Pathos und Witz
Radio-Sinfonieorchester Stuttgart mit Schostakowitschs 15. Sinfonie
Stuttgart - Das passiert selten in Abonnementskonzerten: Das Publikum im Beethovensaal vergisst die Benimm-Regeln der bürgerlichen Musentempel und tut seine Begeisterung nicht erst am Schluss einer Sinfonie, sondern spontan applaudierend zwischen den Sätzen kund. So geschehen im jüngsten Konzert des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des SWR (RSO) nach dem Kopfsatz von Dmitri Schostakowitschs 15. Sinfonie.
Der war aber auch wirklich mitreißend gespielt. Unter Leitung ihres Ersten Gastdirigenten Andrey Boreyko gelang es dem Klangkörper dank rhythmisch-metrischer Geschmeidigkeit und plastischer Artikulation zwischen Scherz, Ironie und Satire fein zu unterscheiden und das quecksilbrige Hauptthema einer ständigen charakterlichen Metamorphose zu unterziehen: mal keck-naiv, mal eulenspiegelnd, mal aufdringlich rasend, mal unheilschwanger marschierend. Und immer wieder ließ man Rossinis ratterndes Wilhelm-Tell-Thema aufscheinen, als sei dies innerhalb dieses Tohuwabohus aus Witz und Bedrohung das Selbstverständlichste der Welt. Überhaupt schien dem Orchester die Faktur dieses Werks besonders zu liegen. In seinem 1971 entstandenen sinfonischen Schlusswort verabschiedete sich der Komponist nämlich in weiten Teilen vom Monumentalismus vieler früherer Werke. Es weist trotz großer Besetzung die für Schostakowitschs Spätwerk typische kammermusikalische Tendenz auf, was sich in den zahlreichen, vom Orchester brillant umgesetzten Instrumentensoli, darunter auch Celesta, Xylophon und Vibraphon, offenbart.
Zwar übernahm Schostakowitsch hier das klassische viersätzige Sinfonie-Modell, er wandte jedoch eine Collagetechnik an, die einerseits gestisch und harmonisch auf die musikalische Klassik und Romantik verweist, andererseits aber auch expressive moderne Ausdrucksmittel wie Poly- und Atonalität, Zwölfton- und Clustertechnik zulässt. Das blitzschnelle Umschalten von einem in den anderen Tonfall war eine dankbare Aufgabe für das RSO - im Trauerchoral und -gesang des Adagios ebenso wie im Totentanz-Scherzo, das immer wieder in lärmende Exaltiertheit ausbricht, und erst recht im Finale mit seinen meditativen Rahmenteilen, seiner schmerzhaft sich verdichtenden Passacaglia und seinem schwebend gehaltenen, wenig optimistischen Ende.
Der Tatsache, dass Schostakowitsch dem Rossini-Zitat des Kopfsatzes im Finale das Nornenmotiv aus Wagners Ring-Zyklus gegenüberstellt, hatte man dramaturgisch Rechnung gezollt. So verströmte das Orchester zu Beginn des Abends in der Ouvertüre zu Rossinis Oper „Wilhelm Tell“ Witz, Dramatik und italienisches Licht, während die anschließenden Wagner-Instrumentalstücke - Trauermarsch für Siegfried aus der „Götterdämmerung“ sowie Tristan-Vorspiel samt Isoldes Liebestod - dank weihevollem Pathos respektive verklärendem, unstillbarem Sehnen fast schon erschlagend wirkten.
Vielleicht ist darin auch die Ursache zu suchen für das verfrühte, befreiende Klatschen nach dem ersten Satz der 15. Sinfonie. Nach soviel heiligem Pathos schien Schostakowitschs Musik doch viel näher beim Menschen zu sein.
Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 28. Juni. Das Konzert fand statt am 24. Juni 2010.
Stuttgart - Das passiert selten in Abonnementskonzerten: Das Publikum im Beethovensaal vergisst die Benimm-Regeln der bürgerlichen Musentempel und tut seine Begeisterung nicht erst am Schluss einer Sinfonie, sondern spontan applaudierend zwischen den Sätzen kund. So geschehen im jüngsten Konzert des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des SWR (RSO) nach dem Kopfsatz von Dmitri Schostakowitschs 15. Sinfonie.
Der war aber auch wirklich mitreißend gespielt. Unter Leitung ihres Ersten Gastdirigenten Andrey Boreyko gelang es dem Klangkörper dank rhythmisch-metrischer Geschmeidigkeit und plastischer Artikulation zwischen Scherz, Ironie und Satire fein zu unterscheiden und das quecksilbrige Hauptthema einer ständigen charakterlichen Metamorphose zu unterziehen: mal keck-naiv, mal eulenspiegelnd, mal aufdringlich rasend, mal unheilschwanger marschierend. Und immer wieder ließ man Rossinis ratterndes Wilhelm-Tell-Thema aufscheinen, als sei dies innerhalb dieses Tohuwabohus aus Witz und Bedrohung das Selbstverständlichste der Welt. Überhaupt schien dem Orchester die Faktur dieses Werks besonders zu liegen. In seinem 1971 entstandenen sinfonischen Schlusswort verabschiedete sich der Komponist nämlich in weiten Teilen vom Monumentalismus vieler früherer Werke. Es weist trotz großer Besetzung die für Schostakowitschs Spätwerk typische kammermusikalische Tendenz auf, was sich in den zahlreichen, vom Orchester brillant umgesetzten Instrumentensoli, darunter auch Celesta, Xylophon und Vibraphon, offenbart.
Zwar übernahm Schostakowitsch hier das klassische viersätzige Sinfonie-Modell, er wandte jedoch eine Collagetechnik an, die einerseits gestisch und harmonisch auf die musikalische Klassik und Romantik verweist, andererseits aber auch expressive moderne Ausdrucksmittel wie Poly- und Atonalität, Zwölfton- und Clustertechnik zulässt. Das blitzschnelle Umschalten von einem in den anderen Tonfall war eine dankbare Aufgabe für das RSO - im Trauerchoral und -gesang des Adagios ebenso wie im Totentanz-Scherzo, das immer wieder in lärmende Exaltiertheit ausbricht, und erst recht im Finale mit seinen meditativen Rahmenteilen, seiner schmerzhaft sich verdichtenden Passacaglia und seinem schwebend gehaltenen, wenig optimistischen Ende.
Der Tatsache, dass Schostakowitsch dem Rossini-Zitat des Kopfsatzes im Finale das Nornenmotiv aus Wagners Ring-Zyklus gegenüberstellt, hatte man dramaturgisch Rechnung gezollt. So verströmte das Orchester zu Beginn des Abends in der Ouvertüre zu Rossinis Oper „Wilhelm Tell“ Witz, Dramatik und italienisches Licht, während die anschließenden Wagner-Instrumentalstücke - Trauermarsch für Siegfried aus der „Götterdämmerung“ sowie Tristan-Vorspiel samt Isoldes Liebestod - dank weihevollem Pathos respektive verklärendem, unstillbarem Sehnen fast schon erschlagend wirkten.
Vielleicht ist darin auch die Ursache zu suchen für das verfrühte, befreiende Klatschen nach dem ersten Satz der 15. Sinfonie. Nach soviel heiligem Pathos schien Schostakowitschs Musik doch viel näher beim Menschen zu sein.
Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 28. Juni. Das Konzert fand statt am 24. Juni 2010.
eduarda - 27. Jun, 01:26