Samstag, 22. September 2012

Was Mahlers Welt im Innersten zusammenhält

Stéphane Denève und das Radio-Sinfonieorchester begeistern mit der Transzendenz und Drastik der „Auferstehungssinfonie“

Stuttgart - Man kann sich den Themen Lebenssinn und Tod und den etwaigen Dingen danach sicherlich mit weniger Aufwand nähern, als es Gustav Mahler in seiner Zweiten Sinfonie, der so genannten Auferstehungssinfonie, tat: Zahlreiche Aushilfsmusiker waren dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart (RSO) bei seinem Saison-Eröffnungskonzert im Beethovensaal der Liederhalle zur Seite gesprungen. Zwecks Unterstützung des SWR-Vokalensembles war der NDR-Chor aus Hamburg angereist, und als Gesangssolistinnen hatte man Lioba Braun und Juliane Banse eingeladen.

Aber dank Mahlers drastisch und plastisch formulierender Musiksprache gibt es wohl kaum ein anderes sinfonisches Werk, das zu jenen Themen derart viel zu sagen in der Lage ist. Dabei zwingt die suggestive Kraft seines musikalischen Ausdrucksvermögens die Zuhörer geradezu, die Perspektive des Komponisten, dem in diesem Werk gerne „Gottessuche“ unterstellt wird, einzunehmen. Mahler reißt die Blicke in die Abgründe und in die Höhen, setzt das Publikum quasi-religiösen Erfahrungen aus, noch lange bevor sich der konkrete sinfonische Inhalt - die Überwindung des Todes - erschlossen hat.

Voraussetzung für solcherlei Ästhetik der Überwältigung und Erschütterung ist freilich, dass es gelingt, die Welt, die Mahler in diesem Klangmonument mit allen erdenklichen musikalischen Mitteln über 90 Minuten aufbaut, wirklich zusammenzuhalten. Dem RSO-Chefdirigenten Stéphane Denève und allen beteiligten Musikern und Musikerinnen ist dieses Kunststück auf beeindruckende Weise gelungen. Längen wurden an keiner Stelle spürbar. Der Spannungsbogen blieb straff - dank Denèves exzellenter Zeit- und Tempo-Dramaturgie. Keine Selbstverständlichkeit in einem Werk, das des Öfteren beinahe zum Erlöschen kommt, in schwebende Zustände gleitet, dann wieder auffährt, ins Stocken gerät, transzendent verglimmend in verträumten Idyllen verharrt, in die dann durch Märsche in Gang gebrachte Katastrophen einbrechen, um sich am Ende ins orgelverstärkte Apotheose-Getöse zu stürzen.

Das RSO verlieh Mahlers vielschichtiger Klangwelt in ihrer ständigen Bedrohung und Ambivalenz Gestalt durch rhythmische Präzision, dynamische Feinstarbeit, äußerste Transparenz, melodische Verve. Denève setzte strukturell auf Klangfarbenkontraste und -schattierungen, auf unterschiedliche Wärme- und Kältegrade, die auch in den zeitgedehnten Phasen den Stillstand verhinderten. Selbst der erste Einsatz des gut disponierten Chores wirkte weniger als Klang denn als neue Farbe, und die irreale Ländler-Seligkeit des Tanzsatzes erhielt auf diese Weise ihr jenseitiges Gewand. Und nicht nur der „Urlicht“-Einsatz der stimmfarblich sich perfekt einfügenden Mezzosopranistin Lioba Braun, nicht nur Juliane Banses über den Chorstimmen schwebendes Sopransolo oder das den Klangraum erweiternde Fernorchester aus Blechbläsern und Schlagwerk sorgte an diesem Abend für Momente, in denen etwas mitschwang, was man nicht wirklich benennen kann.

Nur ein kleiner Wermutstropfen sei erwähnt: Die Fünf-Minuten-Pause, die Mahler in der Partitur nach dem ersten Satz einfordert, nutzte Denève zur Entspannung, stieg vom Podest herunter und wechselte mit dem ersten Geigenpult ein paar Worte - wodurch sich das Publikum zu ähnlichem animiert fühlte. Doch das hat Mahler sicher nicht gemeint. Nach der „Totenfeier“, die der Kopfsatz darstellt, muss die Totenstille, das Gedenken, folgen. Oder man verzichtet besser auf die Unterbrechung.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 22. September. Das Konzert fand statt am 20. September.

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