Mittwoch, 22. Dezember 2010

Mythos als Metapher

Das Weihnachtsoratorium „El niño“ von John Adams im Akademiekonzert der Stuttgarter Bachakademie

CD-Cover einer Einspielung mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin unter Kent Nagano von 2001.

Stuttgart - Eine frohe Botschaft wie Bachs Weihnachtsoratorium hat „El niño“ von John Adams, komponiert 1999/2000, nicht zu bieten. Der christliche Mythos steht in diesem Oratorium, das jetzt im gut besuchten Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle von der Internationalen Bachakademie zur Aufführung gebracht wurde, als Metapher für die Gegenwart.

Es wird zwar in biblischen und apokryphen Texten von der Verkündigung der Empfängnis Marias, der Geburt Jesu und von den drei Weisen aus dem Morgenland berichtet, aber genauso treten in vertonten Gedichten lateinamerikanischer Poeten dunkle Seiten der Weihnachtsgeschichte in den Fokus. Von den Zweifeln Josefs ob der überraschenden Schwangerschaft Marias ist die Rede, vom Weihnachtsstern, der vom Himmel fällt und die ganze Welt in Flammen setzt, und vom Kindermord zu Bethlehem, der verbunden wird mit dem Massaker von Tlatelolco, wo 1968 mexikanische Truppen Hunderte von Studenten und Arbeitern niedermetzelten.

Eine finale Aussage gibt es trotzdem, einen sanften Lobpreis der Kunst: „Poesia“, säuselt der Chor zum zarten Zupfen des Orchesters, wenn das Werk ganz leise verstummt. Nein, eine Apotheose darf man beim politisch ambitionierten Adams, 1947 geboren und einer der wichtigsten Gegenwartskomponisten der USA, am Ende nicht erwarten.

In der Leitung von Dennis Russell Davies, einem Spezialisten für US-amerikanische Musik, gelang der Gächinger Kantorei, den sechs Gesangssolisten und dem Sinfonieorchester Basel eine insgesamt spannende Aufführung - ein gar nicht so einfaches Unterfangen, ist das Werk doch dem amerikanischen Minimalismus verpflichtet: jenem kompositorischen Verfahren, mit dem Tonkünstler ab den 1960er-Jahren gegen die Konventionen der Avantgarde, insbesondere der seriellen Musik, rebellierten. Sie setzen auf einfache, periodisch wiederholte, minimal variierte oder sich überlagernde „patterns“, die ein durchlaufender Beat zusammenhält, während die Harmonik oft in schlichtesten Dreiklangsformeln gehalten ist. Das kann schnell langweilen in einem Oratorium von zwei Stunden Länge.

Doch die Gäste aus Basel setzten die Adams-typische Variationstechnik, die sich weniger im musikalischen Material als im Ausdrucks- und Dynamik-Bereich abspielt - also im Wechsel von langsam, schnell, laut, leise, sanft, hart - äußerst sensibel, farbig und genau um.

Auch der meist deklamatorische solistische Gesang von Robin Johannsen (Sopran), Anja Schlosser (Mezzo) und Markus Marquardt (Bariton), der sich über solcherart orchestraler Erdung frei entfalten konnte, überzeugte durchweg dank ausdrucksstarker und fein phrasierter Artikulation aller Beteiligten. Im Terzett der Countertenöre setzte sich Daniel Gloger allerdings frequenzmäßig ein wenig zu sehr ab von seinen Kollegen Andrew Watts und Tim Severloh.

Emotionale Akzente gehen in „El niño“ vor allem vom Chor aus. Hier glänzten die Gächinger durch homogene und mächtige Klanglichkeit und farbig-schillernde Effekte in den poetischen Passagen. Viel Applaus gab es am Ende für einen gelungenen Abend.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 21.12.2010. Das Konzert fand statt am 18.12.

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