Mittwoch, 29. November 2017

Kecke Attacken

Mirga Gražinytė-Tyla hat in der Stuttgarter Liederhalle das City of Birmingham Symphony Orchestra dirigiert

Stuttgart - Welch ein Donnerwetter! So plastisch entfaltet sich das großartige Gewitterspektakel in der „Pastorale“, dass man meint, ein Luftzug fahre durch den Beethovensaal. Das City of Birmingham Symphony Orchestra in hochgespannter Sitzhaltung spielt Beethovens Sechste Sinfonie mit jugendlicher Frische und Energie, beredt und mit rhythmischer Verve. Ein transparentes, atmendes Klangbild entsteht, vorbildlich die Balance zwischen Streichern und Bläsern. Kein Wunder, dass alles so frisch klingt. Am Pult steht die aus Litauen stammende, erst 31-jährige Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla, die seit August 2016 Musikdirektorin der Birminghamer ist. Von dieser Berufung erhofft sich so mancher einen Paradigmenwechsel, der Dirigentinnen endlich in die Spitzenämter des Musikbetriebs bringt. Denn sie sind nach wie vor selten in den Konzertsälen dieser Welt, wie auch in der Russ-Meisterkonzert-Reihe im leider nicht ganz vollen Beethovensaal.

Dabei zeigte das Orchester schon in Mozarts „Zauberflöten“-Ouvertüre, wie viel Spaß es ihm macht, mit der jungen Frau zu musizieren. Solche Programme hört man immer wieder gelangweilt heruntergespielt. An diesem Abend nicht: Federnd, energiereich, mitreißend klang dieser Mozart, spritzig, feurig, luzide – alles dem auffälligen Dirigierstil der schmalen, drahtigen Litauerin entsprechend: den einerseits höchst eleganten, ja ballettösen Armschwüngen nach oben und zur Seite, andererseits den keck attackierenden Fechtbewegungen, bei denen man sich zuweilen wundert, dass der Taktstock sich nicht selbstständig macht. Zwischendurch lässt es die Dirigentin aber auch laufen. Wippt dann entspannt mit, um im richtigen Augenblick wieder hochzuspringen und mit zackigen Bewegungen Energie einzufordern. Ein Stil der Programm ist: differenziert, sehr genau, aber auch sehr unkonventionell.

Umrahmt von Mozart und Beethoven fühlte sich Chopins Zweites Klavierkonzert pudelwohl. Schönklang, nachtschwärmende Melodien, mal luzides, mal kraftvolles Laufwerk durch die Oktaven, hoch und runter: Da ist der polnische Pianist Rafał Blechacz der richtige Mann. Der 32-Jährige ist derzeit ein sehr angesagter Chopin-Interpret, und das konnte er im Klavierkonzert auf sich selbst geworfen exzessiv ausleben. Aufs Kollektiv musste er gar nicht groß hören. Denn dieses Werk ist ja ein Solokonzert im wahren Sinne des Wortes. Orchester kippen darin vor Unterbeschäftigung beinahe vom Stuhl, dienen fast durchweg nur der Stimmungsmache oder packen den Klavierpart extraschön in Zuckerwatte ein.

Dass Rafał Blechacz sich während des Schlussapplauses vehement weigerte, vor der Dirigentin die Bühne zu verlassen, entspricht einerseits seinem Image als höflicher Junge von nebenan. Andererseits ist es typisch für die konservativen Verhaltensrituale im Klassikbusiness. Mirga Gražinytė-Tyla nahm’s cool, gab nicht nach und behielt die Entscheidungshoheit.

Rezension für die Stuttgarter Zeitung und die Stuttgarter Nachrichten vom 29.11.2017.

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