Montag, 16. April 2012

Die Lebensgier einsamer Menschen

Nina Mattenklotz inszeniert Horváths „Kasimir und Karoline“ am Stuttgarter Staatsschauspiel


Komische Naturen: (v. l.) Eléna Weiß (Maria), Fridolin Y. Sandmeyer (Elli), Dorothea Arnold (Karoline) und Benjamin Grüter (Schürzinger) in „Kasimir und Karoline“. (Foto: Gläsker/Staatstheater)

Stuttgart – "Abgebaut" sei er, sagt Kasimir, "abgebaut": Eine Vokabel für den Verlust der Arbeit, die man, als die soziale Marktwirtschaft noch funktionierte, in Spezialwörterbüchern nachschauen musste, wenn man Horváth-Stücke las. Heute, da das "Soziale" der Marktwirtschaft verblasst ist, weiß jeder, was das bedeutet, "abgebaut" zu sein. Der "Abbau" hängt wie ein Damoklesschwert über unserer Arbeitswelt, es kann so gut wie jeden treffen. Insofern ist Kasimir einer von uns, obwohl er die Hauptperson eines Stückes ist, das 1932, während der Weltwirtschaftskrise und kurz vor Beginn der NS-Barbarei, uraufgeführt wurde.

Ödön von Horváths "Kasimir und Karoline" ist auch sonst ein genial zeitloses Stück, weil es die Schwierigkeit des Menschen, sich durch Worte wirklich verständlich zu machen und dadurch Nähe zum anderen zu schaffen, so genau auf den Punkt bringt, dass es einem beständig kalt den Rücken hinunterläuft. Wie auch immer sich sein Bühnenpersonal syntaktisch verrenkt, mit den Fremdwörtern ringt und Pseudoweisheiten von sich gibt: Am Ende steht die Einsamkeit, denn der Selbstschutz im Panzer geliehener Worte führt stets zum Scheitern aller Kommunikation.

Brodelnde Stille

Von daher ging Nina Mattenklotz in ihrer Inszenierung, die jetzt in der kleinen Spielstätte Nord des Stuttgarter Staatstheaters Premiere hatte, einen geerdeten Weg, wenn sie sich bei ihrer Arbeit auf die besonderen sprachlichen Qualitäten des Stücks konzentrierte. Äußerlich betrachtet ist ihre Inszenierung unspektakulär. Die Kostüme von Lena Hiebel sind heutig, das Bühnenbild von Silke Rudolph erinnert an ein Varietétheater: Vorhänge im Hintergrund dienen den Figuren zum Auf- und Abtauchen, kleine Glühlämpchen fügen sich zu dekorativen Formen, überdimensional große bunte Kugeln baumeln von der Decke wie Weihnachtsbaumschmuck. Die kleine Drehbühne schafft äußere Bewegung, wo innere Starre herrscht. Die von Horváth geforderten Volksmusikeinlagen werden mit Technobeats unterlegt oder elektronisch verfremdet (Musik: Tobias Gronau). Der Text bleibt weitgehend unberührt, hier und da wurden nur kleine Kürzungen vorgenommen.

Alles unspektakulär, denkt man zunächst. Aber im Innern brodelt es gewaltig. Denn Nina Mattenklotz hat sehr genau in die explosive Horváthsche "Stille" hineingehört, die als Regieanweisung die Dialoge durchatmet und einen beständig das Gruseln lehrt: "Tut es dir leid?", fragt Erna, nachdem ihr Franz ein Bier ins Gesicht geschüttet hat. Es folgt "Stille". "Nein", sagt Franz. Woraus Erna später folgert: "Der Merkl hat doch eine komische Natur. Zuerst bringt er einen um, und dann tut es ihm leid."

Eisige Körperstarre

Mattenklotz hat "Kasimir und Karoline" als einen räumlich fein auf Nähe und Distanz hin choreographierten, in den Charakteren scharf gezeichneten Reigen einsamer Menschen inszeniert, der ganz vom Ensemblespiel lebt. Vereinzelte, die auf dem Münchner Oktoberfest aufeinandertreffen und umeinander herschleichen: Im Mittelpunkt die lebensgierige Karoline, die keine Lust mehr hat auf ihren schlecht gelaunten Verlobten Kasimir und lieber mit anderen Männern schäkert: mit dem taffen Kleider-Zuschneider Schürzinger und zwei alten geilen, grantelnden Böcken, dem Kommerzienrat Rauch und Landgerichtsdirektor Speer (herrlich: Boris Burgstaller und Rainer Philippi). Und dann sind da noch Erna und ihr Freund, der Ganove Merkl Franz, der beständig Kasimir auf den Leib rückt. Außerdem Elli und Maria (Fridolin Y. Sandmeyer und Eléna Weiß), die hier zu seltsamen Zwittern aus Zirkuspersonal und Prostituierten mutieren. Und nicht zuletzt das melancholische Gorillamädchen Juanita (Gabriele Hintermaier).

Sie ist stimmig, die eisige Körperstarre, in der Florian von Manteuffel als Kasimir verharrt, wenn er sich nicht gerade prügelt oder den Riesenhammer auf den Lukas haut. Sie drückt seine ganze stumme Verzweiflung und Hilflosigkeit angesichts seiner desolaten Situation aus. Dagegen scheint die Büroangestellte Karoline (Dorothea Arnold) vor von außen nicht steuerbarer Lebenslust fast zu zerplatzen: exaltiert, frech, berechnend. Ungewöhnlich legt Mattenklotz vor allem den Schürzinger aus: Der Karoline-Verehrer ist kein verklemmter Spießer, sondern Benjamin Grüter spielt ihn als einen starken, charismatischen Typen. Ein Ästhet zwar, doch sein Asketentum entpuppt sich am Ende als trockengelegter Alkoholismus: Plötzlich lässt er sich gierig eine halbe Flasche Schnaps in den Rachen fließen. Das ist keiner, der von Natur aus abstinent ist.

Verstörtheit und Empathie

Speisereste spuckt der prollige Merkl Franz, wenn er mal ausnahmsweise nur brüllt, statt handgreiflich zu werden. Erst quetscht er mit zwei Fingern seiner Freundin die Nase ein, dann ruft er ihr kindlich "Erna, guck mal!" zu und startet eine dilettantische Breakdance-Performance, bis er hechelnd-hustend zusammenbricht. Christian Schmidt setzt diesen ambivalenten Charakter, dessen draufgängerische Kommunikation immer auf eine Prügelei zielt, mit einem gehörigen Maß an polternder Übertreibung in Szene. Umso stärker, weil still und zerbrechlich, wirkt die phänomenale Sarah Sophia Meyer als Erna, die fein zwischen Verstörtheit, Schüchternheit, Empathie zu differenzieren weiß.

Horváth lässt am Ende Schürzinger mit Karoline verschwinden, Mattenklotz nicht. Dafür rücken Erna und Kasimir bei ihr ein bisschen enger zusammen. Ein kleiner Hoffnungsschimmer in diesem traurigen Stück? "Solange wir uns nicht aufhängen, werden wir nicht verhungern", sagt Erna und singt das Lied von den blühenden Rosen.

Besprechung für www.nachtkritik.de und die Eßlinger Zeitung vom 16. April 2012. Premiere war am 13. April.

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