Mittwoch, 11. Mai 2011

Das Phantom der Gegner

Das Stuttgarter Studio Theater bringt „Die Schlichtung“ als Musical auf die Bühne

Stuttgart - Ein Musical über die wortreichen Schlichtungsgespräche zum Großbauprojekt Stuttgart 21? Ja, geht denn das? In der Musical-Metropole Stuttgart ist das möglich. Freilich nicht im noblen Schickimicki-Flair des Stuttgarter SI-Erlebnis-Centrums in Möhringen, sondern im Herzen Stuttgarts: In der kleinen Off-Bühne Studio Theater in der Hohenheimer Straße, die in diesem Mai ihren 30. Geburtstag feiert.

Hier probt der Regisseur Christof Küster gerade mit sieben Schauspielern „Die Schlichtung - Das Musical“. Motto des gut zweistündigen revueartigen Theaters: „72 Stunden - für Sie an einem Abend zusammengefasst!“ Einen „Beitrag zur Befriedung der Stadt“ wolle man leisten, wird augenzwinkernd verkündet.

Zwar fehlt dem Thema „Schlichtung“ ein wichtiges Musical-Merkmal: eine ans Herz gehende Liebesgeschichte. Andererseits gibt es derzeit nichts, was in Stuttgart die Emotionen derart in Wallung bringt wie die Frage nach Sinn oder Unsinn der Idee, den von vielen Bürgern und Bürgerinnen so innig geliebten Stuttgarter Kopfbahnhof unter die Erde zu bringen. Und bühnenreife Sprüche gab‘s genug an diesen acht Tagen der Schlichtung im Oktober und November 2010 - nicht nur vom Schlichter Heiner Geißler („Wenn die Katze ein Pferd wäre, könnte man die Bäume hochreiten“), sondern auch von den Projektgegnern Gangolf Stocker („Mein Lieblings-Plakat da unten am Bauzaun ist das, auf dem steht: ‚Marx ist tot, Murx lebt‘“) oder Peter Conradi: „Ich hab‘ heut‘ gelernt, dass es auch Tiere mit Migrationshintergrund gibt“. Über solche Bonmots hinaus stand aber noch eine Menge unfreiwilliger Komik auf der Tagesordnung.

Regisseur Christof Küster hat in mühevoller Arbeit den Schlichtungsprotokollen in dieser Hinsicht auf den Zahn gefühlt und aus ausgewählten Originaltönen eine Spielfassung zusammengestellt. „Zunächst war die Schlichtung natürlich eine trockene Veranstaltung“, erklärt er, „aber dass starke Emotionen im Hintergrund wirkten, die ja auch die Leute auf die Straße geführt haben, spürte man während der Verhandlungen immer. Und das Musical erlaubt dann eben, dass die Leute anfangen zu singen, um ihre Gefühlslage zu beschreiben. Die verdeckten Emotionen können wir auf diese Weise größer machen, und Texte lassen sich so gefühlsbetonter sprechen“.

Durch den Abend führt S 21-Werber Pfarrer Johannes Bräuchle und sein „Bräuchle TV“ - in Anlehnung an Flügel TV, den Internetsender, der regelmäßig über Stuttgart 21 und die Demonstrationen berichtet.

Auf der winzigen Bühne im Keller des Studio Theaters sitzt die sechsköpfige Schlichtungsrunde auf Stapeln von „Wulle“-Bierkästen hinter weißen, treppenartigen Pulten - die Darsteller spielen, wie es sich für eine Low-Budget-Produktion gehört, jeweils mehrere Rollen. Wenn sie heruntersteigen auf die Mini-Spielfläche und solo oder im Ensemble zum Mikrofon greifen, wird’s manchmal ganz schön eng. Alle kommen sie zu Wort: die Befürworter, die Gegner und die Experten. Und alle kriegen sie ihr Fett ab.

Ironisch gebrochen werden die Streitgespräche durch pfiffig umgetextete und am Klavier begleitete Musical-Klassiker. Bevor also Projektgegner Boris Palmer die Vorteile des K 21-Konzepts vorstellen darf, beschwört der Chor erst einmal das „Phantom der Gegner“ - auf die bekannte Nummer aus dem Musical „Das Phantom der Oper“: „Ich habe gestern Nacht bei Kerzenschein ‘nen Fahrplan uns gemacht, der ist ganz fein.“ Wenn die Projektgegner mal den Kopf traurig hängen lassen, singt DB-Vorstandsmitglied Volker Kefer ihnen aufmunternd das Lied „Es gibt ein Licht am Ende des Tunnels“ aus „Starlight Express“. Und wenn Naturschutzexperte Josef-Walter Kirchberg verträumt über Fledermäuse, Juchtenkäfer und Ameisenbläulinge sinniert, stimmt das Ensemble sanft an: „Züge kommen, Züge gehen“ auf „Sunrise, Sunset“ aus „Anatevka“.

Besonders wirkungsvoll ist der Gurgel-Chor auf „Ol‘ man river“ aus „Show Boat“, wenn die Gefahren von S 21 für die Stuttgarter Mineralquellen diskutiert werden. Und über den „schwarzen Donnerstag“, den 30. September 2010, im Stuttgarter Schlossgarten darf sich Heiner Geißler auf „Ihr bösen, bösen Buben“ aus der Rockoper „Shockheaded Peter“ echauffieren: „Ein Räumkommando richtig stark, die wollten ein paar Bäume fällen, an nur ganz wenigen Stellen“. Natürlich darf auch nicht „Maria“ aus der „West Side Story“ fehlen. Boris Palmer singt darauf eine Hymne an Ministerin Tanja Gönner.

Es ist der Charme einer Low-Budget-Produktion, die den besonderen Reiz dieses Musikprojekts ausmacht. So versucht man es auch erst gar nicht mit einer perfekten Ausstattung, sondern geht mit den eigenen Möglichkeiten ironisch um: Die während der Schlichtung verwendeten Schaubild-Folien finden sich an der Wand des Studio Theaters als Modelleisenbahnschienen oder baden-württembergische Wanderkarten wieder. Und die illustren Schnecken und Blitze, die Gangolf Stockers Skizze zu den Platzproblemen im geplanten unterirdischen Bahnhof verdeutlichen sollten, kleben dort ganz realistisch in Gestalt von Fimo-Knet-Figuren.

Die (ausverkaufte) Premiere beginnt morgen um 20 Uhr. Bericht für die Eßlinger Zeitung vom und die Zeitschrift Kultur.

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