Donnerstag, 8. September 2011

Die Wanne ist voll

Musikfest Stuttgart: Ein bunter John-Cage-Abend zum Thema Wasser mit Dietrich Henschel und der Sinfonietta Leipzig im Theaterhaus

Stuttgart – John Cages "4'33''" von 1952 funktioniert auch heute noch. Es ist zwar längst zu einem Klassiker der Avantgarde geworden. Doch immer noch reagieren Teile des Publikums auf die Tatsache, dass in diesem Stück kein einziger Ton erklingt, mit verständnislosem Kopfschütteln. Auch im speziell für das Musikfest-Thema konzipierten Konzert "Wasserspaziergang" im Stuttgarter Theaterhaus verweigerten wieder einige Zuhörer den Künstlern den Applaus oder taten ihre Verwirrung während der Aufführung durch lautes Räuspern und Kichern kund. Der größte Teil der Zuhörer schien aber gelassen. Und dass Dirigent Dietrich Henschel, sonst eher als Sänger bekannt, während der Aufführung von absoluter Stille mal seine Starre löste und eine neue Position einnahm, um dem Kammermusikensemble Sinfonietta Leipzig, das dem Nichtstun frönte, keine Anweisung zu geben, wurde auch von einigen verstanden. "Ah, das ist der zweite Satz", raunte eine kundige junge Frau.

Der hoch unterhaltsame Abend war John Cage gewidmet, der in diesem Jahr 99 Jahre alt geworden wäre. Neben "4'33''" erklangen deshalb noch weitere kompositorische Leckerbissen des Avantgardisten, die zum Nachdenken über die substantielle Frage, was denn Musik überhaupt sei, wo sie anfangt und wo sie aufhört, anregen. Eine befriedigende Antwort ist auch heute noch ein Spezialfall für Philosophen – wie Cage einer war.

Aber wenn es sich nicht gerade um die absolute Stille handelte, zeigte sich das Publikum durchweg tolerant. Etwa in Cages "Inlets", das an drei Tischen zur Aufführung kam, die wirkungsvoll auf dem Bühnen-Balkon positioniert waren. Drei Spieler betätigten sich im Schwenken von Muschelhörnern, die mit Wasser gefüllt sind. Den über Mikrophone verstärkten gurgelnden und blubbernden Geräuschen, die später noch durch einen brennenden Tannenzapfen und ein geblasenes Tierhorn ergänzt wurden, folgte das Auditorium andächtig, als wär's eine Beethoven-Sinfonie.

Konzerthighlight wurde Cages nur mit aufwendiger Requisite aufführbarer witziger "Waterwalk". Dieter Henschel, der den Abend auch moderierte, stellte klar, dass die historische Aufführungspraxis nicht nur für Alte Musik wichtig ist, sondern dank solcher Stücke bereits im 20. Jahrhundert gefordert ist. So sind die Gegenstände, die Cage Ende der 50er Jahre für "Waterwalk" gefordert hat, heute nur noch schwer zu beschaffen: Etwa ein musikalisch wirklich brauchbares Quietscheentchen. Das brachte der improvisationsbegabte Henschel dann genauso gekonnt zum Einsatz wie den Dampfkessel, die Campari-Flasche, die Vase mit Rosen, den Eiscrasher oder die vielen Radios, die allesamt in der mit Wasser gefüllten Badewanne landeten.

Dramaturgische und thematische Schärfung erhielt der Abend auch durch die plastische Aufführung von Hanns Eislers "14 Arten, den Regen zu beschreiben" und Johann Strauss' "An der schönen blauen Donau". Besonders aber in José María Sánchez Verdús "Memoria del agua", das an diesem Abend uraufgeführt wurde, zeigte die elfköpfige Sinfonietta Leipzig ihre besonderen Qualitäten in Sachen Neuer Musik. Ein Stück, das die gedämpfte Atmosphäre unter Wasser eindrücklich widerspiegelt: ein komplexes Geflecht aus Horntönen, langsamen Glissandi, Flageoletts, leisem Pochen und anderen vagen Tonerzeugungen.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung von heute. Das Konzert fand statt am 5. September.

EDUARDAS UNIVERSUM

weblog für ernste kultur von verena großkreutz

Wer ist Eduarda?

Eduarda bin natürlich ich! Diesen Spitznamen verpasste mir ein Freund in meiner Anfangszeit als Musikkritikerin in Erinnerung an den berühmten Eduard Hanslick.

Aktuelle Beiträge

"Nazis sind immer die...
Ein Gespräch mit dem Theaterregisseur und Autor Tobias...
eduarda - 22. Mär, 23:46
wie schön!
Ich freue mich schon sehr auf die Lektüre! Allein schon...
ChristophS - 28. Dez, 16:17
Unter Hochdruck
Das SWR Symphonieorchester spielt in der Leitung des...
eduarda - 3. Dez, 10:33
Kecke Attacken
Mirga Gražinytė-Tyla hat in der Stuttgarter Liederhalle...
eduarda - 29. Nov, 19:34

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Status

Online seit 5679 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 22. Mär, 23:46

Credits


Profil
Abmelden
Weblog abonnieren