Kommerz und Krötenwanderung
Erste Folge der Theaternovela "Praxis Löwentorbogen" am Stuttgarter Staatstheater
Stuttgart – Am Programmzettel heftet ein Tempotaschentuch. Es darf geheult werden – so wie auf der Bühne: Bitterlich weinend bricht Doktor Felix Becker, Urologe aus Leidenschaft, im Sprechzimmer zusammen, nachdem seine werte Gattin gedroht hat, ihn zu verlassen. Sie erträgt die Zweizimmerwohnung nicht mehr, in der das Paar mit den vier Kindern leben muss. Die zierliche, kräftig keifende Gundula (Maya Maria Drücker) haut ihrem Felix (Alexander Zieschank) derart eins vor den Latz, dass der auf den Stuhl donnert und mit ihm nach hinten wegkippt. Entweder kauft der Doktor die Villa auf dem Killesberg, oder Gundula packt die Koffer. Felix ist verzweifelt. Geld ist keines da. Ein Kredit wurde ihm von der Bank gerade verwehrt.
Es ist die völlige Übertreibung, die das Taschentuch bald zum ironischen Wink macht. Natürlich braucht es niemand im ausverkauften "Nord", in dem das Staatstheater jetzt mit dem Start ihrer Theaternovela "Praxis Löwentorbogen – Schicksale im freien Fall" mit einem neuen Format experimentiert: Fortsetzungstheater, das Krankenhaus-Seifenopern wie "Praxis Bülowbogen", "Schwarzwaldklinik" oder "In aller Freundschaft" auf die Schippe nimmt und mit den Bedingungen der Telenova mischt. Vier Folgen sind zunächst geplant, aufgeführt wird jede nur einmal. In Folge 1 "Mineralquelle des Todes" spielen drei Ensemblemitglieder und dreizehn Laiendarsteller. Geworben wurde mit "spektakulär niedrig dosierten Probezeiten".
Kann das gutgehen? Na klar: Der Low-Budget-Abend bietet eine gelungene, heiter-skurrile Parodie der populären TV-Soaps. Und er lebt eben auch vom Charme eines gekonnt und leidenschaftlich ausgestellten Dilettantismus. Der erhält etwa in der Figur der ökologisch inspirierten OB-Kandidatin Ricarda Schaffer, die dafür kämpfen will, dass sich "Kommerz und Krötenwanderung auf der Königstraße nicht mehr ausschließen", geradezu eine zeitkritische Komponente. Im Spiel der Laiendarstellerin Eva Konrad kann man durchaus eine Spiegelung des dilettantischen Agierens des Bundespräsidenten entdecken. Ansonsten setzt das "Drehbuch" von Regisseurin Catja Baumann – der künstlerischen Leiterin des "Nord" – und Dramaturgin Katrin Spira auf schrille Überzeichnung, absurde Dialoge und verwirrende Handlungsstränge.
In Stuttgart bricht ein fieser Virus aus, dessen Ursprung niemand kennt. Blutspuckende, fiebernde Patienten werden eingeliefert. Chefarzt Dr. Eugen Lacoste (Boris Burgstaller) ist hilflos, und der zynische Oberarzt Dr. Paul Schöller (Fridolin Y. Sandmeyer) legt lieber Schwestern flach oder drückt Assistenzärztin Mia-Maria Svensson (Vanessa Nebenführ) einen 3-Minuten-Knutscher auf den Mund, als sich um die Kranken zu kümmern. Hobbymalerin und Chefarztgattin Gräfin Victoria Wagenburg-Lacoste (Birgit Filzek) bereitet derweil ihre Vernissage im Mineralbad vor zum Thema "Vier Schanzen am Rosensee – eine Hommage an das Klima " und spannt dafür die gesamte Klinik ein, als sei's ihre private Produktionsfirma. Mit ihrem "bescheidenen Oeuvre" will sie Claude Monet "ein Denkmal setzen".
Im dreigeteilten, Film-Sets nachahmenden Bühnenbild von Daniel Unger lässt sich flugs zwischen Rezeptionsbereich, Sprechzimmer und Zweibettenraum hin- und herzappen. Kitschmusikeinspieler und Farblichtwechsel kommentieren in tv-artiger Manier emotionale und erotische Ereignisse oder leiten Werbepausen ein, die hier selbstverständlich ausschließlich für Staatstheater-Produktionen gemacht werden. Tanzeinlagen in witzigen Kostümen von Johanna Kaelcke sorgen immer wieder für Lacher. Vor allem im furios-spektakulären Finale, wenn auf der Vernissage der Gräfin die gesamte Personnage aufeinandertrifft und das Klinikpersonal unter Anleitung von Oberschwester Olga (Jutta Conrad) ein wunderbar groteskes Ballet auf Vivaldis "Winter" vollführt: mit riesigen weißen Papierblumendrappagen auf dem Kopf, sich Rosen an den Kopf hauend und skurrile Worthülsen in die Luft blubbernd. Am Ende brechen sämtliche Krankenschwestern blutspuckend zusammen. Nun muss Dr. Lacoste Stärke zeigen. Er schickt Dr. Schöller in den Urwald. Wird der arrogante Zyniker dort jene geheimnisvolle Pflanze finden, die dem grauenhaften Virus Einhalt gebieten kann? Fortsetzung folgt am Dienstag, 7. Februar, um 20 im "Nord".
Besprechung für die Eßlinger Zeitung von heute. Premiere war am 6.1.
Stuttgart – Am Programmzettel heftet ein Tempotaschentuch. Es darf geheult werden – so wie auf der Bühne: Bitterlich weinend bricht Doktor Felix Becker, Urologe aus Leidenschaft, im Sprechzimmer zusammen, nachdem seine werte Gattin gedroht hat, ihn zu verlassen. Sie erträgt die Zweizimmerwohnung nicht mehr, in der das Paar mit den vier Kindern leben muss. Die zierliche, kräftig keifende Gundula (Maya Maria Drücker) haut ihrem Felix (Alexander Zieschank) derart eins vor den Latz, dass der auf den Stuhl donnert und mit ihm nach hinten wegkippt. Entweder kauft der Doktor die Villa auf dem Killesberg, oder Gundula packt die Koffer. Felix ist verzweifelt. Geld ist keines da. Ein Kredit wurde ihm von der Bank gerade verwehrt.
Es ist die völlige Übertreibung, die das Taschentuch bald zum ironischen Wink macht. Natürlich braucht es niemand im ausverkauften "Nord", in dem das Staatstheater jetzt mit dem Start ihrer Theaternovela "Praxis Löwentorbogen – Schicksale im freien Fall" mit einem neuen Format experimentiert: Fortsetzungstheater, das Krankenhaus-Seifenopern wie "Praxis Bülowbogen", "Schwarzwaldklinik" oder "In aller Freundschaft" auf die Schippe nimmt und mit den Bedingungen der Telenova mischt. Vier Folgen sind zunächst geplant, aufgeführt wird jede nur einmal. In Folge 1 "Mineralquelle des Todes" spielen drei Ensemblemitglieder und dreizehn Laiendarsteller. Geworben wurde mit "spektakulär niedrig dosierten Probezeiten".
Kann das gutgehen? Na klar: Der Low-Budget-Abend bietet eine gelungene, heiter-skurrile Parodie der populären TV-Soaps. Und er lebt eben auch vom Charme eines gekonnt und leidenschaftlich ausgestellten Dilettantismus. Der erhält etwa in der Figur der ökologisch inspirierten OB-Kandidatin Ricarda Schaffer, die dafür kämpfen will, dass sich "Kommerz und Krötenwanderung auf der Königstraße nicht mehr ausschließen", geradezu eine zeitkritische Komponente. Im Spiel der Laiendarstellerin Eva Konrad kann man durchaus eine Spiegelung des dilettantischen Agierens des Bundespräsidenten entdecken. Ansonsten setzt das "Drehbuch" von Regisseurin Catja Baumann – der künstlerischen Leiterin des "Nord" – und Dramaturgin Katrin Spira auf schrille Überzeichnung, absurde Dialoge und verwirrende Handlungsstränge.
In Stuttgart bricht ein fieser Virus aus, dessen Ursprung niemand kennt. Blutspuckende, fiebernde Patienten werden eingeliefert. Chefarzt Dr. Eugen Lacoste (Boris Burgstaller) ist hilflos, und der zynische Oberarzt Dr. Paul Schöller (Fridolin Y. Sandmeyer) legt lieber Schwestern flach oder drückt Assistenzärztin Mia-Maria Svensson (Vanessa Nebenführ) einen 3-Minuten-Knutscher auf den Mund, als sich um die Kranken zu kümmern. Hobbymalerin und Chefarztgattin Gräfin Victoria Wagenburg-Lacoste (Birgit Filzek) bereitet derweil ihre Vernissage im Mineralbad vor zum Thema "Vier Schanzen am Rosensee – eine Hommage an das Klima " und spannt dafür die gesamte Klinik ein, als sei's ihre private Produktionsfirma. Mit ihrem "bescheidenen Oeuvre" will sie Claude Monet "ein Denkmal setzen".
Im dreigeteilten, Film-Sets nachahmenden Bühnenbild von Daniel Unger lässt sich flugs zwischen Rezeptionsbereich, Sprechzimmer und Zweibettenraum hin- und herzappen. Kitschmusikeinspieler und Farblichtwechsel kommentieren in tv-artiger Manier emotionale und erotische Ereignisse oder leiten Werbepausen ein, die hier selbstverständlich ausschließlich für Staatstheater-Produktionen gemacht werden. Tanzeinlagen in witzigen Kostümen von Johanna Kaelcke sorgen immer wieder für Lacher. Vor allem im furios-spektakulären Finale, wenn auf der Vernissage der Gräfin die gesamte Personnage aufeinandertrifft und das Klinikpersonal unter Anleitung von Oberschwester Olga (Jutta Conrad) ein wunderbar groteskes Ballet auf Vivaldis "Winter" vollführt: mit riesigen weißen Papierblumendrappagen auf dem Kopf, sich Rosen an den Kopf hauend und skurrile Worthülsen in die Luft blubbernd. Am Ende brechen sämtliche Krankenschwestern blutspuckend zusammen. Nun muss Dr. Lacoste Stärke zeigen. Er schickt Dr. Schöller in den Urwald. Wird der arrogante Zyniker dort jene geheimnisvolle Pflanze finden, die dem grauenhaften Virus Einhalt gebieten kann? Fortsetzung folgt am Dienstag, 7. Februar, um 20 im "Nord".
Besprechung für die Eßlinger Zeitung von heute. Premiere war am 6.1.
eduarda - 9. Jan, 12:49