Freitag, 27. November 2009

Dynamit aus dem Totenreich

Fundament – Jan Neumanns neues Stück über Sinnsuche heute uraufgeführt

Stuttgart - "Die größte Scheiße ist, dass ich nicht weiß, gegen welche Scheiße ich jetzt was machen kann", brüllt der Student Benjamin Ullrich seinen tumben WG-Mitbewohnern entgegen, nachdem er ihnen in einer mehrminütigen Wortkanonade sämtliche aktuellen Vergehen der Menschheit um die Ohren gehauen hat: von "Folter, Kinderarbeit, Todesstrafe" über den "Kampf ums Wasser, das Verschwinden der Arten, die schmelzenden Pole" bis hin zur "Unfähigkeit zu kommunizieren, Dominanz der Medien, Verrohung der Jugend" und zu "Atomkraftwerken und Atombomben".

So gut wie alles ist dabei, was einem so einfällt zum Thema menschenverschuldetes Ungemach. Doch Ullrichs Demo-Transparent wird am Ende leer bleiben. Er weiß einfach nicht, was er draufschreiben soll.

Im neuesten Projekt "Fundament" des Theaterautors und Regisseurs Jan Neumann, das jetzt im Depot des Staatstheaters Stuttgart zur Uraufführung kam, brachte diese Tirade das Publikum spontan zum Klatschen. Das Dilemma schien den Anwesenden nicht ganz unbekannt: Das Engagement eines Gutmenschen erstickt an der Unübersichtlichkeit seiner Aufgaben und hat Orientierungslosigkeit und Sprachlosigkeit zur Folge.

Sich kreuzende Wege in der Bahnhofshalle

Der Student (Matthias Kelle) ist in Neumanns Stück einer von fünf Protagonisten, deren Leben durch einen Sprengstoffanschlag auf den Hauptbahnhof einer größeren Stadt schicksalhaft miteinander verknüpft werden. In episodenhaften Rückblenden werden ihre unterschiedlichen Existenzen beleuchtet. Da ist zunächst ein Frührentner (Bijan Zamani), der seine Mitpassagiere im Zugabteil wortreich über seine erfolglose Sinnsuche in sämtlichen Weltreligionen aufklärt. Oder die junge Frau (Lisa Wildmann), die an einem esoterischen Malkurs teilnimmt, wo der Lehrer sie dazu animiert, in der Gruppe eine Beichte abzulegen: In Tränen aufgelöst berichtet sie von ihrer gescheiterten Ehe und dem unüberwindbaren Zwiespalt zwischen Familie und Beruf.

Eine andere Frau (Stephanie Schönfeld), Single, einsam, fühlt sich auch im Augenblick ihres Todes nicht dazu befähigt, irgendetwas zu empfinden – genauso wie damals im Krankenhaus, als ihr Vater im Sterben lag. Einem wohlhabenden, beruflich erfolgreichen Familienvater (Sebastian Röhrle) dagegen gelingt der Spagat zwischen seiner Arbeit in der Werbeagentur, seiner Familie und sozialem Engagement auf fast schon übermenschliche Weise. Vier der fünf Leben treffen zufällig an einem Nachmittag in einem Bahnhof zusammen, als eine Bombe detoniert. Die einen sterben, die anderen überleben.

Zufall, Willkür oder Bestimmung?

Der Plot erinnert ein wenig an Thornton Wilders Roman "Die Brücke von San Luis Rey", in dem eine Hängebrücke plötzlich zusammenstürzt und fünf Menschen in den Tod reißt, was ein Franziskanermönch zum Anlass nimmt, sich Klarheit darüber zu verschaffen, ob der Tod dieser Menschen göttliche Fügung oder reiner Zufall war. Neumann stellt solche Fragen nicht, und doch geht es um den Glauben und was uns erschüttern kann in unseren Grundfesten.

"Fundament" zeichnet ein Bild unserer Zeit, zeigt unterschiedliche Formen der oft verzweifelten Sinnsuche. Da geht es eher um Assoziationen als um Antworten. Sehr viel Text bändigt das virtuos agierende Ensemble an diesem gut 100 Minuten dauernden Abend. "Fundament" hat der Regisseur mit seinen Schauspielern zusammen erarbeitet. Vieles ist aus der Improvisation und aus Diskussionen heraus entstanden, hat das Schreiben des Autors beeinflusst. Die Logik der Ereignisse wird von der Erzählstruktur bestimmt, einer Mischung aus detailgenauer Erzählung, Monologen und Dialogen. Die Schauspieler erzählen, schlüpfen dann flugs in eine Rolle und switchen wieder zurück – mal sind sie Hauptfiguren in ihrer eigenen Episode, mal Nebenfiguren in den anderen. Die quecksilbrige Struktur verhindert jegliches Pathos: Niemand muss auf der Bühne sterben, man darf aufrecht stehen, während vom Tod erzählt wird.

Mühsame Glaubenssuche heute

Neumanns Theater ist unterhaltsam und überraschend. Gelegentlich verhakelt es sich ein wenig in humoristischer Comedy, befreit sich aber immer wieder erfolgreich und findet zu berührenden Szenen, die die Irrungen und Wirrungen des Ichs spürbar machen. Das mit viel schwarzem Isolierband und Papier arbeitende Bühnenbild von Thomas Goerge kokettiert mit einem gewissen Dilettantismus und weiß doch mit den Möglichkeiten des Theaters zu beeindrucken: Die Drehbühne des Depots gehört an diesem Abend nicht den Schauspielern, sondern dem Publikum. Es sitzt auf Kissen und Teppichen, derweil die vier Seiten mit weißen Vorhängen verhüllt sind, die sich abwechselnd öffnen und schließen.

Zwischen den Episoden dreht sich die Bühne, und mit ihr das Publikum. Ein starker Effekt – vor allem im Finale: Da öffnen sich die drei schmalen Seitenflächen und der eigentliche Zuschauerraum erstmals gleichzeitig, und von allen Seiten strömt es auf das Publikum ein: Ein Mann liest aus der Bibel vor, ein Attentäter schreibt das Nietzsche-Zitat "Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit" an die Wand, man erblickt eine marienhafte Erscheinung aus dem Totenreich und eine blutüberströmte Frau, grelles Licht blendet, Rauch dringt in den Raum, und Plastik-Asche schneit nieder. Dazu Passionsmusik von Bach. Da spätestens ist die Erschütterung des Fundaments auch in die Gefühlswelt der Zuschauer übergegangen.

Rezension für www.nachtkritik.de

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