Montag, 20. September 2010

Mondsüchtig in Stuttgart

Musikfest Stuttgart: Sheridan Ensemble und Mary Carewe mit "Liedern der Nacht"

Arnold Schönbergs Melodram "Pierrot lunaire" auf Gedichte von Albert Giraud birgt die vielleicht expressivsten Lyrikvertonungen der musikalischen Moderne. „Finstre, schwarze Riesenfalter töteten der Sonne Glanz“ klagt der mondsüchtige Clown in die Nacht hinein – gequält und zwischen Sprechen und Gesang zwitternd. Da kann man nichts machen gegen die Gänsehaut. Auch beim Spätkonzert am Samstag, das sich in den gut besuchten Wagenhallen "Liedern der Nacht" widmete, verfehlte Schönbergs epochemachendes Werk seine Wirkung nicht.

Der britischen Sängerin Mary Carewe gelang der schwierige Balanceakt zwischen "fast gesungen" und "mit Ton gesprochen", den "Pierrot lunaire" einfordert, und sie traf auch die geheimnisvoll ironischen Tonfälle, mit denen Schönberg die Zuhörer stets im Vagen der Bedeutung lässt. Leider nur sang Carewe mit Mikrofon. Weil die Lautsprecher ihre Stimme farblich nur matt wiedergaben, trat sie in den Hintergrund und kam mit den Instrumenten nicht wirklich zusammen. Auch der Text war meist nicht zu verstehen. Die rauschende Heizungsanlage tat das Übrige.

So lauschte man vor allem den Stimmen der hervorragenden Instrumentalisten. Das fünfköpfige Berliner Sheridan Ensemble unter der Leitung von John Carewe brachte die expressiv-atonale Partitur lebendig, spannungsgeladen und farblich plastisch geformt zu Gehör und hauchte dem kontrapunktisch komplexen Gewebe eine ganze Menge Sinnlichkeit ein. So gestaltete sich der Übergang zum leichteren, beschwingteren Teil des Abends bruchlos.

Philip Mayers am Klavier betörte nun mit der "Mèlodie perverse": verträumt wiegenden Walzern, die Friedrich Hollaender in den 1920er Jahren für das Berliner Kabarett "Schall und Rauch" geschrieben hat. Und Florian Donderer brachte in Mischa Spolianskys "Sehnsucht", das dem selben Berliner Kultur-Biotop entstammte, mit herzzerreißenden Melodien à la Zingarese seine Geige zum schwer melancholischen Singen.

In Songs aus verschiedenen Broadway-Musicals der 1940er Jahre, mit denen Kurt Weill im amerikanischen Exil sein Überleben sicherte, konnten sich Mary Carewes Stimmbänder jetzt endlich perfekt ausgesteuert entfalten, und ihr britischer Humor stand den Liedern genauso gut wie die transparente, pfiffige Begleitung durch das Sheridan Ensemble, das Weills ganz eigenen Stil – in dem der Broadway-Tonfall stets mit charmant strömenden Dissonanzen kokettiert – exzellent zur Geltung brachte.

Rezension für die Stuttgarter Nachrichten vom 20.9.2010. Das Konzert fand statt am 18.9.

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