Im Glaskasten des eiskalten Engels
Nuran David Calis kreuzt in Stuttgart Heiner Müllers Revolutionsdrama "Der Auftrag" mit Mathias Énards Roman "Zone"

Stuttgart - "Man versteht überhaupt nichts mehr. Diejenigen, die gegeneinander kämpfen müssten, kämpfen nicht mehr. Niemand weiß, an wen die Stadt fällt", sagt Habib. "Schatila 1982" heißt die Szene, in die gerade "hineingezappt" wurde. Schatila: das palästinensische Flüchtlingslager in Beirut, wo eines der vielen furchtbaren Massaker stattfand, die an diesem Abend thematisiert werden. Und wie Habib, der nichts mehr versteht, ging es wohl vielen Zuschauern bei der gestrigen Premiere im Schauspielhaus des Staatstheaters Stuttgart, wo eine Bühnenadaption von Mathias Énards Roman "Zone" zur Aufführung kam.
Dabei wäre doch eigentlich alles so einfach, wenn man es so sehen würde wie Francis Mirkovic, die Hauptperson des Abends, die am Ende konstatiert: "Alles hängt zusammen" – ob Napoleonische Kriege, Nazi-Gräuel oder Balkankriege. Egal wo man hinschaut in der Geschichte der "Zone", mit der Énard den Mittelmeerraum meint: Überall aufgeschlitzte Neugeborene, vergewaltigte Frauen und verbrannte Männer, gespaltene Schädel und abgeschlagene Hände. Und alles ist am Ende irgendwie dasselbe und der Zuschauer erledigt: vom theatralen Bombardement mit ständig wechselnden Kriegsschauplätzen, Wortkaskaden, unzusammenhängenden Episoden und Ereignissen.
Die Selbstvergewisserung des Kriegsverbrechers
Regisseur Nuran David Calis hat den 2008 erschienenen französischen Roman zusammen mit der Dramaturgin Beate Seidel für die Bühne eingerichtet. Es muss eine Heidenarbeit gewesen sein, aus diesem Textmonument theatertaugliche Szenen für zwei Stunden herauszukristallisieren. Hut ab! Aber sind diese 600 Seiten Suada, diese im Bewusstseinsstrom mäandernden Lebenserinnerungen des Ex-Soldaten und Geheimdienstlers Francis Mirkovic, wirklich als Stoff fürs Theater geeignet?
Um das Textmonstrum zu bändigen hat man sich eine Hilfskonstruktion ausgedacht: Mirkovic wird als Kriegsverbrecher angeklagt. Der Prozess stellt sich mit der Zeit aber als eine Kopfgeburt des Protagonisten heraus – zwecks Selbstvergewisserung seiner Vergangenheit. Er sitzt im schusssicheren Glaskasten und muss – freilich mit Unterstützung zweier Anwälte – Rede und Antwort stehen. Ins Gerichtsszenarium hinein drängen weitere Erinnerungen: per Video zugespielt oder live. Chetniks stürmen die Bühne, israelische Soldaten, eine makabre Nazi-Party mündet in die Erschießung Gefangener – nur so zum Spaß –, Mirkovics Vater foltert im Algerienkrieg, seine Mutter gibt ein Konzert vor den Faschisten der kroatischen Ustascha.
"Irgendeiner muss sich die Hände schmutzig machen"
Dazwischen wichst, fickt, säuft, raucht Mirkovic, schubst seine Liebesgespielinnen herum. Till Wonka spielt das gut: den gewaltsüchtigen Choleriker, den einsamen eiskalten Engel und die selbstmitleidige Labertasche. "Die Feinde meiner Feinde sind meine Freunde", sagt Mirkovic, der kriegerische Jobhopper, der zunächst als seitenwechselnder Soldat im Jugoslawienkrieg das Töten lernt, dann zum Diener diverser Geheimdienste avanciert, getragen von der Einsicht, alles sei austauschbar und "Freiheit" und "Vaterland" nur Phantome. Ein Schuldiger ist er, der sich selbst – wie sollte es anders sein – als Opfer fühlt: "Irgendeiner muss sich in dieser Welt die Hände schmutzig machen, damit sich die andern moralisch entrüsten können", sagt er.
Das ausufernde, dennoch um sich selbst kreisende Mitteilungsbedürfnis auf der Bühne wird durch die Rahmenhandlung noch verkompliziert, denn dafür hat man ausgerechnet Heiner Müllers noch aus DDR-Zeiten stammenden dramatischen Revolutionsdiskurs "Der Auftrag" gewählt und auf eine halbe Stunde eingeschmolzen. Darin sollen drei Abgesandte des nachrevolutionären Frankreichs auf Jamaika einen Sklavenaufstand gegen die herrschenden Briten in Gang bringen. Der Auftrag wird aber, nachdem Napoleon in Paris die Macht übernommen hat, zurückgenommen. Wofür jetzt noch kämpfen?
Freiheit und Jamaika-Rum
"Was du heute nicht verrätst, wird dich morgen töten. Vom Standpunkt der Humanmedizin ist die Revolution eine Totgeburt", lautet das resignative Resümee Debuissons, eines der drei Revolutionäre. Calis hat aus Bruchstücken des "Auftrags" eine Art Lehrstück geformt, von dem allerdings einzig die Parodie auf Delacroix' berühmtes Bild "Die Freiheit führt das Volk" in Erinnerung bleiben wird – eine bühnenbildnerische und beleuchtungstechnische Glanzleistung: Die französischen Abgesandten frieren zum Gemälde ein: mit gezückten Waffen und wehender Frankreichfahne – vor ihnen keine Toten, sondern Jamaika-Rum-Flaschen.
Am Ende sind die Schauspieler erschöpft und das Publikum eingelullt vom Wortschwall und von der Bilderflut. Virtuos gelingt zwar das schnelle Switchen zwischen den Zeitebenen. Indes: Das Geschehen auf der Bühne lässt kalt. Es packt einen nicht. Das siebenköpfige Ensemble rackert sich ab, aber die Charaktere bleiben blass. Liegt es am Umgang des Regisseurs mit dem Stimmmaterial? Lautes, speichelversprühendes Skandieren dominierte vor differenziertem Sprechen. Das wirkt zunächst eindringlich, aber auf Dauer gleichförmig. In die Seele schauen lassen sich die Protagonisten auf diese Weise nicht. Das wäre aber gerade im Falle des Francis Mirkovic die Rechtfertigung gewesen, ihn zur Bühnenfigur zu machen.
Besprechung für www.nachtkritik.de. Premiere war am 15. April 2012.

Stuttgart - "Man versteht überhaupt nichts mehr. Diejenigen, die gegeneinander kämpfen müssten, kämpfen nicht mehr. Niemand weiß, an wen die Stadt fällt", sagt Habib. "Schatila 1982" heißt die Szene, in die gerade "hineingezappt" wurde. Schatila: das palästinensische Flüchtlingslager in Beirut, wo eines der vielen furchtbaren Massaker stattfand, die an diesem Abend thematisiert werden. Und wie Habib, der nichts mehr versteht, ging es wohl vielen Zuschauern bei der gestrigen Premiere im Schauspielhaus des Staatstheaters Stuttgart, wo eine Bühnenadaption von Mathias Énards Roman "Zone" zur Aufführung kam.
Dabei wäre doch eigentlich alles so einfach, wenn man es so sehen würde wie Francis Mirkovic, die Hauptperson des Abends, die am Ende konstatiert: "Alles hängt zusammen" – ob Napoleonische Kriege, Nazi-Gräuel oder Balkankriege. Egal wo man hinschaut in der Geschichte der "Zone", mit der Énard den Mittelmeerraum meint: Überall aufgeschlitzte Neugeborene, vergewaltigte Frauen und verbrannte Männer, gespaltene Schädel und abgeschlagene Hände. Und alles ist am Ende irgendwie dasselbe und der Zuschauer erledigt: vom theatralen Bombardement mit ständig wechselnden Kriegsschauplätzen, Wortkaskaden, unzusammenhängenden Episoden und Ereignissen.
Die Selbstvergewisserung des Kriegsverbrechers
Regisseur Nuran David Calis hat den 2008 erschienenen französischen Roman zusammen mit der Dramaturgin Beate Seidel für die Bühne eingerichtet. Es muss eine Heidenarbeit gewesen sein, aus diesem Textmonument theatertaugliche Szenen für zwei Stunden herauszukristallisieren. Hut ab! Aber sind diese 600 Seiten Suada, diese im Bewusstseinsstrom mäandernden Lebenserinnerungen des Ex-Soldaten und Geheimdienstlers Francis Mirkovic, wirklich als Stoff fürs Theater geeignet?
Um das Textmonstrum zu bändigen hat man sich eine Hilfskonstruktion ausgedacht: Mirkovic wird als Kriegsverbrecher angeklagt. Der Prozess stellt sich mit der Zeit aber als eine Kopfgeburt des Protagonisten heraus – zwecks Selbstvergewisserung seiner Vergangenheit. Er sitzt im schusssicheren Glaskasten und muss – freilich mit Unterstützung zweier Anwälte – Rede und Antwort stehen. Ins Gerichtsszenarium hinein drängen weitere Erinnerungen: per Video zugespielt oder live. Chetniks stürmen die Bühne, israelische Soldaten, eine makabre Nazi-Party mündet in die Erschießung Gefangener – nur so zum Spaß –, Mirkovics Vater foltert im Algerienkrieg, seine Mutter gibt ein Konzert vor den Faschisten der kroatischen Ustascha.
"Irgendeiner muss sich die Hände schmutzig machen"
Dazwischen wichst, fickt, säuft, raucht Mirkovic, schubst seine Liebesgespielinnen herum. Till Wonka spielt das gut: den gewaltsüchtigen Choleriker, den einsamen eiskalten Engel und die selbstmitleidige Labertasche. "Die Feinde meiner Feinde sind meine Freunde", sagt Mirkovic, der kriegerische Jobhopper, der zunächst als seitenwechselnder Soldat im Jugoslawienkrieg das Töten lernt, dann zum Diener diverser Geheimdienste avanciert, getragen von der Einsicht, alles sei austauschbar und "Freiheit" und "Vaterland" nur Phantome. Ein Schuldiger ist er, der sich selbst – wie sollte es anders sein – als Opfer fühlt: "Irgendeiner muss sich in dieser Welt die Hände schmutzig machen, damit sich die andern moralisch entrüsten können", sagt er.
Das ausufernde, dennoch um sich selbst kreisende Mitteilungsbedürfnis auf der Bühne wird durch die Rahmenhandlung noch verkompliziert, denn dafür hat man ausgerechnet Heiner Müllers noch aus DDR-Zeiten stammenden dramatischen Revolutionsdiskurs "Der Auftrag" gewählt und auf eine halbe Stunde eingeschmolzen. Darin sollen drei Abgesandte des nachrevolutionären Frankreichs auf Jamaika einen Sklavenaufstand gegen die herrschenden Briten in Gang bringen. Der Auftrag wird aber, nachdem Napoleon in Paris die Macht übernommen hat, zurückgenommen. Wofür jetzt noch kämpfen?
Freiheit und Jamaika-Rum
"Was du heute nicht verrätst, wird dich morgen töten. Vom Standpunkt der Humanmedizin ist die Revolution eine Totgeburt", lautet das resignative Resümee Debuissons, eines der drei Revolutionäre. Calis hat aus Bruchstücken des "Auftrags" eine Art Lehrstück geformt, von dem allerdings einzig die Parodie auf Delacroix' berühmtes Bild "Die Freiheit führt das Volk" in Erinnerung bleiben wird – eine bühnenbildnerische und beleuchtungstechnische Glanzleistung: Die französischen Abgesandten frieren zum Gemälde ein: mit gezückten Waffen und wehender Frankreichfahne – vor ihnen keine Toten, sondern Jamaika-Rum-Flaschen.
Am Ende sind die Schauspieler erschöpft und das Publikum eingelullt vom Wortschwall und von der Bilderflut. Virtuos gelingt zwar das schnelle Switchen zwischen den Zeitebenen. Indes: Das Geschehen auf der Bühne lässt kalt. Es packt einen nicht. Das siebenköpfige Ensemble rackert sich ab, aber die Charaktere bleiben blass. Liegt es am Umgang des Regisseurs mit dem Stimmmaterial? Lautes, speichelversprühendes Skandieren dominierte vor differenziertem Sprechen. Das wirkt zunächst eindringlich, aber auf Dauer gleichförmig. In die Seele schauen lassen sich die Protagonisten auf diese Weise nicht. Das wäre aber gerade im Falle des Francis Mirkovic die Rechtfertigung gewesen, ihn zur Bühnenfigur zu machen.
Besprechung für www.nachtkritik.de. Premiere war am 15. April 2012.
eduarda - 17. Apr, 12:39