Dienstag, 22. Januar 2013

Genial genitaler Aufklärungscalypso

Wolf und Pamela Biermann mit ihrem Liederabend „Ach, die erste Liebe ...“ im Esslinger Schauspielhaus

Was hat's nun auf sich mit der ersten Liebe? Wolf und Pamela Biermann gehen in ihrem fast gleichnamigen Liederabend der schönsten Hauptsache der Welt auf den Grund. (Fotoquelle: WLB Esslingen)

Esslingen - „Sie hören ja schon den wilden Westen“, bemerkt Pamela Biermann schmunzelnd. Wild ist das in der Tat, was ihr Gatte Wolf da gerade auf seiner völlig verstimmten Gitarre anstellt. Die amerikanische „Ballade vom Spieler und seiner Zuckerpuppe“ steht auf dem Programm, die tragisch endet, weil die Zuckerpuppe die Kugel trifft, die eigentlich den Falschspieler über den Jordan bringen sollte. Eines der vielen kleinen, skurrilen, ernsten, fröhlichen, traurigen, witzigen, albernen Liebeslieder aus mehreren Jahrhunderten, die der Dichter Wolf Biermann aus anderen Sprachen ins Deutsche übersetzt hat und jetzt zusammen mit seiner Ehefrau dem Publikum im ausverkauften Esslinger Schauspielhaus in einem Zweistundenprogramm ohne Pause um die Ohren haut. 22 Lieder, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.

Schräg, rau, scheppernd

Man muss sich allerdings erst noch gewöhnen an die schräge, raue, scheppernde Gitarre Biermanns, an sein mal gewolltes, mal unabsichtliches Sehnsuchtskrächzen und an die zu Beginn noch etwas schüttere, flatternde Stimme Pamelas, die des öfteren vom grummelnden, schreienden und quietschenden Duettpartner übertönt wird. Biermann ist ein Liedermacher, der die Musik immer schon vor allem als Vehikel für seine Texte nutzte. Wie es am Ende klingt, scheint ihm relativ egal zu sein. Hauptsache, die Botschaft kommt rüber. Aber von Lied zu Lied gewinnt der Abend auch musikalisch. Pamela Biermann, in rotem Kleid und Chansonettenpose, singt sich frei, die verstimmte Gitarre beweist ihre sentimentalitätsverhindernden Qualitäten, und der 76-jährige Mann, der sie spielt, verzaubert die Ohren mehr und mehr durch gedeutete Worte. Biermann ist ein Poet und Wortakrobat. Diese Fähigkeit lässt er an diesem Abend fast ausschließlich Traditionals und Kompositionen von Kollegen angedeihen, deren Texte er „treu oder untreu“ übersetzt hat. „Ich darf das“, sagt er, und singt mit Pamela nach Georges Brassens von „Geilen Spießern“ oder nach Mordechaj Gebirtig vom „Kleinen Abraham“, dem „Elitelump mit den schnellsten krummen Fingern“.

„Fliegen mit fremden Federn“ nennt er das. „Von den Menschen“ ist da eine Ausnahme, das komponierte Biermann selbst - frei nach Worten des Aufklärers Alexander Pope: „Krieg raus, wer du bist! Und schnüffel nicht Gott hinterher!“

Selbstverständlich zieht es Biermann auch in Sachen Liebe gelegentlich zu politischen Inhalten. Das Titellied des Abends, „Ach, die erste Liebe“, stammt vom russischen Chanson­nier Bulat Okudshawa und wandelt sich schon in der zweiten Strophe zum Antikriegslied. Und dass das berühmte französische Liebeslied „Le Temps des Cerises“ („Zeit der Kirschen“) in der Pariser Kommune nach blutig niedergeschlagener Revolution 1871 durch gezielte Missdeutung des Textes zum Hoffnungslied avancierte, verführt Biermann zu einer seiner längeren Plau­dereien zwischen den Liedern.

Mit Selbstironie

Nicht nur im Übertreiben musikalischer Schrägheiten zeigt er Selbstironie - er quetscht die Töne manchmal, bis er puterrot wird. Angesichts der gut 30 Jahre jüngeren Gemahlin darf man dem älteren Herrn Selbstironie auch beim Singen von Liedern Robert Burns‘ unterstellen, die sich mit der Thematik „alter Sack liebt junges Mädchen“ beschäftigen. Das Publikum hat seinen Spaß, und die beiden auf der Bühne auch. Selbst wenn man sich nicht immer einig ist über die Reihenfolge der Lieder. Oder wenn Biermann am Klavier, zu dem er gelegentlich wechselt, vergisst, in welche Tonart er nun modulieren muss.

Aber was zählt das schon, wenn man anschließend den genial genitalen Aufklärungscalypso auf Musik von Harry Belafonte serviert bekommt, in dem ein junger Mann auf seine Frage „Wie isses nu mit den Klapperstorch?“ vom Vater, von Albert Einstein und dann auch noch von Sigmund Freud höchstpersönlich die in rasendem Tempo artikulierte Antwort erhält: „Dat die Frau da atta, und der Mann da atta, mit die Ritzeratze Killekille Mullemusch, Hei! Der Pappelstock, Rappelstock! Zappelstock, in die olle dolle Kritzkratz!“

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 21.1.2013. Das Konzert fand statt am 19.1.

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