Mittwoch, 5. Juni 2013

Sparendopolos! Versprocholos

Die Orestie – Mit Volker Löschs Inszenierung und einem Theaterfest endet Hasko Webers Intendanz in Stuttgart

Verkrampftes Fähnchenschwenken hinter Athene-Merkel und Appolon-Schäuble. (Foto:
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Matthias Dreher)

Stuttgart - Knallrot ergießt sich das Theaterblut über die elegant ineinander verknoteten nackten Körper König Agamemnons und seiner Sexsklavin Kassandra – gemeuchelt in der Badewanne, von Agamemnons Gattin Klytaimnestra und ihrem Lover Aigisthos. Der suhlt sich im Blut, haut seine Zähne gierig in die Körpermitte des toten Kontrahenten und spuckt dann etwas Undefinierbares aus. Das Publikum jault leise auf: Igitt. Agamemnons Sohnemann Orest, der die hochdekorierte Uniform des Vaters nicht ausfüllen kann, mordet daraufhin im Gegenzug – heißhungrig mehr nach Macht und Geld als nach Rache – Klytaimnestra und Aigisthos, spielt mit ihren übereinanderliegenden Körpern lechzend noch einmal den Geschlechtsakt nach.

Blutrachefluch hin oder her – die Familie der Atriden hat einen gehörigen Knall: läuft aufgedreht, wild und meist blutbesudelt durch die Gegend und leckt an scharfen Klingen. Volker Lösch hat Aischylos' Tragödien-Trilogie "Die Orestie" als kurzweilige Eineinhalb-Stunden-Farce inszeniert, für das große Abschiedstheaterfest "Aus die Faust!" zum Ende der Ära Hasko Weber am Stuttgarter Schauspiel.

Viva la Schauspiel!

Die Fete fand im zugigen Staatstheater-Probenzentrum im Norden Stuttgarts statt, weil die Sanierung des Schauspielhauses noch immer nicht abgeschlossen ist. Ein quirliges Volksfest bot sich im "Nord". Das Straßenfest war nach drinnen verlegt worden, weil der Himmel derzeit nun mal eben eine alte Heulsuse ist.

Vorbei an sehr langen Würstchen- und Bierbuden-Schlangen, an TV-Geräten mit Menschentrauben davor, die das Pokalendspiel mitverfolgten, an Staatsschauspiel-Fanartikel-Stand und Kinderaufbewahrung quetschte man sich durch das Menschengewühl, um in die theatral bespielten Räumlichkeiten zu gelangen: Zum "Faust-Club" etwa, in dem fünf Stunden nonstop Highlight-Szenen aus einigen der gut 250 Inszenierungen der letzten acht Jahre zu sehen waren. Oder zu Christian Weises buntem Abend "Viva la Schauspiel", in dem Haus und Theater ordentlich auf die Schippe genommen wurden: im Crashkurs Bühnenslapstick zum Beispiel, in der Lesung der Schauspielhaus-Baumängelliste (Stand 28. Mai), oder bei der genauen Anpassung der Nacktkostüme im Zimmer der Gewandmeisterin.

"Liebe Hellenen, macht mal eure Hausaufgaben"

Und auf der großen Bühne dann zweimal "Die Orestie": Erst die Premiere, gleich danach die Dernière. Es war vorerst der letzte Lösch in Stuttgart. Und wie gewohnt holte er den mörderischen Mythos in die Gegenwart. Ins heutige Griechenland, dem Merkel und Schäuble einen Urlaubsbesuch abstatten, um den Menschen dort zu zeigen, "dass wir für sie da sind", und um ihnen mitzuteilen: "Liebe Hellenen, macht mal eure Hausaufgaben."

Kodderschnauze Rahel Ohm merkelt herrlich, reißt in Kumpanei mit Markus Lerch alias Schäuble, der nicht wirklich in seinem Rollstuhl sitzen bleiben will, am laufenden Band zynische Witze: Wie grillt man auf griechische Art? "Ohne Kohle." Wie antwortet ein Bankomat, der kein Geld mehr auszuspucken hat? "Auf Griechisch."

Auf Akropolis-Tour mit Merkel und Schäuble


"Wie hängen die denn hier rum?", frotzelt Ohms Merkel, als die Akropolis in Sichtweite gerät und sie dort mit ihrem eigenen Klischeewitz konfrontiert wird: mit einer brachliegenden Baustelle und Griechen, die sich in weiße Manteltücher gehüllt in Sonnenstühlen fläzen und Merkelbildern Hitlerbärtchen anmalen. Volkes Stimme formiert sich immer wieder zum zornigen BürgerInnenchor, der fordert, kommentiert, als vielstimmige Person Dialogpartner ist und sich am Schluss in schwarze, bedrohliche Attentätermaskerade wirft, um als Erinnyen Orest zu verfolgen und seinen Tod zu fordern.

Am Ende wird Pallas-Athene-Merkel den Griechen das atridische Gesetz vom "Auge um Auge, Zahn um Zahn" austreiben und die Demokratie bringen: Orest wird mit Apollon-Schäuble als Rechtsanwalt an der Seite und per Geschworenengericht freigesprochen. Ordnung und Recht haben ein neues Gesicht. Und das heißt "sparendopolos", so Merkel, ihr Athenemäntelchen abwerfend. Und das mit den Hitlerbärtchen soll das Volk bitte mal lassen und endlich seine Zinsen zahlen. "Versprocholos", beschwichtigt der griechische Ministerpräsident Andonis Samaras, und alle Griechen schwenken brav und verkrampft die Fähnchen. Die Deutschen sollten endlich anfangen, nicht mehr deutsch, sondern wie Europäer zu denken, mahnte eine hungrige Griechin zu Beginn des Stücks.

Lösch, Pollesch, Weise – und die Schauspieler!

Keine Frage, Volker Lösch hat als Hasko Webers Hausregisseur dessen Intendanz, die gleich in der Eröffnungsspielzeit 2005/06 mit der Auszeichnung zum "Theater des Jahres" belohnt wurde, entscheidend mitgeprägt. Das Emblem des Hauses, die geballte Faust, die für Kampf, Aufbruch und Aktion stand, dürfte vor allem mit seinem politischem Chor-Theater assoziiert werden. Dieses auf regionale und globale Missstände direkt reagierende Gesellschaftsanalysetheater holte gern das "Echte", Volkes Stimme, in Gestalt von Laien-BürgerInnenchören auf die Bühne – ob gebürtige Schwaben oder Menschen mit Migrationshintergrund – und mischte sich natürlich auch massiv in die Stuttgart-21-Diskussion ein.

Ob Klassiker, Bühnenadaptionen von Kinofilmen oder Romanen, ob Uraufführungen oder die Förderung jüngerer Regietalente – Hasko Weber hat sein zu Beginn angekündigtes Ziel, politisch engagiertes und vom Ensemblegeist befeuertes Theater in die Stadt zu tragen, durchweg engagiert verfolgt. Und dabei geschickt der politischen Relevanz immer auch Sprachkunst und gute Unterhaltung zur Seite gestellt – ob René Polleschs fremde Geisteswiesen abgrasendes Wortwurfmaschinen-Theater oder Christian Weises anarchisches, Slapstick- und Travestie-verliebtes Komödiantentheater. Vor allem aber dem hervorragenden, perfekt aufeinander eingespielten Ensemble wird so manch einer Tränen nachweinen.

Besprechung für www.nachtkritik.de. Das Fest fand statt am 1. Juni 2013.

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