaul - die wortwitzige Bühnenfassung des Romans geschrieben.

Dorothy, das Mädchen, das durch einen krassen Wirbelsturm von einer Farm in Kansas ins Land über dem Regenbogen, in die Märchenwelt der Munchkins, gepustet wird und dort allerlei Mutproben und Abenteuer zu bestehen hat, bevor es wieder nach Hause darf, wird gespielt von der jungen Nina Siewert. Ihre Dorothy in weißem Kleidchen und Glitzer-Zauberschuhen ist ein ziemlich wütendes Kind: einerseits explosiv-euphorisch, wenn sie sich freut, andererseits von greller Cholerik getrieben, wenn sie sich über böse Hexen und falsche Zauberer aufregt.

Schrilles Quartett

Gemeinsam mit ihren neuen Freunden - der Vogelscheuche, die sich ein Hirn wünscht, dem Blechmann ohne Herz und dem ängstlichen Löwen - bildet sie ein schön lärmendes und schrilles Quartett, das in der Premiere im Stuttgarter Schauspielhaus nicht nur bei den Kindern ausgesprochen gut ankam.

Aber es geht auch ganz leise: Wenn etwa Blechmann Felix Mühlen eine Ballade über die Sehnsucht nach einem eigenen Herzen singt: „Ach, könnt ich nur den Regenbogen biegen, ein bisschen träumen und mich total verlieben.“ Zu Tränen rührend! Wobei da schon längst jeder im Saal weiß, dass der Arme nicht nur bereits ein Herz hat, sondern dazu auch noch ein besonders weiches. Charismatisch auch Sebastian Röhrle als Löwe: wie er die Gratwanderung zwischen totalem Minderwertigkeitskomplex und grenzenlos vorhandener Eitelkeit meistert - und wie schnell der König der Angsthasen seine Furcht überwinden kann.

Es ist eine Produktion, in der einfach alles stimmt. Die wunderbare Musik etwa und ihre poetischen und humorigen Texte, die Max Braun für den Abend geschrieben hat: vor allem fetzige Country-Songs, aber auch Rock-Nummern, einen italienischen Schlager, ein bisschen Samba. Er ist auch der Kopf des Band-Trios auf der Bühne, welches das Geschehen mit Folk-Fiddel, Westerngitarre, Waschbrett, Banjo und anderem einheizt.

Natascha von Steiger hat ein praktisches Bühnenbild aus zusammenschiebbaren Kulissen gebaut: eine kunterbunte Blumenwiese, ein Wald- und ein Bergpanorama. Und als spektakulären visuellen Höhepunkt gibt es eine riesige Windmaschine, die den Bühnenboden mit einem Wisch staubfrei macht.

Im Wunderland der Munchkins müssen Dorothy und ihre Freunde die böse Hexe des Westens besiegen, die eindrucksvoll von oben herabschwebt, mit schwarzer Endlosschleppe, Zeter und Mordio schreiend, am Seil hängend Flüche tanzend. Eine wirklich böse Hexe gibt Viktoria Miknevich, die dazu auch noch mit ausgesprochen eindrucksvoller Rockröhre singt. Aber der Hexe hilft’s nicht. Diese „Gurkentruppe“ (O-Ton böse Hexe) hat so überhaupt keine Angst vor diesem Drachen, dass ihre magische Kraft stante pede verlöscht, und sie fährt gen Himmel (nicht in die Hölle) und verschwindet auf ewig. Grund für die Macht Dorothys ist der „Schutzkuss“ der guten Hexe Lustella - schön verrückt und feenhaft gespielt von Lucie Emons in rosa Glitzer-Outfit (Kostüme: Sara Kittelmann). Aber damit ist das kuriose Quartett noch nicht am Ende. Der Zauberer von Oz soll alles richten, die Heimkehr Dorothys ermöglichen und die Wünsche der drei anderen erfüllen.

Am Ende ist es ganz egal, dass er weder Macht hat noch zaubern kann. Der vermeintliche Magier alias Boris Burgstaller ist zwar ein Blöffer, aber dass sein Mutwasser für den Löwen, sein Herzwecker für den Blechmann und das Glühlampenhirn für die Vogelscheuche nur Placebos und eigentlich gar nicht nötig sind, ist jedem im Publikum längst klar. Aber schön waren die Abenteuer. Und gemeinsam ist man halt stark.

Bleibt Dorothys Rückkehr nach Kansas, die dann auch ganz einfach ist: Ihre Zauberschuhe, die sie von Lustella bekommen hat, machen’s möglich. Da lässt sie ihre Freunde doch gerne zurück im kunterbunten, blumigen, „schönsten Land am Weltenrand“. Die Welt, in die sie zurückkehrt, ist dagegen öde, karg und freudlos. Aber Familie ist halt alles, und da ist ja auch noch ihr kleiner Hund Toto - in Stuttgart ein waschechter Dackel.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 28.11.2017.

Warmer, weicher Wunderton

Die Philharmonia Prag und der Trompeter Gábor Boldoczki in der Stuttgarter Liederhalle

Stuttgart – Ein Blick auf die neueste CD „Bohemian Rhapsody“ von Gábor Boldoczki, des charismatischen Startrompeters aus Ungarn, sagt alles. Ein Trompeter, der sich musikalisch dem 20. und 21. Jahrhundert verweigert, ist dazu verdammt, vor allem eines zu spielen: kuriose Bearbeitungen, das heißt Konzerte, die ursprünglich für andere Soloinstrumente geschrieben wurden.

Sieht man von neueren Zeiten ab, bietet vor allem die Barockmusik Trompetern Originalwerke. Allerdings wurden diese für die damals noch ventillose Naturtrompete mit geringem Tonumfang geschrieben, weswegen sie wenig taugen zur spektakulären Demonstration virtuosen Könnens: Sie bieten Melodien nur im hohen Register, Tonrepetitionen, Triller, Dreiklänge, Fanfaren. Ein Kinderspiel für heutige Trompetenvirtuosen wie Boldoczki und ihre technisch ausgeklügelte Ventiltrompete.

Im Konzert im gut besuchten Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle, wo Boldoczki und das Kammerorchester Philharmonia Prag besagte CD jetzt vorstellten, konnte man rare Werke böhmischer Komponisten aus frühklassischen bis romantischen Zeiten hören. Etwa ein eingängiges Konzert des Haydn-Zeitgenossen Johann Baptist Georg Neruda, das eigentlich fürs Horn geschrieben wurde. Der blitzblanke, warme und weiche Ton Boldoczkis ließ aufhorchen. Es ist dieser wie mit Puderzucker bestäubte Wunderton, der die Ohren einlullt und der wohl der Grund ist für die vielen Echo-Klassiks, die der schöne Gábor nach und nach einheimst.

In Johann Nepumuk Hummels „Introduktion, Thema und Variationen“ f-Moll op. 102, eigentlich für Oboe komponiert, wechselte Boldoczki zwischen drei unterschiedlich großen Trompeten. Mal brachte melancholische Melodien zum Singen, mal frönte er Trompeter-Zirzensik wie quecksilbrigen Läufen, heiklen Koloraturen und fröhlichen Springtänzen zwischen den Registern. Für das Flügelhorn arrangiert brillierte der Ungar in Johann Baptist Vanhals Konzert F-Dur für Kontrabass.

Die Musiker der Philharmonia Prag, die ohne Dirigenten auftreten und von Jan Fišer am Konzertmeisterpult geleitet werden, waren dem Solisten ein verlässlicher Partner. Zwischen den Trompetenschmankerl spielten sie Raritäten: Etwa die in ihren Kontrasten elektrisierende Sinfonie von František Benda, die Stilelemente des Barock und der Empfindsamkeit vereint, oder das schachtende, sich aus schöner Lethargie zu weitgespannter Melodik aufschwingende Nocturne op. 40 von Antonín Dvořák.

Aber den eindringlichsten Ohrwurm gab’s am Ende, als Boldoczki sein blitzendes, blinkendes Flügelhorn zur Zugabe erhob und mit einem Arrangement aus Dvořáks Liederzyklus „Als die alte Mutter sang“ einen wahrhaft sehnsuchtsvoll-ariosen Gesang hören ließ. Der blieb noch sehr lange im Ohr hängen.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 28.11.2017.

Samstag, 25. November 2017

Was isst Liebe?

Lulu – Armin Petras inszeniert in Stuttgart das "Rock-Vaudeville" der Tiger Lillies nach Frank Wedekind


Dramatis personae: Miles Perkin (Live-Musik), André Willmund (Shunning), Ferdinand Lehmann (Alva, Shunnings Sohn), Andreas Leupold (Dr. Goll), Sandra Gerling (Lulu), Paul Grill (Maler Schwartz), Berit Jentzsch (Geschwitz). Foto: Thomas Aurin

Stuttgart- Immerhin: Niemand muss ganz nackt auf die Bühne! Alle haben immer irgendetwas an. Wenn nicht volles Outfit, dann wenigstens schwarze Shorts, Stofffetzen, Binden um Brüste und Augen. Einmal spült Lulu ihr Kleid mit Wasser weg, es löst sich auf, und sie liegt nackt auf einem Tisch: auf den Zacken hunderter Speisegabeln. Aber sofort geht das Licht aus. Also: Kompliment! Armin Petras erspart seinem Publikum in der kleinen Spielstätte Nord des Staatstheaters Stuttgart doch tatsächlich (fast ganz) eine splitternackte Lulu. Danke!

Dafür liefert er aber schon ganz am Anfang einen anderen Klischee-Fettnapf: "Lulu – Ein Rock-Vaudeville" beginnt mit Ravels "Bolero" – dem musikalischen Opfer eines 1979er-Films und seiner zentralen Bettszene. Vorher hat sich Lulu schon zaghaft auf die Schöße von Publikums-Männern gesetzt. Dann verschwindet sie hinterm lichten Plastikvorhang und windet sich tänzelnd zum "Bolero". Das wäre ja nicht weiter schlimm. Wenn bloß nicht das Ironie-Signal fehlen würde.

Und so gestaltet sich der ganze Abend. Geprägt von einer gewissen Lustlosigkeit an der Klarheit, an der Präzision, überhaupt am Stoff. Und das in Zeiten, da "Lulu" punktgenau auf eine international geführte Debatte über Sexisten, Grapscher, Vergewaltiger trifft. Das macht ratlos.

Lulus Geister

Frank Wedekind legt in seinem Skandalstück eine durch Scheinmoral korrumpierte Gesellschaft frei. Lulu, in Armut geboren, freizügig, triebhaft, abhängig, ausgebeutet, Verführerin, Sklavin. Dann der Befreiungsschlag: Ihr Körper wird zum Instrument, der Männer zerstört. Sie mordet und wird dann selbst gemeuchelt. In Petras' Sicht der Dinge schrumpft sie zur Karikatur zusammen. Klar, er inszeniert nicht Wedekinds Originaltext, sondern den Song-Zyklus "Lulu – Ein Rock-Vaudeville" von The Tiger Lillies, einer englischen Band, die sich der Theatermusik verschrieben hat, mit anarchisch-britischem Humor auf eine Stilmixtur aus Kunstmusik, Punk, Kabarett, Zirkusklängen, Epischem Theater, französischem Chanson setzt.

In ihrer "Lulu"-Version haben die Tiger Lillies in 18 Songs entscheidende Themen des Stücks amalgamiert, das Resultat ist in vielem der Brecht-Weillschen "Dreigroschenoper" ähnlich. Die Tiger-Lillies-"Lulu" stellt aber zwischen den Songs eine Menge Leerplätze zur Verfügung. Petras füllt sie nun mit Klamauk, zur Schau gestellter Inhaltslosigkeit, Fremdtexten. Wedekinds Skandalstück geistert im Raum herum, ist aber nicht zu fassen.

Sandra Gerling als Lulu ist dabei gänzlich unterfordert. Robbt zum Song "Bird in a cage" mit lahmen Beinen über die leere Bühne – die durch zwei kleine Showbühnen mit Band-Equipment gerahmt wird –, klettert auf den Flügel und stülpt sich ein blutrotes Tüllkleid über. Lässt sich beim "Mirror"-Song umrundet von Spiegeln zu einer bleichen, blutigen Leiche schminken. Performt mit riesigem Federschmuck auf dem Kopf und durchaus witzigem Stimmeverstellen das Märchen vom König, der seine eigene Tochter heiraten will. Es gibt noch weitere Lulus, die über die Bühne irrlichtern. Sie tun nichts zur Sache.

Macho-Klischee-Parade

Die Männerfiguren – vom Maler Schwartz bis zu Jack the Ripper – sind nicht weniger Karikatur. Die Zeit zwischen den Songs – professionell gesungen vom Multiinstrumentalisten Miles Perkin oder dilettantisch von Ensemble-Mitgliedern – füllt sich mit Nonsens: Man tanzt minimalistisch mit Zylindern auf dem Kopf. Männer tollen auf allen Vieren herum und mimen gierig hechelnde Hunde. Ein Schlechte-Witze-Erzähler mit neonfarbenen Jonglier-Keulen und Gewehr ("Treffen sich zwei Schnecken im Wald …") und ein Macho-Rapper ("Alle Fotzen ohne Hirn lutschen meinen Schwanz") treten auf. Immerhin gibt Paul Grill als Maler Schwartz eine lustige Kunst-Performance, in der er die Farbe auf seinen Körper schmiert und sie dann durch Sprünge gegen die Leinwand dorthin befördert. Ist aber aus "Fack ju Göhte 3" geklaut. Und dann sprechen alle im Chor mehrmals "Liebe ist …", was unbeantwortet bleibt und an die kitschigen Cartoons mit dem pummeligen Pärchen erinnert. Oder ist "Liebe isst" gemeint? Würde besser passen zur Monstre-Tragödie.

Zieht man den Dilettantismus der Singenden ab, wird den Tiger-Lillies-Songs ein wenig das Anarchische ausgetrieben, auch wenn sie oft lustig mit Toy-Piano und Alltagsgegenständen begleitet werden. Die Darsteller*innen zeigen freilich, dass sie auch instrumental etwas drauf haben: André Willmund etwa spielt ganz fantastisch Trompete.

Aber so aufgedreht, so schrill, so laut das Ensemble auch performt, es kann die schockierende Lustlosigkeit des Regisseurs nicht überspielen. Es ist Petras' letzte Spielzeit in Stuttgart. Und er zeigt ganz deutlich, dass er auf diese Stadt keinen Bock mehr hat.

Rezension für nachtkritik.de. Premiere war am 24.11.2017.

Montag, 20. November 2017

Wasserscheu in der Badeanstalt

Das Theater Lokstoff spielt in der Schwimmhalle Stuttgart-Heslach sein Stück „Retrotopia“ über die Befindlichkeit der Deutschen

lokstoff

Stuttgart - Ach du Schreck, Warmbadetag! Will man da wirklich den Bademantel über Jeans und Pullover ziehen? Dann doch lieber (fast) alles ausziehen und nur das braune Frotteegewand überwerfen. Denn das ist Pflicht bei diesem Theaterbesuch, genauso wie die weißen Schlappen. Beides wird am Eingang ausgeteilt, samt Jeton für den Kleiderspind und gesponsertem Täschchen fürs Handy und das Portemonnaie. Das Theaterkollektiv Lok­stoff, das keine feste Spielstätte braucht, weil es öffentliche Räume nutzt, um Kunst und Realität ganz direkt aufeinandertreffen zu lassen, hat sich für sein aktuelles Stück „Retrotopia. Deutschland im Reagenzbecken“ das Hallenbad Stuttgart-Heslach ausgesucht - bei laufendem Badebetrieb. Da darf man in Alltagskleidung eben nicht rein.

Und dann haben endlich alle ihren Platz gefunden links und rechts des Sprungbeckens: einheitlich in Bademäntel gehüllt und mit blau blinkenden Kopfhörern ausgestattet. Denn in der imposanten, 1929 im Stil der neuen Sachlichkeit erbauten Badehalle ist die Akustik, wie in allen Schwimmbädern, nicht ausgerichtet auf verstehbare Worte.

Angst vorm Sprung

Dank der Mikroports in den Gesichtern des fünfköpfigen Darstellerteams ist trotzdem alles gut zu hören, auch das Gespräch, das „Bademeister“ Wilhelm Schneck, in klassischem Weiß, aber ausgestattet wie Security-Personal, mit dem jungen Mann hoch oben auf dem Fünf-Meter-Brett führt, der gerade die Angst vorm Sprung zu überwinden sucht. Natanael Lienhard springt aber nicht, stattdessen nimmt er eine Ukulele zur Hand und singt mit professionell ausgebildeter Stimme „Atemlos durch die Nacht“, derweil die anderen vier unten am Beckenrand als Chor einstimmen und ein lustiges Ballett dazu tanzen. Die Wasserscheu ist Programm an diesem Abend. Ganz anders die drei Jungs, die zu Beginn Synchronsprünge vorführen, oder die sechs Wasserballett tanzenden Damen, die ein spaßiges Intermezzo bescheren.

Ansonsten geht es um Deutschland und die Angst, die umgeht. Aus der Perspektive des Wassers, aus dem wir alle kommen. Vor allem Fragmente aus John von Düffels „Wassererzählungen“ werden in dieser Stückentwicklung in der Regie von Heidi Mottl verarbeitet, außerdem Texte der Dramaturgen Werner Kolk und Dieter Nelle. Die Metapher Schwimmbad macht klar: Ohne die schützenden Statussymbole unseres Alltags, zu denen auch die Kleidung gehört, sind wir alle gleich. Zuschauer wie Darsteller. Nirgendwo begegnet sich der Mensch so entblößt wie hier. Zurückgeworfen auf sich selbst legen sich Ängste frei.

Kathrin Hildebrand in der Rolle der scheuen, alleinerziehenden Mutter will auch nicht ins Wasser springen, kann sich nicht fallen lassen, weil der Vater sie einst zum Kopfsprung zwang. Erst ein merkwürdiger Job befreit sie von ihren Ängsten: Unter den Augen eines japanischen Stararchitekten schwimmt sie jeden Morgen nackt und stumm wie ein Fisch „auf ästhetische Weise“ Bahn um Bahn in einem Pool. Es ginge dabei, sagt sie, um Läuterung.

Alexa Steinbrenner als daueraufgedrehte Unternehmensberaterin, die durch die Welt hetzt, kriegt am Ende dann doch nur eine 45-Prozent-Bewertung und muss die Firma verlassen. Dem ständig selbstoptimierend an sich arbeitenden Sportler alias Simon Kubat droht die eigene Existenzblase zu zerplatzen. Alle angstbesessen, unter Dauerdruck, in der Sinnkrise. Vieles arbeitet der Abend ab: die Verschwendung von Ressourcen, die Flüchtlingskrise, die Klimakatastrophe. Schön surreale Bilder gibt es auch: etwa zwei Menschen mit Fischköpfen, die Ängste am Fließband artikulieren.

Die Mono- und Dialogszenen verbindet Bademeister Schneck. Er lenkt den Abend, gibt ihm philosophisches Futter, doziert über die „Domestizierung des Wassers“ im Pool. Er spielt auch ein bisschen den Misanthropen, der zunächst mit einer rüden Publikumsbeschimpfung aufwartet: sich über eklige, gelbe Fußnägel auslässt und schlaffe welke Haut und was ihm sonst noch so alles im Schwimmbad begegnet. Am Ende spielt er gar den Standesbeamten und verheiratet die Unternehmensberaterin mit sich selbst, auf dass sie sich endlich liebe. Schön absurd das Schlussbild: Die Braut auf dem Startblock in weiß-neonrotem Kleid, das Licht verdunkelt sich, und auf dem Wasser schwappen illuminierte Kunststoff-Kanister (Ausstattung: Maria Martinez Pena).

Keine Frage: Der Spielort ist attraktiv, die Texte sind anspruchsvoll und anregend, das Ensemble legt sich ins Zeug. Aber den 90-minütigen Spannungsbogen könnte man noch straffer ziehen. Und vielleicht doch ein bisschen die Wasserscheu überwinden.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 20.11.2017.

Donnerstag, 16. November 2017

Mut zur Hässlichkeit

London Philharmonic Orchestra mit Alain Altinoglu und der Geigerin Patricia Kopatchinskaja im Stuttgarter Beethovensaal

Stuttgart - Sie spielt im Klassikzirkus gerne das Bad Girl. Und sie ist immer für eine Überraschung gut: Die Geigerin Patricia Kopatchinskaja verhält sich als Solistin stets sympathisch verhaltensoriginell. Im Meisterkonzert im Stuttgarter Beethovensaal marschierte sie jetzt in einem schlohweißen, ausladenden brautkleidähnlichen Outfit auf die Bühne. Und das einleitende auftrumpfende Orchesterthema in Robert Schumanns Violinkonzert sang sie mit, während ihr ganzer Körper im Rhythmus zuckte. Ihr Einsatz dann: gewohnt zupackend, mit gewollt eingeschmutzter Intonation, die Zieltöne schrill nehmend. Kein Versuch, die virtuosen Figurationen im ersten Satz schön zu spielen. Wild soll es klingen, hitzig und zornig, auf Kosten struktureller Klarheit.

Schumanns Violinkonzert - lange Zeit umstrittene Rarität, weil es ein paar Monate vor dem Suizidversuch des Komponisten entstanden ist und deshalb Generationen von Musikern Züge geistiger Zerrüttung darin vermuteten - gehört heute glücklicherweise zum Repertoire aller großen Geigenvirtuosinnen und -virtuosen. Ein Werk, das die krassen Gegensätze von Euphorie und Weltschmerz auslotet, das ein ungeheuer poetisches Potenzial besitzt und deshalb emotional vielschichtig ist. Kopatchinskaja, ohne Zweifel eine großartige Geigerin, sucht jedoch anderes. Das London Philharmonic Orchestra in der Leitung des französischen Dirigenten Alain Altinoglu macht ihr Spiel, so gut es geht, mit.

Die Geigerin - in der Pose einer bleichen, etwas unheimlichen Braut - haut rein, was das Zeug hält, artikuliert die Euphorie als Rage, im Fortissimo reißt sie die Saiten hart an. Der Weltschmerz im Pianissimo gerinnt bei ihr zu farblosen, fahlen Tönen, oft an der Grenze des noch Hörbaren. So wird der Geigenpart im langsamen Mittelsatz phasenweise zur Nicht-Musik. Das ist ein interessanter Mut zur Hässlichkeit einerseits, aber andererseits geht er irgendwann auch gehörig auf die Nerven.

Die Erklärung für ihre Interpretation liefert die Geigerin nach. Die Entstehungsgeschichte des Violinkonzerts habe „etwas Geisterhaftes“. Sie spielt darauf an, dass Schumann in jener Zeit glaubte, Schuberts Geisterstimme zu vernehmen, die ihm dann das Thema zu seinen später in der Nervenklinik entstandenen „Geister-Variationen“ für Klavier eingeflüstert habe. Ein Thema, das jenem des langsamen Satzes des Violinkonzerts verblüffend ähnlich ist. Und dann passiert das, was zu den kostbaren Augenblicken im Konzertalltag gehört. Kopatchinskaja spielt als Zugabe etwas anderes „Geisterhaftes“, ein Capriccio von Salvatore Sciarrino, dem Avantgardisten mit Vorliebe für Flüstertöne: zarte Geflechte aus Vogelzwitschern, aus feinsten Schraffuren und Glissandi, die in zackigen Fieberkurven huschen und tanzen. Und um „andere Geister“ im Saal hörbar aufzuwecken, lässt die Geigerin als Widerhall eigener Töne den Pauker diese immer wieder grummelnd untermalen. Das ist wunderschön, und die Art und Weise, wie Kopatchinskaja hier Neue Musik ins Mainstreamprogramm schmuggelt, ist wirklich faszinierend.

Der Rest des Konzerts fiel allerdings der Belanglosigkeit anheim. Die zu Beginn gespielte Orchestersuite „Le Tombeau de Couperin“ von Maurice Ravel blieb klanglich eindimensional, wirkte gelegentlich gar hölzern. Keine Transparenz im Orchesterklang, kein Gefühl für die Magie der Klangfarbe, für die Ravel berühmt geworden ist. Und am Ende des Abends erklang eine Feld-Wald-und-Wiesen-Interpretation der Beethoven’schen dritten Sinfonie, der Eroica. Ihr fehlte hier jede Übergangsgestaltung und dynamische Differenzierung. Es herrschte Langeweile.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 16.11.2017.

Montag, 13. November 2017

Akkordeon goes Barock

Stuttgarter Philharmoniker mit der Akkordeonistin Ksenija Sidorova

Stuttgart - Wäre das Akkordeon schon im Barock erfunden gewesen, dann hätte Johann Sebastian Bach sicherlich dafür komponiert. Denn er liebte alles, was Tasten hatte. Er hätte die Vorteile des Akkordeons gegenüber Cembalo und Orgel geschätzt, die in der dynamischen Formbarkeit des einzelnen Tones liegen. Unter heutigen klassisch ausgebildeten Akkordeon-Virtuosen ist Bach sehr beliebt. Und so spielte auch die lettische Akkordeonistin Ksenija Sidorova im Abokonzert der Stuttgarter Philharmoniker im Beethovensaal die Transkription eines seiner Werke: das Klavierkonzert d-Moll BWV 1052, das selbst einmal ein Violinkonzert gewesen ist. All das rasende Laufwerk und die Arpeggien der schnellen Außensätze setzte Sidorova auf ihrem Instrument wunderbar leicht um, einfühlsam gestalteten die Philharmoniker überraschende Klangeffekte wie ein plötzliches Pianissimo, in dem das Akkordeon mit der Oboe duettierte oder mit den Bratschen. Ganz neue Bach-Farben hörte man da. Weniger überzeugend klang das Adagio. Sidorova hatte ein sehr helles, kaltes Register gewählt. Da klang das Akkordeon kurz wie eine zu klein geratene Orgel.

Die Zuschauerreihen im Beethovensaal waren voll gefüllt. Die Idee der Philharmoniker, einmal das sehr beliebte, aber in klassischen Konzerten noch immer stiefmütterlich behandelte Instrument in den Mittelpunkt zu stellen, hatte gezogen. Die explosionsartige Farbentfaltung ihres Instruments in drei Tangos von Astor Piazzolla, arrangiert für Akkordeon und Sinfonieorchester, machte dann hörbar, dass sich Sidorova in diesem Stil doch wohler fühlt. Ihr Zugriff wurde freier, voller, deftiger. Die akkordeontypischen weitgespannten Phrasen konnten sich in „Libertango“ und „Oblivion“ besser entfalten: grandios wuselnde Läufe, herzergreifender Gesang, befeuert von den Philharmonikern, die den Tangorhythmus freilich nicht ganz so zackig spielten wie die lettische Akkordeonistin.

In Sachen emotionaler Aufruhr stand das Orchester der Solistin aber in nichts nach. Dafür sorgte Jan Willem de Vriend am Dirigierpult, der in „Adios Nonino“ mit ausladender Gestik gar bombastische Klangwolken einforderte. In ihren beiden Solo-Zugaben – Vladimir Zubitskys „Omaggio ad Astor Piazzolla“ und Sergej Voitenkos „Revelation“ – zeigte Sidorova, dass das Akkordeon ein Orchester gar nicht braucht. Denn solo kommen seine ganz besonderen Klangfarben noch besser zur Geltung. Großer Jubel für ein tolles Programm, das dann noch durch Jugendwerke Schuberts und Mendelssohns ergänzt wurde.

In Franz Schuberts Italienischer Ouvertüre setzte der niederländische Dirigent ganz auf jugendlichen Sturm und Drang. Noch mehr Feuer entfachte er in der Ersten Sinfonie Felix Mendelssohn Bartholdys. Die schnellen Sätze standen unter Hochdruck, brachten gar Beethoven’sche Dramatik und Energie ins Spiel. Immer höher hüpfte de Vriend, immer wilder wehten die Haare, bis sich in der Schlussstretta noch einmal sämtliche angestaute Energie entlud. Bravo!

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 13.11.2017.

Donnerstag, 9. November 2017

Der Schock der Stille

Martha Argerich und Sergei Babayan im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle

Stuttgart - Keine Allüren, keine Show. In Konzerten von Martha Argerich herrscht auf der Bühne eine aufs Wesentliche konzentrierte Arbeitsatmosphäre. Allerdings eine entspannte. Die große Pianistin, mittlerweile 76 Jahre alt, tritt schon seit langem nicht mehr alleine auf, sondern bevorzugt das gemeinsame Konzertieren mit befreundeten Musikern und Musikerinnen. In der Meisterpianisten-Reihe im Beethovensaal erschien sie jetzt zusammen mit dem armenischen, in New York lebenden Pianisten Sergei Babayan. Die beiden betreten die Bühne Hand in Hand, halten ein Schwätzchen, so als flanierten sie in einem kunstvoll angelegten Garten.

Aber das ist nur die Ruhe vor dem Sturm. An den beiden Flügeln, die sich Seite an Seite aneinander schmiegen, wird Sergei Prokofiews „Romeo und Julia“ jegliche Rest-Romantik ausgetrieben. Babayans Bearbeitung der Ballett-Suiten-Musik für zwei Klaviere unterstreicht die blutige Gewalt, die in der Shakespeare-Vorlage herrscht. Die Härte der Dissonanzen, die prägend ist für die Prokofiew’sche Harmonik, aber im sinfonischen Original durch die instrumentale Auffächerung gedämpft wird, ist – nunmehr zusammengeschmolzen im Klavierakkord – unbarmherzig freigelegt. Bruitistisch, tumultuös, perkussiv geht es zur Sache. Die Stille zwischen den Nummern: geradezu ein Schock. Ruhige Stücke wie das zierliche, verträumt-versunkene „Morgenständchen“ oder die unerhört delikat und witzig gespielte Gavotte wirken noch zarter und leichter, bevor wieder mächtige Akkordik und rasendes Laufwerk in die Ohren dröhnt – fast immer bemerkenswert synchron gespielt. Wobei der am vorderen Flügel sitzende Babayan die mächtigeren Pranken zeigt als die filigraner artikulierende La Martha. Das Tempo, das die beiden zuweilen an den Tag legen, bringt freilich die Notenwenderinnen ins Schwitzen. Und auch Ballett-Tanzenden würden sich wohl die Glieder verknoten bei solchem Drive.

Bevor am Ende noch einmal Prokofiew’sche Dauerpower das Publikum vor Begeisterung aus den Sitzen reißt, und zwar in Gestalt von Klavierstücken, die Babayan aus Schauspiel-, Opern- und Filmmusik für zwei Klaviere arrangiert hat, spielen die beiden Mozarts Duo-Sonate D-Dur KV 448. Und das mit einer innigen Hingabe, die berührt. Wie zwei Freunde, versunken im intimen Gespräch. Die Zeit scheint still zu stehen. Perlendes Laufwerk, Triller, Melodien fügen sich weich ineinander, kaum ist unterscheidbar, wer da was spielt.

Solch Wunder musikalischer Zweisamkeit und virtuoser Synchronität offenbaren sich auch in der Zugabe: der „Barcarolle“ aus Sergei Rachminows Suite Nr. 1 op. 15. Die arabesk umspielte wiegende Melodik, die plätschernde Schwelgeharmonik, das quecksilbrige Laufwerk: alles leicht und fluffig wie Zuckerwatte, fließend und feinsprudelnd wie Champagner.

Rezension für die Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten vom 8.11.2017.

Mittwoch, 8. November 2017

Auf ein Neues!

Liebe Leser*Innen meiner Seite,

meine Kritiken waren für ein paar Monate nur auf den Webseiten der entsprechenden Zeitungen und auf nachtkritik.de zu lesen. Jetzt werde ich damit aber wieder regelmäßig meinen Blog füttern!

Viel Spaß beim Lesen!
Eure Eduarda

Dienstag, 3. Januar 2017

Kreatives Kraftwerk

Neujahrskonzert mit dem Staatsorchester Stuttgart und dem Posaunisten Mike Svoboda in der Stuttgarter Staatoper

Stuttgart - Wenn die Posaunentöne hüpfen und tanzen, in irrem Tempo, vom himmlischen Register bis in die Grabestiefe und wieder hoch, wenn es plappert und singt, flüstert und aufmüpfig aufschreit, kurz: wenn die Posaune so nuanciert spricht wie ein Mensch. Dann spielt sie Mike Svoboda, großartiger Musiker und Koryphäe der Neue-Musik-Szene. Wer sollte so ein verdammt virtuoses Werk wie Kurt Schwertsiks Posaunenkonzert auch spielen, wenn nicht Svoboda? Und so stand er auf der Bühne des ausverkauften Stuttgarter Opernhauses, wo besagtes Posaunenwerk im Neujahrskonzert des Staatsorchesters seine deutsche Erstaufführung erlebte.

Es stammt zwar schon von 2001, aber Schwertsik, einer der bedeutendsten Komponisten Österreichs, wird dem deutschen Publikum nur in homöopathischen Dosen verabreicht. Im Falle des Posaunenkonzerts ist das besonders schade. Denn es bringt sämtliche Vorzüge der guten alten Konzertform prächtig zur Geltung. Svoboda und das gut gelaunte Staatsorchester in der Leitung von Dennis Russell Davies spielten das wunderbar heraus: den kommunikativen Charakter des Werks, die theatrale Polarisierung zwischen Individuum (Solist) und Kollektiv (Orchester). Schwertsik paart avantgardistische Klänge mit Tonalität zugunsten einer leicht zugänglichen Tonsprache und garniert das mit philosophischem Humor und Ironie. Der Posaunist wird zum melancholischen, mal aufgeregten, mal grantelnden Hinterfrager – ein Paradestück für Svoboda. Schön etwa, wenn die Posaune ängstlich ins Leere hineinfragt und die Harfe mit besänftigenden Kaskaden antwortet. Oder wenn die Posaune das Gespräch sucht mit der Trompete oder dem Hörnerquartett und sich streitet, sich verteidigt, für und wider argumentiert, und das dann so überzeugend tut, dass sie am Ende das letzte Wort behält. Raffiniert!

Aber Svoboda ist nicht nur ein exzellenter Posaunist, er ist auch Komponist, Jazzmusiker und Improvisator und vor allem auch ein Komödiant. Und so gibt er als Zugabe sein „V as in cool“, ein Stück für Abflussrohr und Publikum. Die Erklärungen erfolgen auf „japanisch“, das Auditorium hat „aaahh“ und „hihihi“ und „cooooool“ an rhythmisch richtiger Stelle zu rufen. Während Svoboda nun mit der rechten Hand die Einsatzzeichen gibt, hält er in der linken das Abflussrohr und bläst wohlstrukturiert Töne und Rhythmen hinein. Das alles bedient natürlich die zirzensische Seite des Virtuosentums, aber andererseits positioniert sich der 56-Jährige auch als kreatives Kraftwerk. Das Publikum ist sehr entzückt.

Vor solch spektakulären Ereignissen verblasste der Rest des Konzertes ein wenig. In Richard Strauss’ als Auftakt gespielte „Rosenkavalier“-Suite knarzte es noch ein wenig im Gebälk des orchestralen Zusammenspiels, die euphorischen und humoristischen Momente kamen aber packend zu ihrem Recht. Später gab es noch das letzte Orchesterwerk von Hans Werner Henze, die „Ouverture zu einem Theater“ von 2012, ein dramatischer 6-Minüter. Und als Finale erklang Haydns Sinfonie Nr. 86, mit wachen Ohren gespielt, quicklebendig, witzig. Schließich stand mit Dennis Russel Davies ja auch ein Haydn-Experte am Dirigierpult, den Stuttgarter wohlvertraut, weil einstiger Generalmusikdirektor der Staatsoper sowie langjähriger Chef des Stuttgarter Kammerorchesters. Und so gab es nach dem zwischen Eleganz und Draufgängertum pendelnden Haydn-Finale begeisterten Applaus.

Rezension für die Stuttgarter Zeitung/Stuttgarter Nachrichten vom 3.1.2017.

Samstag, 3. Dezember 2016

„Eine schlechte Kritik bedeutet ein leeres Haus“


Armin Petras über seine aktuelle Inszenierung von Jacques Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“ an der Stuttgarter Oper und seinen Rückzug als Schauspielchef


petras

Stuttgart - Armin Petras bringt Jacques Offenbachs Operette „Orpheus in der Unterwelt“ auf die Bühne der Stuttgarter Staatsoper. Premiere ist am morgigen Sonntag. Vor zwei Wochen erklärte Petras, seine im November 2015 vereinbarte Vertragsverlängerung bis 2021 als Stuttgarter Schauspielintendant nun doch nicht zu erfüllen und das Haus frühzeitig zu verlassen. Verena Großkreutz sprach mit ihm über seine Entscheidung und seine jüngste Inszenierung.

Herr Petras, Sie verlängern Ihren Fünf-Jahres-Vertrag als Intendant nun doch nicht um drei Jahre, sondern hören im Sommer 2018 auf. Sie nennen persönliche und familiäre Gründe für den verfrühten Rückzug. Aber klar, dass sich jetzt jeder fragt: Wenn Sie sich hier künstlerisch zuhause fühlten, würden Sie doch trotzdem bleiben, oder?

Petras: Die Familie ist leider nicht da, wo ich bin. Sie ist 900 Kilometer von hier weg in Brandenburg. Und das ist mein Problem. Ich fühle mich hier durchaus künstlerisch wohl. Wir hatten im letzten halben Jahr ganz großartige Produktionen. Es war bisher die spannendste Zeit. Vieles wurde vom Publikum gut angenommen, anderes lief schlechter - wie etwa Sebastian Hartmanns „Im Stein“. Dafür wird seine neue Inszenierung „Der Raub der Sabinerinnen“ geradezu euphorisch gefeiert.

Wie kommen Sie mit der schwäbischen Mentalität klar?

Petras: Ich habe zu Beginn meiner Intendanz mal gesagt: Stuttgart ist für mich der fremdeste Ort in Deutschland. Das hat sich mittlerweile geändert. Ich habe in den drei Jahren sehr viele Menschen kennengelernt und künstlerisch spannende Kooperationen in die Stadt hinein erlebt, wie mit dem Kunstmuseum Stuttgart, dem Württembergischen Kunstverein, dem Literaturhaus Stuttgart, der Akademie Schloss Solitude und den Hochschulen. Da gibt es nach wie vor seltsame Dinge, mit denen ich nicht klar komme. Etwa eine bestimmte Art, auf die Dinge zu schauen, sie zu bewerten, Dinge, die sehr viel mit Zahlen, mit Geld, mit Nummern zu tun haben. Anderes habe ich schätzen gelernt: etwa bei unseren Technikern, bei den Gewerken. Sie haben eine derartige Genauigkeit. Kein Wunder, dass Porsche und Mercedes hier entstanden sind. Die Arbeit hat hier einen hohen, auch moralischen Wert. Schätzen gelernt habe ich auch diese große Ernsthaftigkeit des Publikums, sich mit den Dingen zu befassen.

Zuletzt waren Sie wegen sinkender Zuschauerzahlen kritisiert worden, wofür viele Ihre Spielplangestaltung und den Inszenierungsstil einiger Regisseure verantwortlich machen. Es gibt auch Stimmen, die sagen, dem Publikum fehle das politisierte Theater Ihrer Vorgänger.

Petras: Ich habe von Anfang an gesagt, dass ich Hasko Webers Arbeit und die von Herrn Lösch sehr schätze. Aber natürlich werde ich hier nicht ein Stück machen, dass sich eins zu eins mit Stuttgart 21 beschäftigt. Ich glaube, dass Theater a priori immer politisch ist. Nur die Art und Weise, wie Zeichen benutzt werden, ist sehr unterschiedlich. Ich bin keine Volkshochschule, ich bin keine politische Partei, ich gebe keine Antworten und mache keine Propaganda. Wir sind Künstler, die sich mit der Welt beschäftigen und eine Haltung zu ihr haben. Wir sind in dem Augenblick politisch, in dem wir auf der Bühne die drängenden Fragen der Gegenwart stellen. Ich bin angetreten mit dem Ziel, viele unterschiedliche Fragen zu stellen und viele verschiedene Handschriften, viele neue Ästhetiken zu zeigen. Und das muss sich ja auch erst mal durchsetzen bei den Zuschauern.

Sie haben kürzlich geäußert, dass schlechte Kritiken in einer bestimmten hiesigen Zeitung sich massiv auf das Publikumsverhalten auswirken ...

Petras: Absolut. Wie jetzt wieder bei „Lolita“. Da gab es einen sehr harten Verriss, und da bleibt das Publikum weg. Ich kenne das aus meiner Zeit in Kassel. Eine schlechte Kritik in der Lokalzeitung bedeutete ein leeres Haus. So was gibt’s in Berlin oder Frankfurt/Main natürlich nicht. Das hat immer etwas mit der Monopolstellung einer Zeitung zu tun.

Sie inszenieren aktuell Jacques Offenbachs Operette „Orpheus in der Unterwelt“, die am morgigen Sonntag Premiere hat. Das Genre Operette verpflichtet einen ja regelrecht, sich zu Aktuellem zu verhalten. Was ist Ihre Inszenierungsidee?

Petras: Wir fragen uns in unserer Konzeption, was damals los war zu Offenbachs Zeiten. „Orpheus in der Unterwelt“, 1858 in Paris uraufgeführt, spielt zur Zeit Napoleon III. Und da liegt noch ein politisches Ereignis sehr nah dran: die Pariser Kommune. Was die Kostüme und die Bühne angeht, bleiben wir in Offenbachs Zeit. Aber wir haben dem Ganzen ein Vorspiel in Form eines Filmes vorangestellt, in dem die Figur Eurydike zurückversetzt wird in eine plebejische Figur. Sie wird dann aus diesen proletarischen Verhältnissen vom Professor alias Orpheus gerettet und macht dementsprechend den Schritt in eine bürgerliche Welt. Unter dieser Welt leidet sie aber: Ihr ist langweilig, und sie verliebt sich in einen Schäfer, der sich dann als Gott der Unterwelt, Pluto, entpuppt. Dann gibt’s einen Abstecher in die Oberwelt, wo wir im Himmel die oberen 5000 sehen. Da steckt wohl auch ein bisschen Sozialkritik drin, und vielleicht sind das auch reiche Bürger aus der Umgebung, die sich da oben sehr langweilen. Sie haben dann die Superidee, einen Trip in die Unterwelt zu machen, quasi einen Betriebsausflug, weil ihnen so langweilig ist. Dort landen sie in einem Club, der ein wenig an die Fabrik erinnert, aus der Eurydike eigentlich kommt. Interessant fanden wir, daraus einen Kreislauf zu machen, in dessen Zentrum Eurydike steht, also, eine junge Frau, die lebenssüchtig ist und die versucht, das Beste für ihr Leben zu bekommen, und dann an verschiedenen Welten scheitert.

Warum ist denn für Sie die Pariser Kommune naheliegender als aktuelle Themen?

Petras: Mich interessiert gerade bei der Oper, die ja im doppelten Sinne - also was den Text und die Musik betrifft - historisch ist, genau das freizulegen. Ich glaube nicht, dass es sehr sinnvoll wäre, den Jupiter, mit dem Offenbach ja Napoleon III. karikierte, mit Frau Merkel oder Herrn Kretschmann gleichzusetzen.

Was ist für Sie der Unterschied zwischen einer Schauspiel- und einer Operninszenierung?

Petras: In der Oper hat man weniger Endprobenzeit und muss am besten schon gestern fertig sein. Dafür kommen die Sänger und Sängerinnen perfekt vorbereitet zur ersten Probe. Das gibt’s im Schauspiel nicht, dass die Darsteller schon zu Beginn den kompletten Text können. Opernsänger sind ungeheuer professionell. Gleichzeitig kann man aber mit ihnen nicht so lange probieren, weil Singen natürlich anstrengender ist als Sprechen. Fantastisch an der Staatsoper ist auch die Zusammenarbeit mit Sylvain Cambreling, der allen meinen Fragen sehr offen gegenübersteht.

Was wollen Sie denn dann in Zukunft machen, dort in Brandenburg?

Petras: (lacht laut) Ich glaube, dass ich weiter inszenieren und weiter schreiben werde - und vielleicht auch wieder Intendant sein werde. Das schauen wir mal.

Sie wären dann auch wieder näher an Berlin?


Petras: Auf jeden Fall. Sie haben ja sicher auch in der Presse gelesen, dass ich schon als Volksbühnen-Intendant nominiert worden bin. Was ich sehr lustig finde! Ein Jahr bevor ich hier aufhöre, soll ich schon Volksbühnen-Intendant sein. Aber das ist völliger Quatsch. Es gab keine Gespräche mit politisch Verantwortlichen in Berlin.

Die Premiere von Jacques Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“ beginnt am morgigen Sonntag in der Stuttgarter Staatsoper um 18 Uhr.


Interview für die Eßlinger Zeitung vom 3.12.2016.

Dienstag, 11. Oktober 2016

Von der Macht der Musik

Marek Janowski dirigiert das Staatsorchester Stuttgart in Anton Bruckners Fünfter Sinfonie in der Liederhalle

Stuttgart – Marek Janowski betritt die Bühne des Beethovensaals mit deutlicher Haltung: Jetzt sind Arbeit und Konzentration auf die Sache angesagt. 77 Jahre alt ist er, aber nach wie ein gefragter Dirigent: So wird er wie schon in diesem Jahr auch 2017 den „Ring“-Zyklus in Bayreuth leiten. Jetzt dirigierte Janowski das Staatsorchester Stuttgart, das seine Sinfoniekonzert-Saison in der Liederhalle mit Anton Bruckners Fünfter Sinfonie eröffnete. Ein abendfüllendes Werk, von dem der Komponist selbst sagte, es sei ein „kontrapunktisches Meisterstück“, was er aufs fugierte Finale bezog, dessen Dimensionen wahrhaft riesenhaft sind. Um die gigantische Spannungskurve des gut 80-minütigen Werks – vom großen Klangportal des Anfangs bis zu den dichten, rasenden, orgiastischen Steigerungswellen des Finales – aufzubauen, ist ein Dirigent mit sehr viel Erfahrung gefragt. Janowski kann zudem auf seine hoch dekorierte Gesamteinspielung der neun Bruckner-Sinfonien verweisen, die er vor ein paar Jahren mit dem Orchestre de la Suisse Romande eingespielt hat, dessen Chefdirigent er 2005 bis 2012 war. Er hat die Partitur der Fünften im Kopf, seine Gestik ist sparsam, sachlich, aber seine Ohren gespannt wie die eines Luchses. Er weiß sehr genau, was er will. Und das ist zunächst einmal absolute Transparenz.

Klanglich und damit räumlich so vorbildlich hochaufgelöst hört man Bruckner selten. Janowski verfolgt nicht die Überwältigungsstrategie vieler Kollegen, die auf hohen Lautstärkenpegel und Klangmassierung setzen. Kein einziges Mal an diesem Sonntagmorgen artikuliert sich das gut 80-köpfige Orchester zu laut. Nichts wird verdeckt durch anderes: Themen und Motive, die durch alle Orchestergruppen wandern, bleiben scharf konturiert, die harmonischen und rhythmischen Metamorphosen, die das Material durchlebt, werden so deutlich hörbar. Die Bruckner’schen Steigerungswellen werden minuziös aufgebaut, bis die sauber und klar artikulierenden Blechbläser dem Ganzen die Schaumkrone aufsetzen. Nur einer wie Janowski, der so fein mit Lautstärken changieren kann, ist in der Lage, in einer Bruckner-Sinfonie solch intime Augenblicke wie im Adagio-Satz zu evozieren und die Bruckner’sche Stille als rhetorisch zwingend erspielen zu lassen. Hier stimmt alles. Janowski mit seinem perfekten Gespür für die Proportionen dieses mächtigen Werkes setzt das Orchester nicht unter Druck, sondern lässt es bei aller harten Arbeit auch atmen. Und das Staatsorchester musiziert mit Hingabe und Konzentration: die Streicher mal als Arbeitsbienen des pulsierenden Klangkörpers, mal schwelgend in satt-farbigen Kantilenen, die fein zeichnenden Blechbläserchoristen, die intensiv und ausdrucksstark intonierenden Holzbläsersolisten.

Solche vorbildliche Interpretation ist Voraussetzung für den zwingenden Hörsog eines so langen Werkes: Das gebannte Publikum tauchte ein, erwachte am Ende aus einem großen Traum und hatte alles durchlebt: Die polarisierenden Extreme des Kopfsatzes mit seinem Aufbäumen und Zusammenstürzen, die zärtlich-intimen und euphorischen Momente des Adagios, das böse-bissige Scherzo und das verzweifelte, von rauschender Übertreibung gezeichnete Finale. Besser kann eine Saison nicht beginnen.

Rezension für die Stuttgarter Zeitung/Stuttgarter Nachrichten vom 11.10 2016.

Sonntag, 9. Oktober 2016

Vollkommene Schönheit

Der US-amerikanische Pianist Kit Armstrong und das Kammerorchester Basel im Ludwigsburger Forum

Ludwigsburg – Ein zarter junger Mann ist Kit Armstrong. Bescheiden, ohne Allüren, mit einem feinen Lächeln im Gesicht setzt sich der 24-jährige Wunderpianist und Mathematiker an den Flügel im voll besetzten Ludwigsburger Forum am Schlosspark. Und ganz in diesem sichtbaren Einklang mit sich und der Welt spielt er dann auch Mozarts frühes Wiener Klavierkonzert A-Dur KV 414, das noch ganz im Zeichen des klassischen Ideals ausgewogener Einheit und Harmonie steht. Der US-amerikanische Star-Pianist zelebriert dieses und Mozarts späteres Wiener-Konzert C-Dur KV 503 zusammen mit dem Kammerorchester Basel, das historisch ambitioniert im Stehen spielt und nicht nur wegen der übersichtlichen Streicherbesetzung ein Höchstmaß an Transparenz und geschmeidiger Artikulation an den Tag legt. Das kommt auch der fünften Sinfonie des 19-jährigen Franz Schuberts zugute, mit der der Konzertabend enden wird. Kammerorchester von diesem Niveau spielen ohne Dirigenten, die Einsätze gibt der Konzertmeister Vlad Stanculeasa.

Im Mozart’schen A-Dur-Konzert scheint für Kit Armstrong die vollkommene Schönheit im Mittelpunkt zu stehen, und gerade im Andante-Satz setzt er durch verschattet-melancholische Töne auf romantische Farben. Er haushaltet mit den Lautstärken äußerst sensibel. Nie ist er zu laut, immer schön in der Waage mit dem Orchester. Andererseits liegt seine Besonderheit nicht unbedingt im Zwang, möglichst mozartisch zu spielen. Seine Qualität ist eine, die rarer ist. So rar, dass sie wie gewöhnlich auch an diesem Abend nicht einmal im Programmheft Erwähnung findet. Wer rechnet schon damit, dass er nicht – wie die meisten Pianisten und Pianistinnen – die von Mozart selbst oder anderen Komponisten überlieferten Solokadenzen übernimmt, die sich meist in spielerisch-neckischem Laufwerk und Arpeggi-Ketten gefallen und wiederholen. Nein, Armstrong schreibt oder improvisiert sie selbst. Und sie offenbaren seine kompositorischen Qualitäten: Auch in Mozarts C-Dur-Konzert hört man deutlich Armstrongs Lieblingskomponisten Johann Sebastian Bach heraus: in der imitatorischen Verarbeitung thematischer Gedanken, in der Dichte der kontrapunktischen Stimmführung. Eigentlich klingen die Solokadenzen nicht wie virtuose Improvisationen, sondern wie ausgearbeitete Durchführungsteile.

Dass sie doch aus dem Stegreif gespielt sein könnten, zeigt sich mehr an ihrer Länge. Besonders im A-Dur-Konzert ufern Armstrongs solistische Höhenflüge ein wenig aus, das Orchester steht lange unbeschäftigt da, und das ist sicherlich nicht im Sinne Mozarts, der das Orchester niemals zugunsten des Solisten vernachlässigen wollte. Die Spannung in seinen Konzerten entsteht durch einen wohl ausgewogenen Dialog zwischen beiden, und dieser kommunikativen Seite schenkt Armstrong auch sonst zu wenig Beachtung.

Rezension für die Stuttgarter Zeitung / Stuttgarter Nachrichten vom 8./9. 2016.

EDUARDAS UNIVERSUM

weblog für ernste kultur von verena großkreutz

Wer ist Eduarda?

Eduarda bin natürlich ich! Diesen Spitznamen verpasste mir ein Freund in meiner Anfangszeit als Musikkritikerin in Erinnerung an den berühmten Eduard Hanslick.

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