Das Sein im Schein suchen
Thomas Dannemann inszeniert Jean Genets ehemaliges Skandalstück „Der Balkon“ am Stuttgarter Staatsschauspiel
Stuttgart - Theaterblut rinnt von der Decke auf den Bühnenboden, bis der Eimer fast voll ist. Getroffen von einer irrlaufenden Kugel der Revolutionäre hat es Arthur, Irmas gefügigen Zuhälter, im Puff dahingerafft. Spiel oder Realität? Madame Irma ist die Königinmutter eines Bordells mit Spezialisierung. Im „Haus der Illusionen“ darf jeder kleine Mann sich zum Sex in staatstragende Rollen und Kostüme werfen: als Richter eine vermeintliche Diebin foltern, als Bischof sich von rosa blinkenden Dildos befriedigen lassen, als General die „stolze Stute“ reiten. Die hat in Thomas Dannemanns Stuttgarter Staatsschauspiel-Inszenierung von Jean Genets „Der Balkon“ in einer von der Dramaturgin Beate Seidel leicht bearbeiteten Fassung pink illuminierte Hufe angeschnallt (Kostüme: Regine Standfuss) und scheint durch den Raum zu schweben, ohne je wirklich Körperkontakt zu ihrem Kunden zu haben.
Meistens bleiben die Hosen an
Der Spielcharakter der Sexszenen wird im Kammertheater stets zur Schau gestellt: „Kannst du mal einen Augenblick weiterwürgen?“, bittet der Richter seinen Gehilfen Arthur (Dino Scandariato), als ihn beim Kopf-ins-Waschbecken-Drücken seiner Gespielin ein Krampf im Arm elektrisiert. Zumindest dürfen die Akteure meist ihre Hosen anbehalten. Das Freudenhaus wird umtobt von einer blutigen Revolution, die der vermeintlich sicheren Traumwelt da drinnen immer mehr auf den Leib rückt, bis die Mauern durch Explosionen erschüttert werden. Zerstören kann sie das Bordell freilich nicht. Die Revolution, deren Anführer die Hure Carmen (Dorothea Arnold) zu ihrer Gallionsfigur erheben, mündet im Chaos. Traumwandlerisch werden die Rollenspieler des Bordells zur neuen Staatsmacht, mutieren zum echten General, Richter (Lutz Salzmann), Bischof - und Madame Irma zur neuen Königin. Es ist kein bestimmter Aufstand gemeint, obwohl einmal „Lügenpack“-Skandieren hörbar wird.
Genets Skandalstück von 1957, das das Theater seinerzeit in eine amoralische Anstalt verwandelte, kann heute nicht mehr wirklich schockieren. Sein Spiel mit Sein und Schein, mit Realität und Rolle, Bild und Spiegelbild aber ist gerade in Zeiten des Internets und seiner virtuellen Parallelwelten wieder hochaktuell. Doch solcherlei Querverweise vermeidet Thomas Dannemann. Sein Bischof (Rainer Philippi) ist nicht Mixa, und es gibt keine Videoprojektionen. Dannemanns Übertragung des Stücks in die heutige Zeit ist subtiler. Er vertraut ganz auf die Mittel des Theaters. Sein Zugriff ist spielerisch-komödiantisch, bezieht die Theatersituation in das Vexierspiel um die Wirklichkeit mit ein.
Es geht dem Regisseur offenbar um die allgemeine Verunsicherung eines hermetisch abgeschlossenen Raums. Das Publikum wird zu potenziellen Kunden im Bordell, sitzt mit auf der Bühne, muss einmal gar die Stühle selbst umstellen, um neuen Platz in der Mitte zu schaffen. Zuvor saß man zur komplett verspiegelten Wand gerichtet. Die Zuschauer sahen sich selbst, die Darsteller lösten sich aus ihren Reihen, spielten hinter ihnen und dazwischen.
Publikum und Spielende, Theater und Realität verschmelzen in der Spiegelung. Eine Frau in der ersten Reihe wird vom sonst eher uncharmanten, latent gewalttätigen Polizeipräsidenten (Boris Koneczny) zum Tanz aufgefordert und legt eine flotte Sohle aufs Parkett. Die Kumpanei zwischen doppelten Rollenspielern und Zuschauern scheint zu funktionieren. Die Bühne auf der Bühne (Bühnenbild: Cary Gayler) tut ihr übriges.
Trefflich besetzt
Durchweg trefflich besetzt ist diese bemerkenswerte Produktion. Lisa Bitter gibt das Objekt der diversen Begierden genauso spielfreudig wie Jan Krauter den zwielichtigen Gesandten der Königin oder Rahel Ohm die Travestie des morbiden, wuchtig-direkten Generals. Differenzierend verleiht Astrid Meyerfeldt der Irma die unterschiedlichsten Gesichter - revolutionsdiffamierende Spießerin, bürgerliche Geschäftsfrau oder ängstliche Geliebte. Durch feine Komik zeichnet Boris Burgstaller seiner Minirolle des (fast) nackten Masochisten Kontur ein: Etwa wenn er der Geisha schüchtern eine paar Blümchen hinhält, sie diese mit einem Handkantenschlag köpft und er sich leise weinend verzieht.
Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 14.11. Die Premiere war am 12.11.
Stuttgart - Theaterblut rinnt von der Decke auf den Bühnenboden, bis der Eimer fast voll ist. Getroffen von einer irrlaufenden Kugel der Revolutionäre hat es Arthur, Irmas gefügigen Zuhälter, im Puff dahingerafft. Spiel oder Realität? Madame Irma ist die Königinmutter eines Bordells mit Spezialisierung. Im „Haus der Illusionen“ darf jeder kleine Mann sich zum Sex in staatstragende Rollen und Kostüme werfen: als Richter eine vermeintliche Diebin foltern, als Bischof sich von rosa blinkenden Dildos befriedigen lassen, als General die „stolze Stute“ reiten. Die hat in Thomas Dannemanns Stuttgarter Staatsschauspiel-Inszenierung von Jean Genets „Der Balkon“ in einer von der Dramaturgin Beate Seidel leicht bearbeiteten Fassung pink illuminierte Hufe angeschnallt (Kostüme: Regine Standfuss) und scheint durch den Raum zu schweben, ohne je wirklich Körperkontakt zu ihrem Kunden zu haben.
Meistens bleiben die Hosen an
Der Spielcharakter der Sexszenen wird im Kammertheater stets zur Schau gestellt: „Kannst du mal einen Augenblick weiterwürgen?“, bittet der Richter seinen Gehilfen Arthur (Dino Scandariato), als ihn beim Kopf-ins-Waschbecken-Drücken seiner Gespielin ein Krampf im Arm elektrisiert. Zumindest dürfen die Akteure meist ihre Hosen anbehalten. Das Freudenhaus wird umtobt von einer blutigen Revolution, die der vermeintlich sicheren Traumwelt da drinnen immer mehr auf den Leib rückt, bis die Mauern durch Explosionen erschüttert werden. Zerstören kann sie das Bordell freilich nicht. Die Revolution, deren Anführer die Hure Carmen (Dorothea Arnold) zu ihrer Gallionsfigur erheben, mündet im Chaos. Traumwandlerisch werden die Rollenspieler des Bordells zur neuen Staatsmacht, mutieren zum echten General, Richter (Lutz Salzmann), Bischof - und Madame Irma zur neuen Königin. Es ist kein bestimmter Aufstand gemeint, obwohl einmal „Lügenpack“-Skandieren hörbar wird.
Genets Skandalstück von 1957, das das Theater seinerzeit in eine amoralische Anstalt verwandelte, kann heute nicht mehr wirklich schockieren. Sein Spiel mit Sein und Schein, mit Realität und Rolle, Bild und Spiegelbild aber ist gerade in Zeiten des Internets und seiner virtuellen Parallelwelten wieder hochaktuell. Doch solcherlei Querverweise vermeidet Thomas Dannemann. Sein Bischof (Rainer Philippi) ist nicht Mixa, und es gibt keine Videoprojektionen. Dannemanns Übertragung des Stücks in die heutige Zeit ist subtiler. Er vertraut ganz auf die Mittel des Theaters. Sein Zugriff ist spielerisch-komödiantisch, bezieht die Theatersituation in das Vexierspiel um die Wirklichkeit mit ein.
Es geht dem Regisseur offenbar um die allgemeine Verunsicherung eines hermetisch abgeschlossenen Raums. Das Publikum wird zu potenziellen Kunden im Bordell, sitzt mit auf der Bühne, muss einmal gar die Stühle selbst umstellen, um neuen Platz in der Mitte zu schaffen. Zuvor saß man zur komplett verspiegelten Wand gerichtet. Die Zuschauer sahen sich selbst, die Darsteller lösten sich aus ihren Reihen, spielten hinter ihnen und dazwischen.
Publikum und Spielende, Theater und Realität verschmelzen in der Spiegelung. Eine Frau in der ersten Reihe wird vom sonst eher uncharmanten, latent gewalttätigen Polizeipräsidenten (Boris Koneczny) zum Tanz aufgefordert und legt eine flotte Sohle aufs Parkett. Die Kumpanei zwischen doppelten Rollenspielern und Zuschauern scheint zu funktionieren. Die Bühne auf der Bühne (Bühnenbild: Cary Gayler) tut ihr übriges.
Trefflich besetzt
Durchweg trefflich besetzt ist diese bemerkenswerte Produktion. Lisa Bitter gibt das Objekt der diversen Begierden genauso spielfreudig wie Jan Krauter den zwielichtigen Gesandten der Königin oder Rahel Ohm die Travestie des morbiden, wuchtig-direkten Generals. Differenzierend verleiht Astrid Meyerfeldt der Irma die unterschiedlichsten Gesichter - revolutionsdiffamierende Spießerin, bürgerliche Geschäftsfrau oder ängstliche Geliebte. Durch feine Komik zeichnet Boris Burgstaller seiner Minirolle des (fast) nackten Masochisten Kontur ein: Etwa wenn er der Geisha schüchtern eine paar Blümchen hinhält, sie diese mit einem Handkantenschlag köpft und er sich leise weinend verzieht.
Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 14.11. Die Premiere war am 12.11.
eduarda - 14. Nov, 10:58