Sonntag, 1. Mai 2011

Die Treppe und der Steilwand-Blues

Fragile! – André Rößler holt Tena Štivičić' Stück in Stuttgart ins abstrakt Kühle

Stuttgart "Es gibt kein Ort zum Rückkehren", heißt es in Tena Štivičić' "Fragile!". Tiasha sagt das zur Sozialarbeiterin Gayle, nachdem diese Tiashas Hoffnung auf Asyl mit einem unverbindlichen "Ich kann nichts garantieren, aber wir tun unser Bestes" einen verbalen Faustschlag versetzt hat. Tiasha ist eine Zwangsprostituierte aus Osteuropa, die nach London geflohen ist, wo sich ihre Wege mit denen fünf weiterer Einwanderer kreuzen: in der muffigen Kellerbar des Bulgaren Michi.

Dort singt die schöne Kroatin Mila, die eigentlich Musicalstar werden will. Dort kellnert der Serbe Marko, der eigentlich Comedian werden will. Dort taucht auch der aus Norwegen stammende Kriegsreporter Erik auf, der mit Mila liiert ist, dem aber die Gefühle abhanden gekommen sind: ein Materialist und Kokser. Und auch die Neuseeländerin Gayle, jene Sozialarbeiterin, die sich eigentlich zur bildenden Künstlerin berufen fühlt, aber jetzt traumatisierte Asylbewerber betreut, lässt sich hier blicken. Und dann eben auch Tiasha, die ihre große Liebe Erik endlich wiedergefunden zu haben glaubt und sich nun einen Neuanfang mit ihm erhofft – freilich ohne Erfolg. Da schließt sich der Kreis.

Fremd im Westen eingezogen


Alle verirren sich in der Großstadt, getrieben von Sehnsüchten, fremd unter Fremden, und alle haben ein dickes Paket an Problemen an der Backe. So wie Marko, der der Vergangenheit seines Vaters, eines serbischen Kriegsprofiteurs, entfloh. Gerettet werden die Entwurzelten, die Tena Štivičić in ihrem Stück "Fragile!" aufeinander treffen lässt, am Ende nicht. Ihr Leben bleibt in der Schwebe. Auch weil man bei allem Integrationswillen doch unter sich bleibt. Und der Westen nur Projektionsfläche ist für letztlich unerfüllbare Träume.

"Fragile!", das die 1977 in Zagreb geborene und heute in London lebende Tena Štivičić 2005 geschrieben hat, erzählt von der sehnsüchtigen Suche nach einer neune Heimat in der Fremde, nachdem die alte unmöglich geworden ist. Ein weltweit unerhört aktuelles Thema. "Fragile!" wurde 2008 beim Heidelberger Stückemarkt prämiert. Es ist ein gutes Stück. Man konnte das auch bei der Premiere im Kammertheater des Staatsschauspiels Stuttgart spüren. Die Dialoge sind raffiniert gebaut, oft mit feiner Komik, mit Doppeldeutigkeiten und Wortspielen durchsetzt. Die Charaktere sind differenziert gezeichnet.

Abgründiges Element, kühle Abstraktheit


Doch in André Rößlers Inszenierung bleibt man von den Geschichten der Heimatlosen seltsam unberührt. Offenbar traut der Regisseur dem Stück nicht so recht. Er lässt es komplett auf einer breit aufsteigenden weißen Treppe spielen. Nicht in einer jener dunklen "Kellerbars, die nie richtig gelüftet werden können", wie es in der Regieanweisung heißt. Auch nicht in der Wohngemeinschaft von Marko und Mila oder im "schäbigen Büro" eines Flüchtlingsheims. Es ist immer diese weiße Treppe, die ganz allgemein von (gesellschaftlichen) Auf- und Abstiegen künden mag, die aber ansonsten sterile Kälte verströmt.

Das ändert auch Murat Parlak nicht, der das Geschehen als "Diskotheker" mit Rhythmusmaschine, Synthie und Soulgesang begleitet. Statt Schmuddeligkeit und Schummrigkeit immer diese grelle, hölzerne Abstraktheit, auf der sich die Protagonisten bewegen wie auf einem Laufsteg. Sie sprechen oft frontal zum Publikum, nicht immer zu- oder miteinander. Ausdruck der Vereinzelung? Ihre Bewegungen sind oft puppenhaft kantig und choreographiert. Man mischt sich gelegentlich auch mal in Video-Tagebuchform ins Geschehen ein. Rößler scheint mit allen Mitteln Emotionen verhindern und Distanz herstellen zu wollen. Sprachprobleme spielen keine Rolle. Auf Emigrantenakzente, wie sie das Textbuch vorsieht, wird verzichtet.

Someday, somewhere

So werden die Charaktere eher ausgestellt als analysiert: Tiasha alias Lisa Bitter wirkt viel zu cool und rational angesichts ihrer furchtbaren Geschichte. Anna Windmüller als Gayle ist eine nette, aber unzufriedene Gutmenschin, mehr aber auch nicht, während Boris Koneczny als Michi dem Klischee eines am Handy klebenden "Balkan-Mafiosos" verhaftet bleibt. Minna Wündrichs triebgesteuerte Mila kann mit viel Gesang am offensivsten gegen die eingeschränkte Entfaltung ihres Charakters kämpfen, während Sebastian Schwab alias Erik, der nur noch im Genuss einen Sinn sieht, eher an der Oberfläche der Möglichkeiten bleibt. Jan Krauter als Marko dagegen kann dank feiner Komik die Qualitäten des Textes am treffendsten herausarbeiten.

Dass Rößler das Drama mit Leonhard Bernsteins "Somewhere" enden lässt, das alle Protagonisten bei einem Gläschen Schnaps fröhlich anstimmen, wäre zu akzeptieren, wenn es in irgendeiner Weise ironisch gebrochen würde. Feine Zwischentöne und doppelte Böden sind Rößlers Sache aber nicht.

Rezension für
nachtkritik am 1. Mai. Premiere war am 30.4.

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