Montag, 5. November 2012

Jolantas Welt

Anna Netrebko erweist sich bei der konzertanten Aufführung von Peter Tschaikowskys „Jolanta“ in der Liederhalle als ideale Titelheldin

Stuttgart - Tragisch, tragisch: Prinzessin Jolanta ist blind, weiß aber nichts davon. Ihr Vater, der König, hat seinen Hofstaat in dieser prekären Angelegenheit zum Schweigen verurteilt. So lebt Jolanta dahin in ihrer farb- und formlosen Welt, bis ein junger Herzog auftaucht, dessen Stimme sie aus ihrem mentalen Dornröschenschlaf erweckt. Ein Arzt macht sie sehend, es kann geheiratet werden.

Peter Tschaikowskys späte, hierzulande kaum bekannte Märchenoper „Jolanta“ ist offenbar Anna Netrebkos Herzensangelegenheit. Unbedingt will sie den Einakter bekannter machen. Sie hat die blinde Schöne 2009 in Baden-Baden gespielt und 2011 in Salzburg konzertant gesungen. Derzeit ist der Weltstar mit „Jolanta“, Orchester, Chor und Gesangsensemble auf einer Elf-Städte-Tour und hat nun in Stuttgart im nicht ganz ausverkauften Beethovensaal der Liederhalle Station gemacht.

Fein gemischte Gefühlspalette

Sieht man in der Blindheit der Prinzessin weniger eine körperliche Versehrtheit als vielmehr einen psychischen Zustand als Folge eines Traumas, so ist die Geschichte gar nicht so hanebüchen, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Und tatsächlich gelingt es Netrebko gerade durch ihr dunkles, mezzosopranes Timbre, die Finsternis und die Einsamkeit, in denen der König seine Tochter verharren lässt, fühlbar zu machen. Ihre warme, höhensichere Sopranstimme verkündet tief Empfundenes, Netrebko gestaltet ihre Partie sehr sorgfältig, mit fein schattierter Gefühlspalette: Bedrängnis, Angst, Unsicherheit, Desorientierung hört man ebenso heraus wie den emotionalen Durchbruch zur Liebe und die freudige Befreiung aus der Blindheit: Wenn Jolanta erstmals das Licht dieser Welt sieht, strahlt Netrebkos Stimme golden wie die Sonne. Das ist großes Ohrenkino. Man fühlt auch, dass sie es genießt, in ihrer Muttersprache zu singen. Sie artikuliert so genüsslich, so schön, dass man versteht, was sie singt, auch wenn man des Russischen nicht mächtig ist.

Unfreiwillige Komik

Für eine konzertante Aufführung, wie sie sich in der Liederhalle bot, ist Netrebko daher eine Idealbesetzung. Nur blieb man in der Darbietungsform leider etwas unentschieden. Die Solisten durften sich vor dem Orchester frei bewegen, was einerseits dynamischer wirkte als das oft übliche oratoriumsartige Nebeneinanderstehen. Andererseits führte diese Freiheit zu allerlei unfreiwilliger Komik, die der Glaubwürdigkeit des Stoffs mehr schadete als nutzte. Vor allem die männlichen Kollegen fielen auf durch exzessive Rampengestik à la Hand ans Herz und allzu arg verzweifelte Mienen. Im Falle Luka Debevec Mayer als Bertram, Pförtner des Schlosses, wirkten seltsam verdrehte und verkrampfte Posen gar so, als habe er einen Stock verschluckt. Und Anna Netrebkos auf blind getrimmte Gangart mit nach vorne gestreckten Armen erinnerte eher an eine verirrte Nachtwandlerin - und warum nur warf Jolanta mit roten und weißen Rosen um sich, während sie ihren Gästen den Wein pantomimisch anbot? Aus der szenischen Präsentation hätte man mit sehr wenigen Mitteln einiges mehr machen können.

Was die stimmliche Überzeugungskraft der neun Solo-Kollegen und -Kolleginnen betraf, in deren Gemeinschaft sich Netrebko offenbar pudelwohl fühlte, erfreute vor allem die tiefe, warme, weittragende, dynamisch fein differenzierende Bassstimme von Vitalij Kowaljow als König, der neben Netrebko der einzige war, der seine Partie wirklich unverwechselbar gestaltete. Dass Bariton Lucas Meachem als Herzog Robert in seiner Arie seine geliebte Mathilde anbetet, machte dagegen erst der Blick in die Libretto-Übersetzung deutlich. Es hätte auch ein knuspriger Schweinebraten sein können, von dem er singt. Und Tenor Sergey Skorokhodov als Jolanta-Geliebter Graf Vaudemont verfügt zwar über ein stimmmächtiges Organ und eine gute Höhe, aber eine Blinde hätte sich von einem derart draufgängerischen Schmetterton, den er mitsamt übertriebenem Herzschmerz allzu häufig an den Tag legte und dabei stets puterrot anlief, eigentlich ziemlich eingeschüchtert fühlen müssen.

Etwas matter Seelenspiegel

Unter den Frauen konnte sich vor allem Monika Bohinec als Martha mit sonorer Mezzosopranstimme profilieren. Während der Slowenische Kammerchor seiner Rolle alles in allem gerecht wurde, wirkte das Orchester der Slowenischen Philharmonie in der Leitung Emmanuel Villaumes farblich etwas blass und er- füllte seine Funktion als Seelenspiegel der Singenden zu wenig, zeigte aber immer wieder, dass es wirklich leise spielen kann.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung und die Stuttgarter Nachrichten vom 5.11.2012. Das Konzert fand statt am 3.11.

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