Dienstag, 4. September 2012

Grenzüberschreitungen mit der blauen Geige

Musikfest Stuttgart: Pavel Šporcl‘s Gipsy Band in der Stuttgarter Leonhardskirche

 
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Temporeich zwischen unterschiedlichen Kulturen unterwegs: Geiger Pavel Šporcl und Band. (Foto: Bachakademie/Schneider)

Stuttgart - „Speed“ sei das Zauberwort, wenn es darum ginge, Musik der Roma zu spielen. Damit meinte der Geiger Pavel Šporcl natürlich nicht die Droge, sondern die hohe Geschwindigkeit, mit der die Musiker zur Sache zu gehen pflegen. Dem 39-jährigen Tschechen, der normalerweise mit den gängigen Violinkonzerten in den Konzerthallen dieser Welt unterwegs ist, geht es wie vielen Geigenvirtuosen der jüngeren Generation: Ihm sind der Frack und die Konzertform zu eng geworden. Fürs Podium zu Jeans, Ohrring, Bandana und seiner blauen Geige zu greifen, reicht ihm nicht. Und so schleicht er sich gelegentlich hinein in andere Genres, in denen es lockerer und fröhlicher zugeht. Das tut er am liebsten mit seiner Pavel Šporcl‘s Gipsy Band. Und mit der erschien er jetzt beim Musikfest Stuttgart passend zum sechsten Gebot mit Hochzeitsmusik der Roma: „Du sollst nicht ehebrechen“.

Unterschiedliche Roma-Stile

Freilich widmet sich Šporcl mit seiner Band vor allem einem der vielfältigen, regional unterschiedlichen Roma-Stile dieser Welt: dem ungarischen. Und in den hineinzuswitchen, dürfte einem klassischen Geiger nicht besonders schwerfallen, ist dieser doch im 19. Jahrhundert nicht nur von Liszt, Brahms oder Sarasate inhaliert worden, wodurch er als „All‘ Ongarese“ oder „Alla Zingarese“ Eingang in alle Gattungen der bürgerlichen Musikkultur gefunden hat. Die vielen fantastischen Roma-Kapellen und -Virtuosen, die damals in den europäischen Musikmetropolen regelmäßig zu hören waren, öffneten die Ohren für neue, seufzende, exotisch-übermäßige Tonschritte und mollige Melancholie, für größere Freiheiten in der Tempogestaltung, und sie faszinierten durch ihren spielerischen Umgang mit speziel­len Spieltechniken wie Glissando und Flageolett. Sie haben dadurch das Teufelsgeigertum in nicht unerheblichem Maße beeinflusst.

Und so war auch das Publikum in der gut gefüllten Leonhardskirche ganz schnell eingenommen für die mitreißenden Rhythmen, die satten, schmachtenden Melodien, das lustige Vogelgezwitscher, mit dem Šporcl und seine vier Mitmusiker die Kirchenbänke zum Vibrieren brachten. Wobei man die vielen Roma-Traditionals schon alle irgendwo mal gehört hat, ob im Radio oder auf Europas Straße, und Brahms‘ ersten Ungarischen Tanz sowieso. Am Ende fühlte sich das Auditorium nach all den wilden, immer schneller werdenden Tänzen, die beim Csárdás stets den getragenen, traurigen Gesängen folgen, sogar zu Standing ovations hingerissen.

Ganz stilecht war der Abend dabei allerdings nicht. Anstatt zum Akkordeon zu greifen, saß Mitmusiker Jan Rigo jun. am Konzertflügel. Und eine derartige Fixierung auf nur einen Solisten dürfte in Gipsy-Bands eher unüblich sein. Schade, dass der Kirchenhall für einen ziemlichen Klangmatsch sorgte, worunter vor allem das virtuose, rasend schnelle Cymbalom-Spiel von Toma Vontszemu zu leiden hatte. Und bedauerlich, dass so wenig vom rumänischen Roma-Stil zu hören war, den Šporcls Mitmusiker offenbar perfekt beherrschen, der aber hiesigen Ohren nicht so vertraut ist: Jener der Hora, in der ein feinmaschiger, vorwärtsdrängender Rhythmusteppich als Grundlage dient für die äußerst feinziselierte Verzierungstechnik aller beteiligter Virtuosen: faszinierend und noch viel wilder und schneller als der Csárdás.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 4. September. Das Konzert fand statt am 1. September.

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