Ein Schelm im Freiheitswunderland
Jan Neumann inszeniert sein neues Stück "Frey!" am Staatstheater Stuttgart

Stuttgart – Das waren noch Zeiten, als die feministisch ambitionierte Rockröhre Gianna Nannini 1979 auf dem Cover ihrer "California"-LP die Fackel der amerikanischen Freiheitsstatue durch einen Vibrator ersetzte und damit im katholischen Italien einen Skandal landen konnte. Zumal sich auf der Scheibe auch der Song "America" befand, der die sexuelle Befreiung der Frau durch die Genüsse der Selbstbefriedigung hochleben lässt.
Wie sich Freiheit definiert, wie und ob sie sich wirklich erfüllen kann, welche Lebensbereiche sie objektiv oder subjektiv umfassen darf oder muss, ist einer der komplexesten theoretischen und praktischen Fragen, mit denen sich die Menschheit auseinanderzusetzen hat. Nicht erst seit der Aufklärung und Kants Forderung der Befreiung des Menschen "aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit". Von daher trifft Jan Neumanns neuestes Stück "Frey!", das jetzt in der kleinen Spielstätte "Nord" im Probenzentrum des Stuttgarter Staatsschauspiels in Bad Cannstatt uraufgeführt wurde, ein so gut wie immer aktuelles Thema.
Simplicissimus auf Schelmenreise
Wie so oft bei Neumann entwickelte und schrieb der Regisseur auch dieses Stück erst im Probenprozess mit den Darstellern. Man ging dabei spielerisch und assoziativ zur Sache. Gemäß den Worten Schillers, die zitiert werden: "Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt." Spielen bedeutet Freiheit. Das "als ob" wird zum Programm. Perücken und Schnauzer kommen an diesem Abend bewusst dilettantisch zum Einsatz, die perfekte Maskerade erspart man sich, Travestie ist dennoch Pflicht.
In "Frey!" lässt Neumann den Schelmenroman aufleben – episodenhaft und prosaisch sind seine Texte ohnehin, es wird viel und in rasantem Tempo erzählt. Hier schickt er seine kaspernde und chaplineske Hauptfigur "Friedemann Frey, Verwaltungsangestellter einer namhaften deutschen Versicherungsgesellschaft" auf Reisen, als wär's der Simplicissimus: In der Daseinsfalle zwischen Versicherungsbüro, Durchschnittsfamilie und Kegelbahn packt Frey (Gabriele Hintermaier) eines Tages die Torschlusspanik.
Ein Traum, was sonst
Er macht sich aus dem Staub, taumelt ziellos, passiv und staunend durch die Welt wie Alice im Wunderland. Sucht die Abgeschiedenheit der Berge, lebt bei einem Einsiedler (Jens Winterstein), der sich erst durch den Tod seiner lange Jahre schwerkranken Frau befreit fühlte. Landet auf einem Kreuzfahrtschiff, wo er in die Ernährungsgewohnheiten von Wohlstandsschnepfen und in die Missbrauchsgeschichte von Jutta (Sebastian Röhrle) eingeführt wird und nebenbei noch einiges über sadomasochistische Lustbefriedigung erfährt. Trifft in New York auf den Biker Zotti (Matthias Kelle), einen Heidegger zitierenden Ex-Knacki, um dann in einem Hotel in Las Vegas an eine recht morbide Rezeptionistin (Silja Bächli) zu geraten, die ihm den Selbstmord schmackhaft machen will. Sie selbst stamme aus einer Familie, in der "der Freitod eine große Tradition" habe. "Warum soll man dieses Leben wollen", fragt sie Frey, "das einem gegeben wurde, ohne dass man es wollte, und das man sowieso längst nicht mehr selbst lebt."
Um ein Ende zu finden in der schier überbordenden Thematik, bedient sich Neumann eines alten Theatertricks: Frey erwacht, sitzt vor seinem Computer, und "vor ihm schimmern Statistiken und Tabellen". Alles nur erträumt, nichts gelebt. Der Kreis schließt sich. Die Sinnsuche kann von vorne beginnen.
Anarchische Freude an Zungenzerbrechern
In Matthias Werners Bühnenbild – unter einem weißen Gazezelt, von dessen Decke tropfenförmig sich ausbeulende weiße Säcke herunterbaumeln, aus denen leise Sand und mit ihm die Zeit rieselt – entwickeln sich witzig-absurde Szenen: Etwa wenn Frey auf dem Boden liegende Büroangestellte an ihren rosa Krawatten – Symbole der Unfreiheit – durch die Gegend schleift. Oder wenn der Sturm in den Bergen, der Frey beim Aufstieg zu schaffen macht, von den Darstellerkollegen hör- und sichtbar gemacht wird, indem sie ins Mikro pusten, ihm die Haare zerzausen und seine Krawatte zittern lassen, während sie selbst ihre Häupter in der Anzugsjacke verstecken, jetzt kopflos sind.
Gegenüber solch lustvoll komödiantischen Szenen wirkt so manch andere Episode, wenn sie im Stehtheater verharrt, blass. Lange Monologe bringen den Abend dann in die Nähe zum Hörspiel. Nichtsdestotrotz begeistert das comedyhafte Rollen-Hopping, in das sich das fünfköpfige Ensemble spielsüchtig stürzt. Es bewältigt auch recht sicher die Unmengen von Text, der mit einer anarchischen Freude an Zungenbrechern, am Absurden und am sinnfreien Klang auftrumpfen kann – wenn auch der Zwang zur Alliteration und zum Reim gelegentlich die Grenze des Erträglichen überschreitet, etwa als Frey sinniert: "Wann hab ich denn zuletzt gewichst? Das ist ja nun auch schon was her. Ich weiß gar nicht mehr. Wann hab ich gewichst ohne Witz! Ich mach öfter Witze, als dass ich wichse. Und auch noch schlechte."
Rezension für nachtkritik.de. Premiere war am 17.12.2011.

Stuttgart – Das waren noch Zeiten, als die feministisch ambitionierte Rockröhre Gianna Nannini 1979 auf dem Cover ihrer "California"-LP die Fackel der amerikanischen Freiheitsstatue durch einen Vibrator ersetzte und damit im katholischen Italien einen Skandal landen konnte. Zumal sich auf der Scheibe auch der Song "America" befand, der die sexuelle Befreiung der Frau durch die Genüsse der Selbstbefriedigung hochleben lässt.
Wie sich Freiheit definiert, wie und ob sie sich wirklich erfüllen kann, welche Lebensbereiche sie objektiv oder subjektiv umfassen darf oder muss, ist einer der komplexesten theoretischen und praktischen Fragen, mit denen sich die Menschheit auseinanderzusetzen hat. Nicht erst seit der Aufklärung und Kants Forderung der Befreiung des Menschen "aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit". Von daher trifft Jan Neumanns neuestes Stück "Frey!", das jetzt in der kleinen Spielstätte "Nord" im Probenzentrum des Stuttgarter Staatsschauspiels in Bad Cannstatt uraufgeführt wurde, ein so gut wie immer aktuelles Thema.
Simplicissimus auf Schelmenreise
Wie so oft bei Neumann entwickelte und schrieb der Regisseur auch dieses Stück erst im Probenprozess mit den Darstellern. Man ging dabei spielerisch und assoziativ zur Sache. Gemäß den Worten Schillers, die zitiert werden: "Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt." Spielen bedeutet Freiheit. Das "als ob" wird zum Programm. Perücken und Schnauzer kommen an diesem Abend bewusst dilettantisch zum Einsatz, die perfekte Maskerade erspart man sich, Travestie ist dennoch Pflicht.
In "Frey!" lässt Neumann den Schelmenroman aufleben – episodenhaft und prosaisch sind seine Texte ohnehin, es wird viel und in rasantem Tempo erzählt. Hier schickt er seine kaspernde und chaplineske Hauptfigur "Friedemann Frey, Verwaltungsangestellter einer namhaften deutschen Versicherungsgesellschaft" auf Reisen, als wär's der Simplicissimus: In der Daseinsfalle zwischen Versicherungsbüro, Durchschnittsfamilie und Kegelbahn packt Frey (Gabriele Hintermaier) eines Tages die Torschlusspanik.
Ein Traum, was sonst
Er macht sich aus dem Staub, taumelt ziellos, passiv und staunend durch die Welt wie Alice im Wunderland. Sucht die Abgeschiedenheit der Berge, lebt bei einem Einsiedler (Jens Winterstein), der sich erst durch den Tod seiner lange Jahre schwerkranken Frau befreit fühlte. Landet auf einem Kreuzfahrtschiff, wo er in die Ernährungsgewohnheiten von Wohlstandsschnepfen und in die Missbrauchsgeschichte von Jutta (Sebastian Röhrle) eingeführt wird und nebenbei noch einiges über sadomasochistische Lustbefriedigung erfährt. Trifft in New York auf den Biker Zotti (Matthias Kelle), einen Heidegger zitierenden Ex-Knacki, um dann in einem Hotel in Las Vegas an eine recht morbide Rezeptionistin (Silja Bächli) zu geraten, die ihm den Selbstmord schmackhaft machen will. Sie selbst stamme aus einer Familie, in der "der Freitod eine große Tradition" habe. "Warum soll man dieses Leben wollen", fragt sie Frey, "das einem gegeben wurde, ohne dass man es wollte, und das man sowieso längst nicht mehr selbst lebt."
Um ein Ende zu finden in der schier überbordenden Thematik, bedient sich Neumann eines alten Theatertricks: Frey erwacht, sitzt vor seinem Computer, und "vor ihm schimmern Statistiken und Tabellen". Alles nur erträumt, nichts gelebt. Der Kreis schließt sich. Die Sinnsuche kann von vorne beginnen.
Anarchische Freude an Zungenzerbrechern
In Matthias Werners Bühnenbild – unter einem weißen Gazezelt, von dessen Decke tropfenförmig sich ausbeulende weiße Säcke herunterbaumeln, aus denen leise Sand und mit ihm die Zeit rieselt – entwickeln sich witzig-absurde Szenen: Etwa wenn Frey auf dem Boden liegende Büroangestellte an ihren rosa Krawatten – Symbole der Unfreiheit – durch die Gegend schleift. Oder wenn der Sturm in den Bergen, der Frey beim Aufstieg zu schaffen macht, von den Darstellerkollegen hör- und sichtbar gemacht wird, indem sie ins Mikro pusten, ihm die Haare zerzausen und seine Krawatte zittern lassen, während sie selbst ihre Häupter in der Anzugsjacke verstecken, jetzt kopflos sind.
Gegenüber solch lustvoll komödiantischen Szenen wirkt so manch andere Episode, wenn sie im Stehtheater verharrt, blass. Lange Monologe bringen den Abend dann in die Nähe zum Hörspiel. Nichtsdestotrotz begeistert das comedyhafte Rollen-Hopping, in das sich das fünfköpfige Ensemble spielsüchtig stürzt. Es bewältigt auch recht sicher die Unmengen von Text, der mit einer anarchischen Freude an Zungenbrechern, am Absurden und am sinnfreien Klang auftrumpfen kann – wenn auch der Zwang zur Alliteration und zum Reim gelegentlich die Grenze des Erträglichen überschreitet, etwa als Frey sinniert: "Wann hab ich denn zuletzt gewichst? Das ist ja nun auch schon was her. Ich weiß gar nicht mehr. Wann hab ich gewichst ohne Witz! Ich mach öfter Witze, als dass ich wichse. Und auch noch schlechte."
Rezension für nachtkritik.de. Premiere war am 17.12.2011.
eduarda - 19. Dez, 10:03