Brahms unter der Lupe
Staatsorchester und Pietari Inkinen in der Stuttgarter Liederhalle
Stuttgart – Das aufregendste Ereignis in der ersten Hälfte des sonntäglichen Sinfoniekonzerts des Stuttgarter Staatsorchesters war wohl, dass dem finnischen Dirigenten Pietari Inkinen in den letzten Klängen vor der Pause der Taktstock aus den Fingern glitt und über den Köpfen der Streicher einen mehrfachen Salto schlug. Bis dahin hatte das Orchester bei seinem morgendlichen Auftritt im Stuttgarter Beethovensaal müde und etwas blass gewirkt. Auch Pietari Inkinens gestisch eher zurückhaltender Dirigierstil konnte die Musiker nicht wirklich aufwecken. Die träge Sonntagsstimmung und etwaige Erschöpfungserscheinungen als Tribut an eine anstrengende Opernsaison mögen daran Anteil gehabt haben, dass Leoš Janáčeks Lachische Tänze zwar ordentlich, gelegentlich auch mit Esprit, aber des öfteren mit zu wenig innerer Spannung gespielt wurden. Und Béla Bartóks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta, die in ihrer harmonischen und rhythmischen Expressivität im Idealfall elektrisierend wirkt, ließ magische Momente vermissen.
Doch der spektakuläre Flug des Dirigierstabes wirkte wie ein Fanal. Nach der Halbzeitpause war das Staatsorchester wie ausgewechselt. In Kaija Saariahos insgesamt dreiminütigen zwölf Orchesterminiaturen "Forty Heartbeats" von 1998 stellte sich beim Orchester endlich jene Konzentration ein, die Klangfarben zum blitzschnellen Wechseln bringt und rhythmischer Komplexität Spannkraft gibt. Mit der Orchesterbearbeitung von Johannes Brahms' erstem Klavierquartett g-Moll op. 25 von 1861, mit der Arnold Schönberg 1937 seiner Brahms-Verehrung plastisch Gestalt verlieh, sprang der Funke dann endgültig ins Publikum über.
Ohne äußerste Konzentration aufs Detail wäre diese klanglich dichte Partitur aber für das Orchester auch gar nicht zu bewältigen, hat Schönberg doch Brahms' Quartett satztechnisch genau unter die Lupe genommen, das Klangspektrum dieser eigentlich intimen Kammermusik ins übertrieben Riesenhafte vergrößert und dadurch den Gestus dieser Musik ungeheuer dramatisiert – scherzhaft, wohl aber nicht ganz ohne Stolz, sprach Schönberg von seiner Bearbeitung als der Fünften Sinfonie Brahms' – obwohl dieser sein Quartett lange vor seiner Ersten komponiert hat.
Das großbesetzte Staatsorchester inklusive sechs Schlagzeugern sorgte nun für eine spektakulär auftrumpfende Klanglichkeit, in der die Instrumentalisten nicht nur im rasanten Rondo-Finale "alla zingarese" oft zu hanebüchender Virtuosität gezwungen werden. Aber auch die Vorzüge dieser Bearbeitung, die völlig gleichgestellte und darin äußerst attraktive Behandlung von Streicher- und Bläserapparat, arbeitete Inkinen und das Orchester jetzt deutlich heraus. Wunderbar kam die enorme Farbigkeit der wahrhaft schillernden Instrumentation Schönbergs zur Geltung, die den Brahms'schen Klangkosmos um einiges erweitert. Und nicht erst das furios-feurige Finale zeigte mehr als deutlich, wie sehr Schönberg untertrieben hatte, als er einst schelmisch erklärte: "Ich hatte nur diesen Klang auf das Orchester zu übertragen, und nichts anderes habe ich getan."
Besprechung für die Stuttgarter Nachrichten und die Eßlinger Zeitung vom 11. Juni 2012. Das Konzert fand statt am 10. Juni.
Stuttgart – Das aufregendste Ereignis in der ersten Hälfte des sonntäglichen Sinfoniekonzerts des Stuttgarter Staatsorchesters war wohl, dass dem finnischen Dirigenten Pietari Inkinen in den letzten Klängen vor der Pause der Taktstock aus den Fingern glitt und über den Köpfen der Streicher einen mehrfachen Salto schlug. Bis dahin hatte das Orchester bei seinem morgendlichen Auftritt im Stuttgarter Beethovensaal müde und etwas blass gewirkt. Auch Pietari Inkinens gestisch eher zurückhaltender Dirigierstil konnte die Musiker nicht wirklich aufwecken. Die träge Sonntagsstimmung und etwaige Erschöpfungserscheinungen als Tribut an eine anstrengende Opernsaison mögen daran Anteil gehabt haben, dass Leoš Janáčeks Lachische Tänze zwar ordentlich, gelegentlich auch mit Esprit, aber des öfteren mit zu wenig innerer Spannung gespielt wurden. Und Béla Bartóks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta, die in ihrer harmonischen und rhythmischen Expressivität im Idealfall elektrisierend wirkt, ließ magische Momente vermissen.
Doch der spektakuläre Flug des Dirigierstabes wirkte wie ein Fanal. Nach der Halbzeitpause war das Staatsorchester wie ausgewechselt. In Kaija Saariahos insgesamt dreiminütigen zwölf Orchesterminiaturen "Forty Heartbeats" von 1998 stellte sich beim Orchester endlich jene Konzentration ein, die Klangfarben zum blitzschnellen Wechseln bringt und rhythmischer Komplexität Spannkraft gibt. Mit der Orchesterbearbeitung von Johannes Brahms' erstem Klavierquartett g-Moll op. 25 von 1861, mit der Arnold Schönberg 1937 seiner Brahms-Verehrung plastisch Gestalt verlieh, sprang der Funke dann endgültig ins Publikum über.
Ohne äußerste Konzentration aufs Detail wäre diese klanglich dichte Partitur aber für das Orchester auch gar nicht zu bewältigen, hat Schönberg doch Brahms' Quartett satztechnisch genau unter die Lupe genommen, das Klangspektrum dieser eigentlich intimen Kammermusik ins übertrieben Riesenhafte vergrößert und dadurch den Gestus dieser Musik ungeheuer dramatisiert – scherzhaft, wohl aber nicht ganz ohne Stolz, sprach Schönberg von seiner Bearbeitung als der Fünften Sinfonie Brahms' – obwohl dieser sein Quartett lange vor seiner Ersten komponiert hat.
Das großbesetzte Staatsorchester inklusive sechs Schlagzeugern sorgte nun für eine spektakulär auftrumpfende Klanglichkeit, in der die Instrumentalisten nicht nur im rasanten Rondo-Finale "alla zingarese" oft zu hanebüchender Virtuosität gezwungen werden. Aber auch die Vorzüge dieser Bearbeitung, die völlig gleichgestellte und darin äußerst attraktive Behandlung von Streicher- und Bläserapparat, arbeitete Inkinen und das Orchester jetzt deutlich heraus. Wunderbar kam die enorme Farbigkeit der wahrhaft schillernden Instrumentation Schönbergs zur Geltung, die den Brahms'schen Klangkosmos um einiges erweitert. Und nicht erst das furios-feurige Finale zeigte mehr als deutlich, wie sehr Schönberg untertrieben hatte, als er einst schelmisch erklärte: "Ich hatte nur diesen Klang auf das Orchester zu übertragen, und nichts anderes habe ich getan."
Besprechung für die Stuttgarter Nachrichten und die Eßlinger Zeitung vom 11. Juni 2012. Das Konzert fand statt am 10. Juni.
eduarda - 12. Jun, 21:34