Mittwoch, 18. Januar 2012

Die Hölle auf Erden

Christian Brey inszeniert Nicky Silvers "Die Altruisten" am Stuttgarter Staatsschauspiel

Claudius von Stolzmann als Casanova Ethan (Foto: Sonja Rothweiler, Quelle: www.staatstheater-stuttgart.de)

Stuttgart – Drei Schüsse feuert Sydney auf ihr Liebeslager ab. Die Daunendecke spuckt Gänsefedern. Sydney hat sich in ihrer zehnminütigen Gardinenpredigt, mit der sie ihren Geliebten Ethan bombardiert, derart in Rage und Selbstmitleid gebrüllt, dass ein theatralischer Schlusspunkt gar nicht ausbleiben kann. Solcherart Auftritte beherrscht sie perfekt. Schließlich ist sie ein TV-Seifenopern-Star. Dass sie bald erkennen muss, dass der Tote unter der Bettdecke gar nicht Ethan ist, sondern irgendein Typ, der vom nächtlichen Besäufnis in ihrem schicken Loft übriggeblieben ist, entlockt ihr gerade mal ein lakonisches "Shit!". Dumm gelaufen: Drei Schüsse lassen sich nicht mehr als Selbstmord kaschieren. Grandios spielt Minna Wündrich diese tumbe, selbstverliebte, ignorante Nervensäge.

Egomanisch ohne Scham

In Christian Breys Staatstheater-Inszenierung der schwarzhumorigen Komödie "Die Altruisten", die jetzt im Stuttgarter Kammertheater in einer Übersetzung von René Pollesch Premiere hatte, laufen die Protagonisten bei allem Klamauk durch die Welt wie offene Rasiermesser. Natürlich ist der Titel des Stücks des US-amerikanischen Bühnenautors Nicky Silver ironisch gemeint. Niemand der fünf Personen auf der Bühne kümmert sich selbstlos um andere. In ihrem nur dem Moment geschuldeten Gebaren frönen sie offen und ohne Scham egomanisch ausschließlich den eigenen Bedürfnissen. So Sydneys Bruder, der Sozialarbeiter Ronald (gefährlich verständnisvoll: Benjamin Grüter), der sich den süßen Callboy Lance mit nach Hause nimmt, ihm geil die Liebe und wortreich eine rosige Zukunft verspricht. Genauso die lesbische Aktivistin Cybil (schön aufgedreht: Dorothea Arnold), die ein derart mieses Gedächtnis hat, dass sie weder weiß, wogegen sie an diesem Tag demonstrieren will, noch dass sie mit Männern, die sie alle für "patriarchalische Borderline-Muschis" hält, eigentlich gar nicht ins Bett geht. So kriegt Ethan (sehr athletisch: Claudius von Stolzmann), der sich mit Sydneys Geld sein Casanovatum finanziert, von seiner vermeintlichen Ermordung gar nichts mit, weil er unter der Bettdecke Cybils nächtigte. Und der Stricher Lance (sympathisch und sexy: Jan Jaroszek) lässt sich selbstverständlich jede Minute von Ronald bezahlen. Er arbeite aber auf keinen Fall montags oder an Feiertagen.

"Die Altruisten" schrieb Nicky Silver 1998. Sie spielen also im New York der Zeit vor Nine-Eleven, als das Schlagwort Spaßgesellschaft aufkam, um die herrschende Lebenseinstellungsmixtur aus Hedonismus, Konsumgeilheit und fehlendem gesellschaftlichen Engagement zu kritisieren. Aufs Korn nimmt Silver hier die Mittdreißiger, die verzogenen Mittelsstandsprösslinge, deren Lebensrhythmus von Sex und Drugs bestimmt wird. Die Demonstrationskultur ist Zeitvertreib, befeuert von einer "Ich bin gegen alles"-Mentalität. Cybil, Ronald und Ethan treffen sich regelmäßig im Park, um an Demos teilzunehmen: "Fick den Yuppie-Abschaum und ihre französische Küche und Grundstückspreise und den Geburtenrückgang und die Kinoeintrittspreise und Starbucks!", schreit Cybil aggressiv und vergisst beim "Befreit Nelson Mandela"-Skandieren, dass der Mann längs Präsident Südafrikas gewesen ist.

Die Patina, die "Die Altruisten" gerade angesichts der wutbürgerlichen Stuttgart-21-Proteste und der Occupy-Bewegung angesetzt hat, treibt Christian Brey ihnen wieder aus. Durch Tempo, Slapsticks, Überspitzung und hervorragende Darsteller. Brey ließ sich vom Comedy-Boom der 90er Jahre inspirieren, vom Soap-Diva-Dasein Sydneys und von der scharfen Schnitttechnik des Stücks. Die Protagonisten agieren unter Hochdruck, verbraten ungeheuer textsicher Unmengen an Wortmaterial, setzen die Pointen perfekt, schmeißen sich rücklings in die Tiefe, hüpfen und tanzen durchs Publikum.

Das Bühnenbild von Anette Hachmann gibt den Blick frei auf drei chillige Lofts, zwischen denen hin und her gezappt wird. Im Zentrum eine rote Leuchtreklame, die im Laufe des Abends Buchstaben verliert und so vom "Hello there" zum "Hell here" mutiert. Drumherum ein graziles, hohes Holzgerüst, hinter dem sich ein Prospekt mit allerlei amerikanischen Symbolen in die Höhe räkelt: Gozilla, Wolkenkratzer und Freiheitsstatue.

Der Mensch hat per se keine Moral. Das ist die traurige Botschaft des Stücks. Denn das dicke Ende kommt: Das herzlose Quartett opfert den jungen Stricher, lockt ihn in Sydneys Appartement, wo Leiche und Waffe warten, und meldet der Polizei einen Einbrecher. Später geht man auf die Antitodesstrafen-Demo: Ein junger Mann wurde wegen Mordes unschuldig zum Tode verurteilt. "Morgen werden sie seinen süßen Arsch grillen", witzelt Sydney, und Ronald sucht sich einen neuen Lover.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 17. Januar 2012. Premiere war am 14.1.

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