Schule, Stress, SM
Die Junge WLB Esslingen spielt „Frühlings Erwachen“ frei nach Frank Wedekind

Esslingen - In Sachen Sexualakt und seine möglichen Folgen dürften pubertierenden Jugendlichen heute genügend Quellen der Erkenntnis zur Verfügung stehen. In Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“ glaubt die 14-jährige Wendla noch an den Klapperstorch: Sie wird, ohne es zu wissen, schwanger, und genauso wenig ist ihr bewusst, dass an ihr die Abtreibung vorgenommen wird, an deren Folgen sie dann elend krepiert. Sie sei an „an der Bleichsucht“ gestorben, lässt ihre Mutter auf den Grabstein ihrer Tochter gravieren.
Eine „Kindertragödie“
Eine „Kindertragödie“ untertitelte der skandalumwitterte Bürgerschreck Wedekind ironisch sein 1891 geschriebenes, aber erst 1906 in einer zensierten Fassung uraufgeführtes Drama, in dem er der wilhelminischen Gesellschaft den Spiegel vorhielt: „Kindertragödie“, weil die Eltern ihrem pubertierenden Nachwuchs das Erwachsenwerden absprechen und ihm die Aufklärung verweigern - woraus eine tödliche Katastrophenkette erwächst: Auch der Schüler Moritz stirbt. Er entflieht dem Schuldruck durch einen Kopfschuss. Melchior, der Wendla schwängerte, wird wegen einer Aufklärungsschrift für seinen in diesen Dingen unbedarften Freund von den Lehrern für die Selbsttötung Moritz’ verantwortlich gemacht, fliegt von der Schule und landet in einem Erziehungsheim. Er droht am Ende an seinen Schuldgefühlen zugrundezugehen.
„Frühlings Erwachen“ hatte jetzt an der Jungen WLB im Studiotheater am Zollberg in einer heutigen Bearbeitung von Nuran David Calis Premiere. „Live fast, die young“, lautet nun der coole Untertitel. Die Personage ist von 37 Figuren auf sechs zusammengeschmolzen: Die Erwachsenenwelt, Lehrer und Eltern, ist so gut wie elimiert, sieht man einmal vom Vater Moritz’ ab, der am Ende als gebrochener Mann auf die Bühne schluppt und den Freunden vom Sohn hinterlassene Geschenke weitergibt.
Die sechsköpfige Clique aus 14- und 15-Jährigen ist ansonsten allein mit sich auf der Bühne: Party, chillen, kein Bock auf Schule. Haschischrauchen, Wulle-Bier kippen, SMS-Schreiben. Schmetterlinge im Bauch, erstes Verliebtsein und sexuelle Erregung, eine unbeabsichtigte Schwangerschaft und die Frage „Was nun?“. Regisseur Christian Müller lässt Technobeats wummern zwischen den Szenen, immer wieder erklingt Cluedos sentimentales „So sehr dabei“. Aus dem gesellschaftskritischen Tabubrecher ist ein sehenswertes, schnell getaktetes, freilich auch vergleichsweise braves Jugendstück über die Lebensrealität und das Lebensgefühl heutiger Pubertierender geworden. Es geht um Lebenssinn, Zukunftsträume, Beziehung und Liebe und auch ein bisschen um sexuelle Selbstfindung.
Einiges ist vom Originaltext geblieben, vieles im heutigen Jargon überschrieben. Klapperstorch war gestern. Schuldruck, häusliche Gewalt und SM-Fantasien bleiben. Weiterhin wird Martha von ihren Eltern blutig geprügelt, Moritz scheitert an Lernstress und gefährdeter Versetzung, Wendla zwingt Melchior, sie zu schlagen. Aus der homoerotischen Liebesszene ist freilich schon nur noch ein flüchtiger, feuchter Kuss geworden, den Hans dem verdutzten Melchior auf den Mund drückt. Die berühmte Gruppenmasturbationsszene ist gestrichen, dafür stellen Moritz und Melchior ihr Schamgefühl in einer Wettentkleidung auf die Probe. Wendla wird schwanger, rammt sich eine Flasche in den Bauch, als sie merkt, dass Melchior es nicht ernst mit ihr meint. Verantwortung für sein Tun muss dieser erst noch lernen. In der Schlussszene erscheint ihm Moritz nicht als depressiver Zombi mit dem Kopf unterm Arm, sondern spricht fröhlich und körperlich intakt als Videoprojektion zu ihm: „Dein Leben ist Unterlassungssünde (...). Du musst einfach vertrauen“.
Überdimensionale Gummischläuche
Die Bühne von Gitti Scherer ist zunächst leer, bevor knallbunte, überdimensionale Gummischläuche in U-, I- und Spiralform hineingeworfen werden, die sich variationsreich in chillige Sitz- und Liegeflächen zusammenlegen oder -stecken lassen. In deren Windungen kann man sich verheddern oder in bestimmten Liegepositionen auch mal einen leise vibrierenden Riesenphallus zwischen den Beinen wachsen lassen.
Tobias Strobel als lernwütiger, schüchterner, verschämter Moritz, der sich von weiblicher Anwesenheit stets verwirrt zeigt, spielt auch das Bekifftsein perfekt. Genauso mitreißend weiß Hanif Jeremy Idris die Coolness, unschuldig aufglimmende Sexualität, intellektuelle Überlegenheit und Sensibilität Melchiors in seiner Darstellung zu vereinen. Annegret Taube als Wendla, Franziska Theiner als Martha und Caroline Betz als in der Liebe erfahrene Ilse wissen den Grenzbereich zwischen hysterisch kichernden Hühnern und schon erwachsener zarter Annäherung an das anderer Geschlecht bis hin zu sexueller Begierde glaubhaft auszuloten. Und auch Martin Frolowitz überzeugt als Hans, der in seiner noch kindlichen Albernheit und doch schon homoerotischen Träumerei einsam bleibt.
Alles gut und schön so weit, wenn nicht „Frühlings Erwachen“ über dem Abend stünde. Wedekinds Gesellschaftskritik hatte eine knallharte Zielrichtung: Die Eltern werden aus Prüderie und verlogener Sexualmoral zu Mördern ihrer Kinder. Wedekind kämpfte für die Befreiung des Sexus in Zeiten, da der Großteil der Gesellschaft sich beim Gedanken, „die Krone der Schöpfung“ sei triebgesteuert, noch angewidert abwandte. Calis geht von der Beseitigung solcher Missstände aus. Darin entschärft er aber die Vorlage. Angesichts von Berichten, die von Jugendlichen handeln, die ihren Umgang mit Sexualität aus Pornofilmen im Internet lernen, angesichts der Zwänge normierter Sexualität, der Debatten über Vergewaltigung und „Pille danach“, angesichts zur Prostitution gezwungener Jugendlicher, Missbrauchskandale und Kinderpornographie gäbe es genügend Ansätze, die Gesellschaftskritik in „Frühlings Erwachen“ auf die veränderten Zustände zu übertragen: Themen, denen sich Wedekind selbst heute wohl auch zugewandt hätte.
Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 18.2.2013. Premiere war am 15.2. Die nächsten Aufführungen: 16. und 22. März an der WLB-Studiobühne am Zollberg.

Esslingen - In Sachen Sexualakt und seine möglichen Folgen dürften pubertierenden Jugendlichen heute genügend Quellen der Erkenntnis zur Verfügung stehen. In Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“ glaubt die 14-jährige Wendla noch an den Klapperstorch: Sie wird, ohne es zu wissen, schwanger, und genauso wenig ist ihr bewusst, dass an ihr die Abtreibung vorgenommen wird, an deren Folgen sie dann elend krepiert. Sie sei an „an der Bleichsucht“ gestorben, lässt ihre Mutter auf den Grabstein ihrer Tochter gravieren.
Eine „Kindertragödie“
Eine „Kindertragödie“ untertitelte der skandalumwitterte Bürgerschreck Wedekind ironisch sein 1891 geschriebenes, aber erst 1906 in einer zensierten Fassung uraufgeführtes Drama, in dem er der wilhelminischen Gesellschaft den Spiegel vorhielt: „Kindertragödie“, weil die Eltern ihrem pubertierenden Nachwuchs das Erwachsenwerden absprechen und ihm die Aufklärung verweigern - woraus eine tödliche Katastrophenkette erwächst: Auch der Schüler Moritz stirbt. Er entflieht dem Schuldruck durch einen Kopfschuss. Melchior, der Wendla schwängerte, wird wegen einer Aufklärungsschrift für seinen in diesen Dingen unbedarften Freund von den Lehrern für die Selbsttötung Moritz’ verantwortlich gemacht, fliegt von der Schule und landet in einem Erziehungsheim. Er droht am Ende an seinen Schuldgefühlen zugrundezugehen.
„Frühlings Erwachen“ hatte jetzt an der Jungen WLB im Studiotheater am Zollberg in einer heutigen Bearbeitung von Nuran David Calis Premiere. „Live fast, die young“, lautet nun der coole Untertitel. Die Personage ist von 37 Figuren auf sechs zusammengeschmolzen: Die Erwachsenenwelt, Lehrer und Eltern, ist so gut wie elimiert, sieht man einmal vom Vater Moritz’ ab, der am Ende als gebrochener Mann auf die Bühne schluppt und den Freunden vom Sohn hinterlassene Geschenke weitergibt.
Die sechsköpfige Clique aus 14- und 15-Jährigen ist ansonsten allein mit sich auf der Bühne: Party, chillen, kein Bock auf Schule. Haschischrauchen, Wulle-Bier kippen, SMS-Schreiben. Schmetterlinge im Bauch, erstes Verliebtsein und sexuelle Erregung, eine unbeabsichtigte Schwangerschaft und die Frage „Was nun?“. Regisseur Christian Müller lässt Technobeats wummern zwischen den Szenen, immer wieder erklingt Cluedos sentimentales „So sehr dabei“. Aus dem gesellschaftskritischen Tabubrecher ist ein sehenswertes, schnell getaktetes, freilich auch vergleichsweise braves Jugendstück über die Lebensrealität und das Lebensgefühl heutiger Pubertierender geworden. Es geht um Lebenssinn, Zukunftsträume, Beziehung und Liebe und auch ein bisschen um sexuelle Selbstfindung.
Einiges ist vom Originaltext geblieben, vieles im heutigen Jargon überschrieben. Klapperstorch war gestern. Schuldruck, häusliche Gewalt und SM-Fantasien bleiben. Weiterhin wird Martha von ihren Eltern blutig geprügelt, Moritz scheitert an Lernstress und gefährdeter Versetzung, Wendla zwingt Melchior, sie zu schlagen. Aus der homoerotischen Liebesszene ist freilich schon nur noch ein flüchtiger, feuchter Kuss geworden, den Hans dem verdutzten Melchior auf den Mund drückt. Die berühmte Gruppenmasturbationsszene ist gestrichen, dafür stellen Moritz und Melchior ihr Schamgefühl in einer Wettentkleidung auf die Probe. Wendla wird schwanger, rammt sich eine Flasche in den Bauch, als sie merkt, dass Melchior es nicht ernst mit ihr meint. Verantwortung für sein Tun muss dieser erst noch lernen. In der Schlussszene erscheint ihm Moritz nicht als depressiver Zombi mit dem Kopf unterm Arm, sondern spricht fröhlich und körperlich intakt als Videoprojektion zu ihm: „Dein Leben ist Unterlassungssünde (...). Du musst einfach vertrauen“.
Überdimensionale Gummischläuche
Die Bühne von Gitti Scherer ist zunächst leer, bevor knallbunte, überdimensionale Gummischläuche in U-, I- und Spiralform hineingeworfen werden, die sich variationsreich in chillige Sitz- und Liegeflächen zusammenlegen oder -stecken lassen. In deren Windungen kann man sich verheddern oder in bestimmten Liegepositionen auch mal einen leise vibrierenden Riesenphallus zwischen den Beinen wachsen lassen.
Tobias Strobel als lernwütiger, schüchterner, verschämter Moritz, der sich von weiblicher Anwesenheit stets verwirrt zeigt, spielt auch das Bekifftsein perfekt. Genauso mitreißend weiß Hanif Jeremy Idris die Coolness, unschuldig aufglimmende Sexualität, intellektuelle Überlegenheit und Sensibilität Melchiors in seiner Darstellung zu vereinen. Annegret Taube als Wendla, Franziska Theiner als Martha und Caroline Betz als in der Liebe erfahrene Ilse wissen den Grenzbereich zwischen hysterisch kichernden Hühnern und schon erwachsener zarter Annäherung an das anderer Geschlecht bis hin zu sexueller Begierde glaubhaft auszuloten. Und auch Martin Frolowitz überzeugt als Hans, der in seiner noch kindlichen Albernheit und doch schon homoerotischen Träumerei einsam bleibt.
Alles gut und schön so weit, wenn nicht „Frühlings Erwachen“ über dem Abend stünde. Wedekinds Gesellschaftskritik hatte eine knallharte Zielrichtung: Die Eltern werden aus Prüderie und verlogener Sexualmoral zu Mördern ihrer Kinder. Wedekind kämpfte für die Befreiung des Sexus in Zeiten, da der Großteil der Gesellschaft sich beim Gedanken, „die Krone der Schöpfung“ sei triebgesteuert, noch angewidert abwandte. Calis geht von der Beseitigung solcher Missstände aus. Darin entschärft er aber die Vorlage. Angesichts von Berichten, die von Jugendlichen handeln, die ihren Umgang mit Sexualität aus Pornofilmen im Internet lernen, angesichts der Zwänge normierter Sexualität, der Debatten über Vergewaltigung und „Pille danach“, angesichts zur Prostitution gezwungener Jugendlicher, Missbrauchskandale und Kinderpornographie gäbe es genügend Ansätze, die Gesellschaftskritik in „Frühlings Erwachen“ auf die veränderten Zustände zu übertragen: Themen, denen sich Wedekind selbst heute wohl auch zugewandt hätte.
Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 18.2.2013. Premiere war am 15.2. Die nächsten Aufführungen: 16. und 22. März an der WLB-Studiobühne am Zollberg.
eduarda - 18. Feb, 16:22