Der Tanz steckt in den Knochen
Die spanische Tanzcompagnie Israel Galván bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen

Ludwigsburg - Die Stahlträger stehen da wie Marterpfähle. Die Männer und Frauen dahinter lehnen die müden Häupter daran. Arbeiter klappen die metallischen Tanzflächen hoch. Stück für Stück baut sich eine Mauer auf, bis die Zuschauer nichts mehr sehen von der Bühne.
Das rhythmische Klopfen dahinter erstirbt. Da hat der „Meister aus Deutschland“, der Tod, wieder zugeschlagen. Dieses erschütternde Bild steht am Schluss des Tanz-Musik-Dramas „Lo Real“ („Das Wirkliche“), mit dem der in Spanien nicht unumstrittene Star des Nuevo Flamenco, Israel Galván, gemeinsam mit seiner sevillanischen Tanzcompagnie bei den Ludwigsburger Festspielen gastierte. Galván wagt in „Lo Real“ als Tänzer und Choreograph eine Gratwanderung, indem er zwei Ebenen verbindet: die Geschichte der Verfolgung und Ermordung der Sinti und Roma im „Dritten Reich“ und die magische Anziehungskraft, die der Flamenco, die Lieder und Tänze der von ihr Verfolgten auf die NS-Kulturelite ausübte.
Riefenstahl mit Sonnenbrille
Galván, selbst Spross einer Gitano-Familie, kam zu „Lo Real“ durch die Beschäftigung mit Leni Riefenstahls Film „Tiefland“ von 1940. In „Tiefland“ trat die Regisseurin selbst als Flamenco-Tänzerin in Erscheinung und ließ sich als Statisten aus den KZs Sinti und Roma holen, die dann nach Abschluss der Dreharbeiten in den Gaskammern ermordet wurden. Riefenstahl taucht als Figur in „Lo Real“ auf: Sie legt mit Sonnenbrille, in Frack und Rock einen Flamenco aufs Parkett - ironisiert zum steifen, geglätteten, auf die Verbreitung erotischer Lebensfreude zielenden Klischeetanz mit Kastagnetten.
Das Bild der hermetischen KZ-Mauer am Ende schließt den Bogen aus einzelnen Szenen, die meist von Galván, Isabel Bayón und Belén Maya solo getanzt werden und die grotesk verzerrte Körperlichkeit mit schmerzerfüllter und gepeinigter vereinen. Schon der Beginn berührt auf eigenartige Weise: Galván, einerseits mit nacktem, schutzlosem Oberkörper, andererseits in schwarzer SS-Uniformhose, scheint Opfer und Täter zugleich zu tanzen: Die breiten Hosenträgern dienen mal als Peitsche, mal als Fessel. Sein Bewegungskosmos aus traditionellem Flamenco, wie rasant klackenden Fußsohlen und Biegungen bis in die Fingerspitzen, aus Pantomime, Modern Dance und Bodypercussion macht es ihm möglich, in fließenden Übergängen vom gequälten Sich-Winden ins zackige Exerzieren zu verfallen, aus dem sich immer wieder ein Hitlergruß herauskristallisiert. Die „Musik“ dazu macht ein wärterähnlicher Mann, der zwei Ruten rhythmisch durch die Luft zischen lässt.
Es ist die Abstraktion der Geschehnisse, die mehr das Unbewusste und das assoziative Denken anspricht, als rational und deutlich fassbar zu sein. Das ist die Stärke dieser Produktion, die auf diese Weise jegliche Sentimentalität vermeidet und Bilder schafft, die noch lange in Erinnerung bleiben: Ein altes Klavier steht hochkant. Die Tastatur nur noch schütter: wie ein Mund mit ausgeschlagenen Zähnen. Galván tritt, schlägt auf den maroden Korpus ein, bohrt seine Schuhe in die Saiten, prügelt die Musik heraus. Ein zerstörtes Piano als Symbol für den gepeinigten Körper und die Seele, die erstirbt. Später zieht einer, als seien es Gedärme, fünf Seile daraus hervor, die zum KZ-Elektrozaun gespannt werden, in dem eine fliehende Gefangene sich zuckend windet. Tod und Tanz gehen Hand in Hand, immer angetrieben von den harten, schnellen, mal stampfenden, mal filigranen Rhythmen des Flamenco, der auch Paul Celans hastig, atemlos auf Spanisch rezitierte „Todesfuge“ befeuert.
Die sieben Musiker gehen Galváns Gratwanderung mit. Im traditionell gaumigen, vibrierenden Trauergesang, im virtuosen Flamenco-Gitarrenspiel, im Händeklatschen entfalten sich die Rhythmen und Melodien von Granaínas, Malagueñas und Verdiales. Gebrochen wird die ursprüngliche Musik durch harten Schlagzeugeinsatz, Saxofonschreie, Geigenflageoletts oder das Jaulen eines Theremins - eine Klangwelt, die für das Grauen des NS-Terrors steht und am Ende kulminiert: in schrillen, kalten seelenlosen Elektroklängen, im Kreischen der Stahlträger, die über den Boden geschleift werden, im Stampfen und Quietschen der Lokomotiven, die die Sinti und Roma, in Viehwagen gepfercht, nach Auschwitz transportieren.
Aufrüttelnd ist dieser Abend, anregend und kraftstrotzend in seiner künstlerischen Energie. Bei der Uraufführung von „Lo Real“ im Dezember in Madrid verließ ein Teil des Publikums verärgert den Saal. Die Zuschauer im voll besetzten Forum riss es aus den Sitzen.
Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 6. Mai 2013. Die Aufführung fand statt am 4. Mai.

Ludwigsburg - Die Stahlträger stehen da wie Marterpfähle. Die Männer und Frauen dahinter lehnen die müden Häupter daran. Arbeiter klappen die metallischen Tanzflächen hoch. Stück für Stück baut sich eine Mauer auf, bis die Zuschauer nichts mehr sehen von der Bühne.
Das rhythmische Klopfen dahinter erstirbt. Da hat der „Meister aus Deutschland“, der Tod, wieder zugeschlagen. Dieses erschütternde Bild steht am Schluss des Tanz-Musik-Dramas „Lo Real“ („Das Wirkliche“), mit dem der in Spanien nicht unumstrittene Star des Nuevo Flamenco, Israel Galván, gemeinsam mit seiner sevillanischen Tanzcompagnie bei den Ludwigsburger Festspielen gastierte. Galván wagt in „Lo Real“ als Tänzer und Choreograph eine Gratwanderung, indem er zwei Ebenen verbindet: die Geschichte der Verfolgung und Ermordung der Sinti und Roma im „Dritten Reich“ und die magische Anziehungskraft, die der Flamenco, die Lieder und Tänze der von ihr Verfolgten auf die NS-Kulturelite ausübte.
Riefenstahl mit Sonnenbrille
Galván, selbst Spross einer Gitano-Familie, kam zu „Lo Real“ durch die Beschäftigung mit Leni Riefenstahls Film „Tiefland“ von 1940. In „Tiefland“ trat die Regisseurin selbst als Flamenco-Tänzerin in Erscheinung und ließ sich als Statisten aus den KZs Sinti und Roma holen, die dann nach Abschluss der Dreharbeiten in den Gaskammern ermordet wurden. Riefenstahl taucht als Figur in „Lo Real“ auf: Sie legt mit Sonnenbrille, in Frack und Rock einen Flamenco aufs Parkett - ironisiert zum steifen, geglätteten, auf die Verbreitung erotischer Lebensfreude zielenden Klischeetanz mit Kastagnetten.
Das Bild der hermetischen KZ-Mauer am Ende schließt den Bogen aus einzelnen Szenen, die meist von Galván, Isabel Bayón und Belén Maya solo getanzt werden und die grotesk verzerrte Körperlichkeit mit schmerzerfüllter und gepeinigter vereinen. Schon der Beginn berührt auf eigenartige Weise: Galván, einerseits mit nacktem, schutzlosem Oberkörper, andererseits in schwarzer SS-Uniformhose, scheint Opfer und Täter zugleich zu tanzen: Die breiten Hosenträgern dienen mal als Peitsche, mal als Fessel. Sein Bewegungskosmos aus traditionellem Flamenco, wie rasant klackenden Fußsohlen und Biegungen bis in die Fingerspitzen, aus Pantomime, Modern Dance und Bodypercussion macht es ihm möglich, in fließenden Übergängen vom gequälten Sich-Winden ins zackige Exerzieren zu verfallen, aus dem sich immer wieder ein Hitlergruß herauskristallisiert. Die „Musik“ dazu macht ein wärterähnlicher Mann, der zwei Ruten rhythmisch durch die Luft zischen lässt.
Es ist die Abstraktion der Geschehnisse, die mehr das Unbewusste und das assoziative Denken anspricht, als rational und deutlich fassbar zu sein. Das ist die Stärke dieser Produktion, die auf diese Weise jegliche Sentimentalität vermeidet und Bilder schafft, die noch lange in Erinnerung bleiben: Ein altes Klavier steht hochkant. Die Tastatur nur noch schütter: wie ein Mund mit ausgeschlagenen Zähnen. Galván tritt, schlägt auf den maroden Korpus ein, bohrt seine Schuhe in die Saiten, prügelt die Musik heraus. Ein zerstörtes Piano als Symbol für den gepeinigten Körper und die Seele, die erstirbt. Später zieht einer, als seien es Gedärme, fünf Seile daraus hervor, die zum KZ-Elektrozaun gespannt werden, in dem eine fliehende Gefangene sich zuckend windet. Tod und Tanz gehen Hand in Hand, immer angetrieben von den harten, schnellen, mal stampfenden, mal filigranen Rhythmen des Flamenco, der auch Paul Celans hastig, atemlos auf Spanisch rezitierte „Todesfuge“ befeuert.
Die sieben Musiker gehen Galváns Gratwanderung mit. Im traditionell gaumigen, vibrierenden Trauergesang, im virtuosen Flamenco-Gitarrenspiel, im Händeklatschen entfalten sich die Rhythmen und Melodien von Granaínas, Malagueñas und Verdiales. Gebrochen wird die ursprüngliche Musik durch harten Schlagzeugeinsatz, Saxofonschreie, Geigenflageoletts oder das Jaulen eines Theremins - eine Klangwelt, die für das Grauen des NS-Terrors steht und am Ende kulminiert: in schrillen, kalten seelenlosen Elektroklängen, im Kreischen der Stahlträger, die über den Boden geschleift werden, im Stampfen und Quietschen der Lokomotiven, die die Sinti und Roma, in Viehwagen gepfercht, nach Auschwitz transportieren.
Aufrüttelnd ist dieser Abend, anregend und kraftstrotzend in seiner künstlerischen Energie. Bei der Uraufführung von „Lo Real“ im Dezember in Madrid verließ ein Teil des Publikums verärgert den Saal. Die Zuschauer im voll besetzten Forum riss es aus den Sitzen.
Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 6. Mai 2013. Die Aufführung fand statt am 4. Mai.
eduarda - 6. Mai, 12:49