Das Leben, die Hölle
Corinna Harfouch und Catherine Stoyan in „Was geschah mit Baby Jane?“ am Stuttgarter Staatsschauspiel

Stuttgart− Einem Schattenreich gleicht dieses Haus. Die Bühne ist zu Beginn noch rabenschwarz, dann fährt die dunkle Gazewand hoch und gibt den Blick frei in eine überdimensionale Puppenstube. Zwei Stockwerke, vollgestopft mit antiken Möbeln und einem riesigen Kronleuchter im engen Flur. Unten hat Bühnenbildner Volker Hintermeier das Wohnzimmer mit Bechstein hingebaut, rechts eine kleine Küche. Die Zeit steht still, das Ticken der Empire-Uhr: ein Hohn. Links oben das Zimmer von Blanche, die dort im Rollstuhl gefangen sitzt, die Treppe nach unten: ein unüberwindbares Hindernis. Rechts oben jenes von Jane, ein Kinderzimmer mit Schaukelpferd und einer einsamen Goldenen Schallplatte an der Wand. Seit 30 Jahren machen sich die beiden Schwestern in diesem Haus das Leben zur Hölle. Jane, einst ein gefeierter Kinderstar, Familienernährerin. Dann brach die Karriere ab, derweil Blanche zum Filmstar avancierte, bis ein mysteriöser Autounfall ihr Diven-Dasein jäh zerstörte. Sie sitzt seither im Rollstuhl, in ihrer Villa in Beverly Hills, gepflegt von ihrer Schwester, durch sie auch hermetisch ferngehalten von der Außenwelt. Nur Elvira, die Haushaltshilfe, hat gelegentlich Zugang. Blanche kommandiert, Jane hält sie in Schach, unterschlägt die Fanpost an die Schwester, weist die Nachbarn ab, kippt Whiskey in sich rein. Die Isolation gebiert Ungeheuer.
Auch im wahren Leben Schwestern
„Was geschah mit Baby Jane?“ hatte jetzt am Stuttgarter Staatsschauspiel Premiere. In der filmischen Vorlage von Robert Aldrich aus dem Jahre 1962 nach dem Roman von Henry Farrell, die einen kritischen Blick hinter die Glitzer-Fassade Hollywoods warf, quälten sich Bette Davis und Joan Crawford als gestrandete Sternchen. Im Stuttgarter Kammertheater sind es Corinna Harfouch als Blanche und Catherine Stoyan als Jane - auch im wahren Leben Schwestern -, die sich in ihrer konkurrierenden Ruhm- und Eifersucht gegenseitig vernichten. Christian Weise, auch Spezialist für Slapstick und Skurriles, hat Regie geführt - und hat eine ausgewogene Balance gefunden zwischen psychodramatischer Zuspitzung und ironischer Brechung. Daraus entsteht die Spannung des Abends, der am Ende bejubelt wird, weil er getragen wird von zwei phänomenalen Hauptdarstellerinnen. „Rollstuhlhippe“, schreit Stoyan, „widerliches versoffenes Stück Scheiße“, kontert Harfouch. Solcher lustvoll hasserfüllter Schlagabtausch übertüncht zuweilen die Schwächen des Film-Stoffs, der auf eine Aufdeckung der gemeinsamen Familiengeschichte fast gänzlich verzichtet und boulevardesk an der Oberfläche des Schwesternkrieges bleibt.
Catherine Stoyan mit ihrem Faible für das komische Fach kann brillieren, weil sie das hohe Maß an Übertreibung, das ihre Rolle fordert, glaubwürdig als Attribute eines sich steigernden Wahnsinns zu ergründen weiß. Das ist hohe Schauspielkunst: die Grenzen, die die Darstellung psychisch gestörten Verhaltens bei Überschreitung schnell albern wirken lassen, auf den Millimeter genau auszuloten. Das gelingt ihr in plötzlichen Gewaltausbrüchen, wenn sie der am Boden liegenden Blanche im Blutrausch in die Nieren und ins Gesicht tritt, ebenso wie in hysterischen Heulkrämpfen, wenn sie besoffen in ihre Rolle als Kinderstar verfällt, immer und immer wieder die guten alten Zeiten heraufbeschwörend, als sie noch Papis Liebling war. Oder wenn sie ihrer Schwester auf dem Schoß sitzt, sich wie ein Baby von ihr trösten lässt, um ihr beim Aufstehen sofort wieder aggressiv Lügen zu unterstellen.
Corinna Harfouch muss im letzten Drittel mit blutigem Kopf und zugeklebtem Mund ans Bett gefesselt verharren. Jane hält die Zügel jetzt kürzer, nachdem sie erfahren hat, dass Blanche ihr Haus heimlich verkaufen will, um mit der Haushälterin zusammenzuziehen und Jane in eine Nervenklink einzuliefern. Harfouch ist grandios als Lästermaul und noch immer divenhafte Zicke: Wenn sie vor dem Fernseher hockt und die x-te Wiederholung ihres Films „Mond über Manhattan“ anschaut, Regisseure als „Vollidioten“ und „Flachzangen“ beschimpft oder litaneiartig wiederholt, dieser Film habe nur wegen ihres Namens ein Vermögen eingespielt.
Blaue Flecken an den Oberarmen zeugen von Harfouchs hartem Proben- und Körpereinsatz: Akrobatisch, wie sie kopfüber rücklings die Treppe hinunterrutscht, um an das rettende Telefon zu gelangen. Bis zum letzten Augenblick behält sie ihre Grandezza, wenn sie, schon blutend am Boden liegend, den ahnungslosen Musiker Edwin anfährt: „Könnten Sie mir bitte mal helfen?“
Wer hier Täterin ist und wer Opfer, bleibt in der Waage. Blanche hat ihre Schwester mit einer Lüge lebenslang an sich gefesselt. Jane glaubt noch immer, sie sei schuld am schlimmen Unfall. Zwei Opfer einer Lebenslüge - und ein drittes: Jane erschlägt die Haushälterin (Anna Windmüller). Sie wusste zuviel.
Drama mit Live-Musik
In dieser Isolationshölle spielen andere Personen so gut wie keine Rolle. Das Stuttgarter Ensemble kommt vor allem als Telefonstimme oder als Nachbarin zum kurzen Einsatz. Außer Benjamin Grüter, der den arbeitslosen Musiker Edwin mimt, den Jane sich kauft, um an ihrem Comeback als Shirley-Temple-Verschnitt zu arbeiten. Grüter, neben Katharina Ortmayr als skurriler Mutti-Mutter im schrägen Oma-Outfit mit verkorkster Perücke (Kostüme: Andy Besuch), ist die Lachnummer des Abends: fantastisch in seiner Verklemmtheit, seiner aufgesetzten Geschäftigkeit, seinem schnöden Überlebensdrang. Ja, und er spielt ganz ordentlich Klavier: Beethovens Mondscheinsonate, erster Satz.
Überhaupt ist es einer der attraktiven Kennzeichen des Regie-Stils Weises, Schauspieler auch musikalisch zu fordern. Das hat in Stuttgart schon einige große Theateraugenblicke gebracht, und auch Catherine Stoyan kann mit ihrer Varieté-Kindergesangsnummer „Brief an meinen Papi“ punkten. Ohnehin setzt Weise Live-Bühnenmusik immer sehr geschickt zur Taktung seiner Stücke ein. An diesem Abend sorgen Jens Dohle und Falk Effenberger mit saftigem E-Gitarren- und Synthie-Sound für atmosphärisch dichte Übergänge in den regelmäßigen szenischen Breaks, die den Abend strukturieren und spannend halten.
Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 4. März 2013. Premiere war 2. März.

Stuttgart− Einem Schattenreich gleicht dieses Haus. Die Bühne ist zu Beginn noch rabenschwarz, dann fährt die dunkle Gazewand hoch und gibt den Blick frei in eine überdimensionale Puppenstube. Zwei Stockwerke, vollgestopft mit antiken Möbeln und einem riesigen Kronleuchter im engen Flur. Unten hat Bühnenbildner Volker Hintermeier das Wohnzimmer mit Bechstein hingebaut, rechts eine kleine Küche. Die Zeit steht still, das Ticken der Empire-Uhr: ein Hohn. Links oben das Zimmer von Blanche, die dort im Rollstuhl gefangen sitzt, die Treppe nach unten: ein unüberwindbares Hindernis. Rechts oben jenes von Jane, ein Kinderzimmer mit Schaukelpferd und einer einsamen Goldenen Schallplatte an der Wand. Seit 30 Jahren machen sich die beiden Schwestern in diesem Haus das Leben zur Hölle. Jane, einst ein gefeierter Kinderstar, Familienernährerin. Dann brach die Karriere ab, derweil Blanche zum Filmstar avancierte, bis ein mysteriöser Autounfall ihr Diven-Dasein jäh zerstörte. Sie sitzt seither im Rollstuhl, in ihrer Villa in Beverly Hills, gepflegt von ihrer Schwester, durch sie auch hermetisch ferngehalten von der Außenwelt. Nur Elvira, die Haushaltshilfe, hat gelegentlich Zugang. Blanche kommandiert, Jane hält sie in Schach, unterschlägt die Fanpost an die Schwester, weist die Nachbarn ab, kippt Whiskey in sich rein. Die Isolation gebiert Ungeheuer.
Auch im wahren Leben Schwestern
„Was geschah mit Baby Jane?“ hatte jetzt am Stuttgarter Staatsschauspiel Premiere. In der filmischen Vorlage von Robert Aldrich aus dem Jahre 1962 nach dem Roman von Henry Farrell, die einen kritischen Blick hinter die Glitzer-Fassade Hollywoods warf, quälten sich Bette Davis und Joan Crawford als gestrandete Sternchen. Im Stuttgarter Kammertheater sind es Corinna Harfouch als Blanche und Catherine Stoyan als Jane - auch im wahren Leben Schwestern -, die sich in ihrer konkurrierenden Ruhm- und Eifersucht gegenseitig vernichten. Christian Weise, auch Spezialist für Slapstick und Skurriles, hat Regie geführt - und hat eine ausgewogene Balance gefunden zwischen psychodramatischer Zuspitzung und ironischer Brechung. Daraus entsteht die Spannung des Abends, der am Ende bejubelt wird, weil er getragen wird von zwei phänomenalen Hauptdarstellerinnen. „Rollstuhlhippe“, schreit Stoyan, „widerliches versoffenes Stück Scheiße“, kontert Harfouch. Solcher lustvoll hasserfüllter Schlagabtausch übertüncht zuweilen die Schwächen des Film-Stoffs, der auf eine Aufdeckung der gemeinsamen Familiengeschichte fast gänzlich verzichtet und boulevardesk an der Oberfläche des Schwesternkrieges bleibt.
Catherine Stoyan mit ihrem Faible für das komische Fach kann brillieren, weil sie das hohe Maß an Übertreibung, das ihre Rolle fordert, glaubwürdig als Attribute eines sich steigernden Wahnsinns zu ergründen weiß. Das ist hohe Schauspielkunst: die Grenzen, die die Darstellung psychisch gestörten Verhaltens bei Überschreitung schnell albern wirken lassen, auf den Millimeter genau auszuloten. Das gelingt ihr in plötzlichen Gewaltausbrüchen, wenn sie der am Boden liegenden Blanche im Blutrausch in die Nieren und ins Gesicht tritt, ebenso wie in hysterischen Heulkrämpfen, wenn sie besoffen in ihre Rolle als Kinderstar verfällt, immer und immer wieder die guten alten Zeiten heraufbeschwörend, als sie noch Papis Liebling war. Oder wenn sie ihrer Schwester auf dem Schoß sitzt, sich wie ein Baby von ihr trösten lässt, um ihr beim Aufstehen sofort wieder aggressiv Lügen zu unterstellen.
Corinna Harfouch muss im letzten Drittel mit blutigem Kopf und zugeklebtem Mund ans Bett gefesselt verharren. Jane hält die Zügel jetzt kürzer, nachdem sie erfahren hat, dass Blanche ihr Haus heimlich verkaufen will, um mit der Haushälterin zusammenzuziehen und Jane in eine Nervenklink einzuliefern. Harfouch ist grandios als Lästermaul und noch immer divenhafte Zicke: Wenn sie vor dem Fernseher hockt und die x-te Wiederholung ihres Films „Mond über Manhattan“ anschaut, Regisseure als „Vollidioten“ und „Flachzangen“ beschimpft oder litaneiartig wiederholt, dieser Film habe nur wegen ihres Namens ein Vermögen eingespielt.
Blaue Flecken an den Oberarmen zeugen von Harfouchs hartem Proben- und Körpereinsatz: Akrobatisch, wie sie kopfüber rücklings die Treppe hinunterrutscht, um an das rettende Telefon zu gelangen. Bis zum letzten Augenblick behält sie ihre Grandezza, wenn sie, schon blutend am Boden liegend, den ahnungslosen Musiker Edwin anfährt: „Könnten Sie mir bitte mal helfen?“
Wer hier Täterin ist und wer Opfer, bleibt in der Waage. Blanche hat ihre Schwester mit einer Lüge lebenslang an sich gefesselt. Jane glaubt noch immer, sie sei schuld am schlimmen Unfall. Zwei Opfer einer Lebenslüge - und ein drittes: Jane erschlägt die Haushälterin (Anna Windmüller). Sie wusste zuviel.
Drama mit Live-Musik
In dieser Isolationshölle spielen andere Personen so gut wie keine Rolle. Das Stuttgarter Ensemble kommt vor allem als Telefonstimme oder als Nachbarin zum kurzen Einsatz. Außer Benjamin Grüter, der den arbeitslosen Musiker Edwin mimt, den Jane sich kauft, um an ihrem Comeback als Shirley-Temple-Verschnitt zu arbeiten. Grüter, neben Katharina Ortmayr als skurriler Mutti-Mutter im schrägen Oma-Outfit mit verkorkster Perücke (Kostüme: Andy Besuch), ist die Lachnummer des Abends: fantastisch in seiner Verklemmtheit, seiner aufgesetzten Geschäftigkeit, seinem schnöden Überlebensdrang. Ja, und er spielt ganz ordentlich Klavier: Beethovens Mondscheinsonate, erster Satz.
Überhaupt ist es einer der attraktiven Kennzeichen des Regie-Stils Weises, Schauspieler auch musikalisch zu fordern. Das hat in Stuttgart schon einige große Theateraugenblicke gebracht, und auch Catherine Stoyan kann mit ihrer Varieté-Kindergesangsnummer „Brief an meinen Papi“ punkten. Ohnehin setzt Weise Live-Bühnenmusik immer sehr geschickt zur Taktung seiner Stücke ein. An diesem Abend sorgen Jens Dohle und Falk Effenberger mit saftigem E-Gitarren- und Synthie-Sound für atmosphärisch dichte Übergänge in den regelmäßigen szenischen Breaks, die den Abend strukturieren und spannend halten.
Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 4. März 2013. Premiere war 2. März.
eduarda - 5. Mär, 08:58