Freitag, 1. Oktober 2010

Macht, Übermacht, Ohnmacht

"Missionen der Schönheit" – Sibylle Bergs neues Stück von Hasko Weber am Staatsschauspiel Stuttgart uraufgeführt

"Missionen der Schönheit", Lisa Wildmann, Foto: Sonja Rothweiler

Stuttgart - Während im Stuttgarter Schlosspark Volkszorn auf Staatsmacht traf, tausende von Demonstranten friedlich, aber aufgebracht des Augenblicks harrten, da hinter Absperrzäunen und mehrfach abgesicherten Polizeiketten das Fällen der steinalten Bäume beginnen würde, um Platz zu schaffen für die Baustelle Stuttgart 21, nahm auch Staatsschauspiel-Intendant Hasko Weber vor Beginn der Premiere eine klare Position ein: "Wir, das Ensemble des Schauspiel Stuttgart, sind bestürzt und zornig über die Eskalation der Gewalt gegen friedlich demonstrierende Stuttgarter Bürger". Denn ein Tag ging zu Ende, an dem die einst so braven Schwaben am eigenen Leib erfahren hatten, dass man kein "Chaot", kein Pflastersteinewerfer sein muss, um staatliche Macht in Gestalt von Gummiknüppeln, Wasserwerfern und Reizgas zu spüren zu bekommen. Da reichte schon die Teilnahme an einer Sitzblockade oder die bloße Anwesenheit vor Ort.

In der Interimsspielstätte in der Türlenstraße, wo das Staatsschauspiel wegen Umbaus für ein Jahr residiert, wurden dann ganz andere Machtverhältnisse verhandelt: nämlich jene zwischen den Geschlechtern - aus der Sicht von Frauen und sarkastisch zugespitzt. In Sibylle Bergs neuem Stück "Missionen der Schönheit" kommen acht Frauen unterschiedlichen Alters an diversen Orten der Welt zu Wort. Ihre Monologe erzählen von Morden, Selbstverstümmelung, Vergewaltigung, ehelicher Öde und seelischen Verletzungen.

Sibylle Berg, die kluge, bissige Analytikerin gesellschaftlichen Niedergangs und der Vergeblichkeit aller menschlichen Mühen, bezieht sich im Stück-Untertitel "Holofernesmomente" auf die Bibel, auf jene Geschichte also, in der Judith den brandschatzenden, mordenden Feldherrn Holofernes durch ihre Schönheit betört, betrunken macht und dann enthauptet - zwecks Rettung ihrer Heimat, versteht sich. In Bergs Stück ist dieser Bezug zwar ironisch zu verstehen, dennoch wandelt sich auch hier die Ohnmacht vor der Übermacht gelegentlich in blanke Gegengewalt. Bergs Frauen haben dabei nichts Heroisches an sich. Ihr Wille ist stark, das Ergebnis ihres Handelns oder Denkens bleibt indes schwach, zumindest fragwürdig.

Die bulimische Jugendliche, die sich einen knabenhaften Körper ersehnt, rettet sich vor dem gewalttätigen Vater, indem sie den Betrunkenen einfach am Bett festzurrt und verhungern lässt. Eine junge Frau zieht aus dem allgemeinen Diktat des normierten Körpers die Konsequenz, sich ihr Gesicht mit der Rasierklinge zu zerschneiden. Das Vergewaltigungsopfer in Kinshasa spottet innerlich über die Tatsache, dass ihre Quäler sie körperlich derart zerstört haben, dass "es" ihnen jetzt "keine Freude mehr" mache. Eine einst zur "Miss Po" Gekürte durchwandert in der Hoffnung, einmal die Titelseite des Playboy zu zieren, sämtliche Höllen des pornographischen Geschäfts - ohne ihr Ziel zu erreichen, während eine 40-jährige Neapolitanerin sich entschieden hat, das Bett nicht mehr zu verlassen und ihr Gehirn auf "Bildschirmschoner" zu stellen. Eine alte Frau dagegen genießt die Ruhe, die ihr die Vergiftung ihrer Familie beschert hat: "Mein Mann und die beiden Jungen liegen seit Jahren im Keller. Von mir selber dorthin verbracht, nachdem ich sie auf die letzte Reise geschickt habe", heißt es lapidar.

Bitterböse Geschichten sind das, die ihre ganze Wirkung, ihre Krassheit, ihre schockierenden Pointen beim bloßen Lesen entfalten können - dank der eigenen Vorstellungskraft, die gefordert wird. Eine Prosa, die man in endlosen Varianten weiterführen könnte.

Indes: Auf der Bühne funktionieren die "Missionen der Schönheit" nicht. Hasko Webers Inszenierung versucht zwar, die theatrale Schwäche der Texte durch einen Kunstgriff aufzufangen: Er hat dem Stück ein Varieté-Kostüm verpasst. Das Publikum sitzt an Tischchen, darf an der Bar Getränke bestellen. An der Decke funkeln Discokugeln, die Bühne mit Mikrophonständer wird mit Glitzerlametta verschönt (Bühne und Kostüme: Janina Thiel).

Die formidablen vier Darstellerinnen Anja Brünglinghaus, Gabriele Hintermaier, Katharina Ortmayr und Lisa Wildmann - schön, gleichaltrig geschminkt und in Revueklamotten gekleidet - spielen ihre Monologe als öffentliche Selbstbekenntnisse: mehr als Nummern, denn als tatsächlich Erlebtes. Sie deklamieren sie ins Mikrophon oder während sie durchs Publikum schlendern. Von Verletzungen jedweder Art so gut wie keine Spur: Stolz sind sie, nicht gebrochen, aufrecht gehen sie.

Das ist kein prinzipiell falscher Weg, doch die offen zelebrierte kühle Distanz schadet der Wirkung der Texte. Bergs Sprache zerfällt, verliert ihre Drastik, ihren rabenschwarzen Witz, ihre sezierende Schärfe. "Ich hasste die Aufmerksamkeit, die sich meinen Geschlechtsteilen zuwandte, und das Wissen, Teil einer biologischen Masse zu sein, die nichts wollte, als ihre Glieder aneinander zu reiben, Flüssigkeiten zu verspritzen, zu schaben, zu stinken, zu schwitzen, sich zu versenken, zur Seite zu rollen, zu schnaufen, ein Kind zu empfangen und es auszutragen." Nicht der einzige Satz, der an diesem Abend harmlos vor sich hinplätschert und zu reiner Wortmusik wird.

Zum Varieté-Kostüm gehört natürlich auch Musik: Dafür war Murat Parlak zuständig, der als haariger Affenmensch in rotem Frack selbst am Klavier saß, Jazziges von sich gab und ansonsten die ewig-animalische Sexmaschine Mann mimte. Zwischen ihren Monologen sangen die Frauen Rammstein-Songs, deren Härte aber in samtigem Bar-Sound eingeschmolzen wurde: "Bück dich, befehl ich dir. Wende dein Antlitz ab von mir, dein Gesicht ist mir egal."

Schade, dass der Varieté-Effekt, der immerhin eine Öffnung zum Publikum bewirkt, nicht für Interaktionen genutzt wurde. So blieben die Zuschauer stumm, während aus der Ferne nervöse Polizeisirenen vom immer stärker werdenden Polizeiaufgebot am Bahnhof kündeten, wo die Ohnmacht vor der Übermacht nicht in Gegengewalt umgeschlagen war und wo in der Nacht mit schwerem Gerät in rasender Geschwindigkeit ein Baum nach dem anderen gefällt wurde.

Rezension für nachtkritik.de. Die Uraufführung fand statt am 30.9.2010.

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