Arkadien ist abgebrannt
„La Calisto“ im Wilhelmatheater: Die Stuttgarter Opernschule verwandelt Cavallis frühbarockes Stück in handfest aktualisiertes Regietheater

Stuttgart - Der arkadische Wald, in dem Francesco Cavallis frühbarocke Oper „La Calisto“ spielt, ist auf der Bühne des Stuttgarter Wilhelmatheaters weggebombt. Nur noch ein paar Holzbalken und Baumstämme liegen in der kriegszerstörten Wüstenei. Göttervater Jupiter, der das zu verantworten hat, ist ein machtgeiler, tumber, selbstherrlicher Feldherr in Uniform, und die schöne Nymphe Calisto erst Widerständlerin, dann sein Vergewaltigungsopfer. In den Händen des zerstörerisch liebenden Olympiers wird sie langsam zermalmt, ihres Ichs beraubt. Am Ende ist sie nur noch eine grinsende, fremdgesteuerte Puppe. Jupiters williger Vollstrecker Merkur hilft bei den Demütigungen und Folterungen kräftig mit, während Jagdgöttin Diana und der Hirte Endimione desorientiert und unbehaust im Kriegsgebiet herumirren. Die Kumpanen Pan und Silvano wirken nicht weniger verloren, geben ihre erlebten Demütigungen aber an den noch schwächeren Hirten weiter. Die Welt ist aus den Fugen, dem Untergang geweiht. Der Mensch ist Freiwild oder Barbar.
In der neuesten Produktion der Opernschule der Stuttgarter Musikhochschule ist dem Regieteam und dem äußerst spielfreudig agierenden Ensemble ein kleines Wunderwerk gelungen. Aus der venezianischen Oper von 1651, in der es um verwirrende erotische Intrigen-, Macht- und Verwechslungsspiele geht, ist ein stringentes, gelegentlich schwarzhumoriges Anti-Kriegsstück der Gegenwart geworden.
Vorgeführt werden die Verquickung von Sexualität, Macht, Gewalt und Krieg, die Instrumentalisierung der Medien und die Prägung der Öffentlichkeit durch die gelieferten Bilder. Dafür wurde die Oper einerseits vom Regisseur Marco Storman, dem Dirigenten Michael Klubertanz und der Dramaturgin Angela Löer kräftig und intelligent bearbeitet, andererseits setzte man in Kooperation mit dem Studiengang Figurentheater kreative Kontrapunkte zur Ausstattung von Kersten Paulsen: Ein Team von vier Figurenspielern (Leitung: Werner Knoedgen und Sylvia Wanke) filmt an seitlich sichtbaren Miniaturbühnen mit einer Live-Kamera düstere Szenerien, die auf einer Leinwand im Hintergrund das Geschehen kommentieren: Soldatenpuppen fliegen in Zeitlupe durch die Luft, eine Wohnung wird durch Bombeneinschläge erschüttert, brennende, zerklüftete Landschaften tun sich auf.
Neben diesem verfremdenden Spiel mit Materialien, in dem eine Schreibtischlampe schnell zur Straßenlaterne und ein bisschen Puder zu dichtem Schneegestöber mutiert, verwandeln sich die Figurenspieler immer wieder in ein TV-Kamerateam, das Merkur die nötige Bühne für seine propagandistischen Reden bereitet, das dem Opfer Calisto auf den Leib rückt, die Gefangene flugs zum Teil eines fähnchenschwingenden Jubelvolks umfunktioniert oder die nunmehr Willenlose mit Leuchtstäben in marionettenhafte Bewegung versetzt.
Marco Stormans Inszenierung spielt mit der Macht und Austauschbarkeit jener Bilder, die uns täglich medial überfluten, und setzt dadurch unbegrenzte Assoziationen in Gang: an Guantánamo, an den Hindukusch, an Entführungen und Attentate, ja selbst an den Kerker Natascha Kampuschs. Wenn Merkur der gefesselten Calisto einen Blecheimer auf den Kopf setzt und diesen mit dem Gewehrkolben wegschlägt, als sei er ein Golfball, denkt man erschüttert an Abu Ghoreib, während der mit Plastikwasserflaschen vollgepackte Wagen an Bilder aus dem Erdbebengebiet Haiti erinnert, wo Menschen sich verdurstend um die ersehnte Lieferung prügeln. Und warum verweist das grandios-zynisch inszenierte Jubelfinale, das gleich nach den Suiziden der Jupiter-Gattin und des Liebespaares Diana und Endimione auf einer Varietébühne stattfindet, auf öffentliche Auftritte Silvio Berlusconis? Wohl nicht nur wegen der vier Blondinen in Glitzerkleidern, sondern vor allem wegen der unerträglichen Verlogenheit dieses Spektakels.
Michael Klubertanz am Dirigierpult hält die locker gefügten Szenen aus geschmeidigen Dialogen, rezitativischen Monologen und kantablen Ariosi in Fluss und ließ sich auch nicht durch die eingespielten Bombendetonationen aus der Ruhe bringen. Das darstellerisch durchweg mitreißende Ensemble aus zwei Schauspielern - Sebastian Gerasch als Merkur und Figurenspieler Stefan Wenzel als Silvano - und sechs Sängerinnen und Sängern wird munter begleitet vom neunköpfigen Instrumentalensemble, das in der Premiere nur gelegentlich mal einen Einsatz verhudelte. Kai Preußker als Jupiter erfreut durch seinen gut geführten, wohlklingenden Bariton, Indra Podewils als seine Gattin durch ihren ausgewogenen, weittragenden Mezzo. Die Soprane Melanie Schlerf als Diana und Hyun Ah Kim als Pan berühren durch lyrischen Schmelz, während Yuna-Maria Schmidt als Calisto schier Unglaubliches leistet. Ob gefesselt, ob auf einem Eimer kniend oder einem Tisch liegend mit nassen Papierfetzen im Gesicht: Stets bleibt sie intonationssicher und ausdrucksstark. Und die Entdeckung des Abends? Zweifellos der junge Kontratenor Leandro Bermudez, der als Gast aus Basel den hübschen Hirten mit den löchrigen Socken gab: So ungekünstelt, so natürlich hört man einen Mann nur sehr selten mit Kopfstimme singen.
Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 9.2.2010

Stuttgart - Der arkadische Wald, in dem Francesco Cavallis frühbarocke Oper „La Calisto“ spielt, ist auf der Bühne des Stuttgarter Wilhelmatheaters weggebombt. Nur noch ein paar Holzbalken und Baumstämme liegen in der kriegszerstörten Wüstenei. Göttervater Jupiter, der das zu verantworten hat, ist ein machtgeiler, tumber, selbstherrlicher Feldherr in Uniform, und die schöne Nymphe Calisto erst Widerständlerin, dann sein Vergewaltigungsopfer. In den Händen des zerstörerisch liebenden Olympiers wird sie langsam zermalmt, ihres Ichs beraubt. Am Ende ist sie nur noch eine grinsende, fremdgesteuerte Puppe. Jupiters williger Vollstrecker Merkur hilft bei den Demütigungen und Folterungen kräftig mit, während Jagdgöttin Diana und der Hirte Endimione desorientiert und unbehaust im Kriegsgebiet herumirren. Die Kumpanen Pan und Silvano wirken nicht weniger verloren, geben ihre erlebten Demütigungen aber an den noch schwächeren Hirten weiter. Die Welt ist aus den Fugen, dem Untergang geweiht. Der Mensch ist Freiwild oder Barbar.
In der neuesten Produktion der Opernschule der Stuttgarter Musikhochschule ist dem Regieteam und dem äußerst spielfreudig agierenden Ensemble ein kleines Wunderwerk gelungen. Aus der venezianischen Oper von 1651, in der es um verwirrende erotische Intrigen-, Macht- und Verwechslungsspiele geht, ist ein stringentes, gelegentlich schwarzhumoriges Anti-Kriegsstück der Gegenwart geworden.
Vorgeführt werden die Verquickung von Sexualität, Macht, Gewalt und Krieg, die Instrumentalisierung der Medien und die Prägung der Öffentlichkeit durch die gelieferten Bilder. Dafür wurde die Oper einerseits vom Regisseur Marco Storman, dem Dirigenten Michael Klubertanz und der Dramaturgin Angela Löer kräftig und intelligent bearbeitet, andererseits setzte man in Kooperation mit dem Studiengang Figurentheater kreative Kontrapunkte zur Ausstattung von Kersten Paulsen: Ein Team von vier Figurenspielern (Leitung: Werner Knoedgen und Sylvia Wanke) filmt an seitlich sichtbaren Miniaturbühnen mit einer Live-Kamera düstere Szenerien, die auf einer Leinwand im Hintergrund das Geschehen kommentieren: Soldatenpuppen fliegen in Zeitlupe durch die Luft, eine Wohnung wird durch Bombeneinschläge erschüttert, brennende, zerklüftete Landschaften tun sich auf.
Neben diesem verfremdenden Spiel mit Materialien, in dem eine Schreibtischlampe schnell zur Straßenlaterne und ein bisschen Puder zu dichtem Schneegestöber mutiert, verwandeln sich die Figurenspieler immer wieder in ein TV-Kamerateam, das Merkur die nötige Bühne für seine propagandistischen Reden bereitet, das dem Opfer Calisto auf den Leib rückt, die Gefangene flugs zum Teil eines fähnchenschwingenden Jubelvolks umfunktioniert oder die nunmehr Willenlose mit Leuchtstäben in marionettenhafte Bewegung versetzt.
Marco Stormans Inszenierung spielt mit der Macht und Austauschbarkeit jener Bilder, die uns täglich medial überfluten, und setzt dadurch unbegrenzte Assoziationen in Gang: an Guantánamo, an den Hindukusch, an Entführungen und Attentate, ja selbst an den Kerker Natascha Kampuschs. Wenn Merkur der gefesselten Calisto einen Blecheimer auf den Kopf setzt und diesen mit dem Gewehrkolben wegschlägt, als sei er ein Golfball, denkt man erschüttert an Abu Ghoreib, während der mit Plastikwasserflaschen vollgepackte Wagen an Bilder aus dem Erdbebengebiet Haiti erinnert, wo Menschen sich verdurstend um die ersehnte Lieferung prügeln. Und warum verweist das grandios-zynisch inszenierte Jubelfinale, das gleich nach den Suiziden der Jupiter-Gattin und des Liebespaares Diana und Endimione auf einer Varietébühne stattfindet, auf öffentliche Auftritte Silvio Berlusconis? Wohl nicht nur wegen der vier Blondinen in Glitzerkleidern, sondern vor allem wegen der unerträglichen Verlogenheit dieses Spektakels.
Michael Klubertanz am Dirigierpult hält die locker gefügten Szenen aus geschmeidigen Dialogen, rezitativischen Monologen und kantablen Ariosi in Fluss und ließ sich auch nicht durch die eingespielten Bombendetonationen aus der Ruhe bringen. Das darstellerisch durchweg mitreißende Ensemble aus zwei Schauspielern - Sebastian Gerasch als Merkur und Figurenspieler Stefan Wenzel als Silvano - und sechs Sängerinnen und Sängern wird munter begleitet vom neunköpfigen Instrumentalensemble, das in der Premiere nur gelegentlich mal einen Einsatz verhudelte. Kai Preußker als Jupiter erfreut durch seinen gut geführten, wohlklingenden Bariton, Indra Podewils als seine Gattin durch ihren ausgewogenen, weittragenden Mezzo. Die Soprane Melanie Schlerf als Diana und Hyun Ah Kim als Pan berühren durch lyrischen Schmelz, während Yuna-Maria Schmidt als Calisto schier Unglaubliches leistet. Ob gefesselt, ob auf einem Eimer kniend oder einem Tisch liegend mit nassen Papierfetzen im Gesicht: Stets bleibt sie intonationssicher und ausdrucksstark. Und die Entdeckung des Abends? Zweifellos der junge Kontratenor Leandro Bermudez, der als Gast aus Basel den hübschen Hirten mit den löchrigen Socken gab: So ungekünstelt, so natürlich hört man einen Mann nur sehr selten mit Kopfstimme singen.
Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 9.2.2010
eduarda - 5. Feb, 23:42