Mittwoch, 23. Mai 2012

Geister am See

Georg Nigls und Alexander Melnikovs großartiger Balladenabend in der Stuttgarter Staatsoper

Stuttgart - Man glaubte, das Holz im Kamin knistern zu hören und den Wind, der ums Haus jault. So sehr fühlte man sich beim jüngsten Liederabend in der Staatsoper zurückversetzt in alte Zeiten: Als man sich noch in der warmen Wohnstube grausige, genüsslich ausgeschmückte Balladen erzählte, um sich an den langen Winterabenden nicht zu Tode zu langweilen. Das Sterben überließ man da lieber den Opfern von enervierenden Erlkönigen und raffinierten Rattenfängern, von zwielichtigen Zwergen und wollüstigen Wolkenmädchen.

Väterliche Verzweiflung

Der Wiener Bariton Georg Nigl und sein kongenialer russischer Partner am Klavier, Alexander Melnikov, ließen aber auch keine Gelegenheit aus, um den romantischen Vertonungen deutscher Balladen noch eine farbliche Facette, noch einen Tonfall mehr abzugewinnen, um die Ereignisse möglichst plastisch wirken zu lassen. Gebannt folgte das Auditorium in Carl Loewes „Erlkönig“-Vertonung Nigls stimmlich differenzierender Darstellung väterlicher Verzweiflung, kindlicher Todesangst und geifernder Aufdringlichkeit des Erlkönigs.

Ob Franz Schuberts Balladen „Der Zwerg“ oder „Das Wolkenmädchen“, ob Carl Loewes „Herr Oluf“ oder „Odins Meeresritt“, ob Hugo Wolfs „Der Rattenfänger“ oder „Der Feuerreiter“ - den großen epischen Bogen der mystischen Moritaten gestaltete Nigl stets mit extrem differenzierender Dynamik, mit mephistophelischer Mimik und Körpersprache, mit Gänsehaut erzeugender Suggestionskraft. Als Spezialist für Neue Musik kennt er sich aus im Kosmos moderner, klangverfremdender Stimmtechniken, was ihm auch bei der Interpretation romantischer Balladen zugute kommt.

Reise in den Abgrund

Es geht ihm hier nicht um Schöngesang, nicht um die verinnerlichte Zurückhaltung, die für das lyrische Kunstlied so typisch ist. Extrovertiert jagt er durch Verse und Takte, wechselt vom lapidaren Erzählton ins Flüstern und Säuseln, vom zornig aufgewühlten Schmettern in schaurig schallende Grabestiefe, dünnt den Ton oft plötzlich aus, lässt ihn sich wieder aufbäumen, dann bleich verenden.

Viele Schweißperlen kostete den Künstlern dieser lange Abend. Verausgabt hatten sich am Ende beide: Auch Alexander Melnikov am Flügel. Der großartige Pianist, der als Solist bisher vor allem durch seine Schostakowitsch-Interpretationen Aufsehen erregt hat, begleitete Nigls Parforceritte und Reisen in den Abgrund mit enormer atmosphärischer Gestaltungskraft. Phänomenal, wie sich in Hugo Wolfs „Geister am Mummelsee“ der Fackelzug langsam in ein dämonisches Totengeleit und dann in einen irisierenden Geistertanz verwandelte oder wie Melnikov in Robert Schumanns „Muttertraum“ die Töne sich wundersam irreal zueinanderfinden lässt oder wie unter seinen Händen Dramatik in aufbrausendem, rauem Akkordsturm eskaliert. Ein mitreißender, spannender Abend war das - und übrigens eine Kooperation zwischen Staatsoper und Internationaler Hugo-Wolf-Akademie, die das Publikum am Ende glücklich bejubelte.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung und die Stuttgarter Nachrichten vom 22. Mai. Das Konzert fand statt am 20. Mai.

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