Donnerstag, 14. März 2013

„Det is die Berliner Luft, Luft, Luft“

Sozialkritische Groteske: Der Einakter „Rudimentär“ des Expressionisten August Stramm in der Stuttgarter Tri-Bühne

Kampfszenen in der Dachmansarde: Der arbeitslose Willi (Nickel Bösenberg) und seine Gefährtin Marjell (Susan Ihlenfeld) kriegen sich vor lauter Elend in die Wolle. (Foto: Stefan Kirchknopf)

Stuttgart - Schriftstellerkollege Kurt Schwitters urteilte über ihn: „Die Verdienste Stramms um die Dichtung sind sehr.“ Ein solcher Nonsens-Satz dürfte August Stramm, dessen Einakter „Rudimentär“ jetzt in der Stuttgarter Tri-Bühne als Kooperation mit den Thêatres de la Ville de Luxembourg Premiere hatte, gefallen haben. „Rudimentär“ ist ein schwarzhumoriges Stück mit explosivem Inhalt.

„Rudimentär“ steht dick auf dem Zeitungsblatt, das kopfüber an der Wand einer kleinen Berliner Dachmansarde klebt und immer wieder die Aufmerksamkeit des jungen Mannes auf sich zieht, der eigentlich gerade damit beschäftigt ist, sich mit seiner Gefährtin umzubringen. Der Gashahn ist schon aufgedreht. Aber das fremdartige Wort, dessen Bedeutung sich dem Manne entzieht, lenkt ihn immer wieder ab. „Ru-di-menta“, brabbelt er nachdenklich, „wie det klingt“. „Rudi wat?“, fragt die junge Frau.

Desolate Zustände

August Stramm, ein dichtender Postinspektor, der mit experimenteller Lyrik und Theaterstücken seinerzeit für Furore sorgte und heute zu den bedeutenden Expressionisten gezählt wird, kam 41-jährig als Kompanieführer im Ersten Weltkrieg um. In „Rudimentär“ von 1910 nahm er einerseits naturalistisch und sozialkritisch die desolaten Zustände in Berlin aufs Korn, das durch die rasante Industrialisierung aus allen Nähten platzte. Seine beiden Protagonisten Willi und Marjell sind arbeitslos, arm und hungrig und müssen ihre Behausung - eine winzige Bruchbude, die mit alten Zeitungen tapeziert ist und nur ein großes Bett, Herd und eine Wäscheleine beherbergt - auch noch mit einem Chauffeur als Schlafgänger teilen.

Andererseits ist Stramms Bühnenpersonal ein grober, tumber Haufen, der sich beinahe gegenseitig umbringt und nur nebenbei bemerkt, dass der Säuglingsnachwuchs bereits das Zeitliche gesegnet hat. „Det kricht ja keene Luft nich“, schreit die Mutter theatralisch, „Jott, Fränzken, wir haben dir jemordet“.

Der Plan der Selbstentleibung tritt ohnehin bald in den Hintergrund. Der vom vermeintlich ausströmenden Gas erwartete Tod will nicht eintreten. Man findet noch eine Flasche Schnaps, dafür lohnt es sich ja zu leben. Oder doch zu sterben? Es geht deftig zur Sache: Im Kampf um die Branntweinpulle tritt Marjell Willi zwischen die Beine, der haut ihr die Faust auf die Nase. Der eintreffende Chauffeur, der sein Schlaflager in Anspruch nehmen will, hat auch nichts anderes im Sinne, als Marjell an die Wäsche zu gehen - freilich für ein paar Münzen. Das schafft Mittel zur Nahrungsbeschaffung, aber auch Eifersucht. Gesichter werden gegen die Tür geschlagen, Füße gequetscht und Fäuste in Mägen gehauen. Am Ende stellt sich heraus, dass das Gas abgestellt war. Man ist erleichtert, dass der „Kleene“ einen „natürlichen Tod“ starb, und geht raus auf die Straße - zum Flanieren.

Die kurzweilige Inszenierung von Jean-Paul Raths setzt in der Tri-Bühne auf schnellen, präzisen Kampf-Slapstick, in dem auch Metzgermesser durch die Gegend fliegen. Susan Ihlenfeld als Marjell, Nickel Bösenberg als Willi und Pitt Simon als Chauffeur gelingt es exzellent, in der Übertreibung doch auch die Gewalt der Verzweiflung aufscheinen zu lassen. So bleibt dem Publikum immer wieder das Lachen im Halse stecken.

Doppeldeutige Qualitäten

Raths belässt die Handlung im Berlin vor dem Ersten Weltkrieg, wie Bühnenbild und Kostüme von Gitti Scherer deutlich machen. Und am Anfang amüsieren kurze, uralte Stummfilmchen mit grimassierenden Menschen, albern tänzelnden wilhelminischen Polizisten und Quickies in Oldtimern. Dazu gibt’s stilecht Klänge vom Stummfilmpianisten Sebastian Huber, der auch nach dem Vorspann das Bühnengeschehen dezent musikalisch untermalt - immer wieder den Schlager „Det is die Berliner Luft“ zitierend, was angesichts eines offenen Gashahns doppeldeutige Qualitäten erhält.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 14. März 2013. Premiere war am 9. März.

Infos:
www.tri-buehne.de
Die nächsten Vorstellungen: 18. bis 21. April.

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