Dienstag, 20. November 2012

Grenzenlose Fantasie

Das Orchestre de Chambre des Champs-Elysées im Stuttgarter Beethovensaal

Stuttgart - Der italienische Violinist Giuliano Carmignola springt auf die Bühne des Beethovensaals der Stuttgarter Liederhalle und schäkert erst einmal mit seinen Mitmusikern vom Orchestre des Champs-Elysées. Er entspricht so gar nicht dem Klischee des überlegenen, ernsten Geigenvirtuosen. Er hat ein Notenpult vor sich aufgestellt, das er zunächst einmal durch zeitaufwendige Orientierung im Raum in die richtige Position bringt - immer mit einem charmanten Lächeln auf den Lippen.

Seinen Blumenstrauß schenkt er am Ende einer Dame in der ersten Zuschauerreihe. Eine Zugabe will er nicht geben. Beinahe peinlich scheint ihm der Applaus zu sein, und immer wieder reißt er den sich sträubenden musikalischen Leiter des Abends, Alessandro Moccia, ins Zentrum der Bühne, damit der sich beklatschen lasse.

Aber auch was sein Spiel angeht, wirkt der große, schlanke und schöne Mann ausgesprochen unkonventionell: Seine Hand greift den Bogen sehr weit weg vom Frosch, vom Bogenende also - noch weiter, als es Barockexperten oft tun, zu denen er gezählt wird. Der Klang wird dadurch kräftiger, Doppelgriffe erhalten eine fast folkloristische Einrauung. Wunderschönen Kantilenen steht das aber auch nicht im Weg.

Risikofreude statt letzter Perfektion

Den beiden Violinkonzerten in C-Dur und A-Dur des jungen Haydn, die noch dem barocken Prinzip des italienischen Concertos und seinem enger verwobenen kommunikativen Miteinander verpflichtet sind, tut das gut: Nicht mit Schönklang und letzter Perfektion spielt Giuliano Carmignola sich an diesem Abend in die Herzen der Zuhörer, sondern mit einer Risikofreudigkeit, die gewisse Störgeräusche und Intonationseintrübungen mit sich bringen kann, und vor allem mit einem gehörigen Maß an exotischen Farben: So klingt seine Geige gelegentlich gar wie eine Klarinette im hohen Register. Auf seine Marotte, vor dem Einsatz in der hohen Lage den Ton leise mit dem kleinen Finger anzuzupfen, wohl um die Intonation noch einmal zu überprüfen, sollte er aber lieber verzichten. Das ist sehr deutlich zu hören und stört, vor allem in den verinnerlichten Adagio-Sätzen. Aber die klangliche Variationsfähigkeit, auch was den sparsamen Einsatz des Vibratos angeht, und die grenzenlose Fantasie im Formen der Phrasen und Farben machen den Abend zu einem echten Ereignis und Haydns auf den ersten Blick so unspektakuläre Solo-Konzerte zu konzertanten Leckerbissen, denen man wünscht, dass sie häufiger zu hören sind.

Rhythmische Finessen

Mit dem Orchestre des Champs-Elysées, das sich der historischen Aufführungspraxis von Werken von Haydn bis Mahler widmet, traf Carmignola auf Geschwister im musikalischen Geiste. Die Franzosen, die an diesem Abend in ihrer Kammerorchesterbesetzung auftraten, leitete Alessandro Moccia mit enorm schwungvollem Bogenstrich vom Konzertmeisterpult aus. Ob Haydns Violinkonzerte, seine zuvor gespielte „Trauersinfonie“ oder die am Ende intonierte „Linzer Sinfonie“ von Mozart - ob explosives Allegro, inniges Adagio, rational-lichtes Menuett oder vor kompositorischen Finessen nur so strotzendes Finale: Der agile, transparente Zusammenklang, die lebendige Kommunikation und Formung der musikalischen Gedanken, die Genauigkeit und Klangfantasie, mit denen die Franzosen ans Werk gehen, führen zu jenem Klangbild, das Voraussetzung ist, um gerade die Qualitäten der Haydn-Werke zu offenbaren: von den feinsinnig durchgearbeiteten Strukturen, in der jede auch noch so kleine Stimme ihren Eigenwert hat, bis zu den metrisch-rhythmischen Finessen. Von diesem hoch lebendigen und erfrischenden Abend zeigte sich das Publikum in der Liederhalle am Ende begeistert.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 19.11.2012. Das Konzert fand statt am 17.11.

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