Mittwoch, 14. Dezember 2011

Die Liebe ist kein Zuckerschlecken

Das Stuttgarter Theater Rampe macht Georges Bizets Oper „Carmen“ zum wilden Kammerspiel

Valerie Oberhof (l.), Martin Gerke und Ulrike Schwab in Alvaro Schoecks „Carmen“-Inszenierung. (Foto: Dreher/Rampe)

Stuttgart - So wie der Stierkampf als Gemetzel zweier Geschöpfe auf Leben und Tod enden kann, so ist es auch in der Liebe. Zumindest wenn man sich den Inhalt von Georges Bizets „Carmen“-Oper vergegenwärtigt. Am Ende meuchelt der eifersüchtige Don José seine in Beziehungsfragen recht freizügige Ex-Geliebte Carmen, während sein Konkurrent Escamillo in der Arena von Sevilla einen Stier niederstreckt.

Schon der große Peter Brook hat 1981 „Carmen“ von jeglicher „Zigeuner“-Romantik, großen Chortableaus und Balletts, von Zigarettenfabrik, Taverne und Schmugglern befreit, um zum Kern des Stückes vorzustoßen - auf sein intimes Beziehungsdrama zwischen den vier Protagonisten: der unabhängigen Carmen, dem Sergeanten Don José, dem Bauernmädel Micaëla und dem Torero Escamillo. Und ganz im Sinne von Jerzy Grotowskis „Armem Theater“ verzichtete Brook dabei auf den großen Theaterapparat, verwandelte die Dreistunden-Oper in ein intimes 80-Minuten-Kammerspiel. Er tastete dabei allerdings nicht die Sphäre des Schöngesangs an.

Anarchische Freude am Experiment

80 Minuten lang ist auch die „Carmen“-Version von Alvaro Schoeck (Text) und Nadezda Tseluykina (Musik), die man jetzt im Stuttgarter Theater Rampe sehen kann. Auch sie reduziert die Personage auf die vier Hauptcharaktere. Sie geht in ihrer Freilegung des im Werk schlummernden emotionalen Realismus und in der Verstärkung der ironisierten Personencharakterisierung, die schon bei Bizet angelegt ist, allerdings so weit, dass sie das Herz dieses Kunstwerks, seine Musik, stark beschädigt. Sie tut dies wiederum mit einer derart anarchischen Freude am Experiment und so konsequent, dass man sich von dieser Inszenierung des Schweizer Regisseurs Alvaro Schoeck­ nach anfänglichem Bedenken am Ende doch überwältigen lässt - vor allem natürlich dank des ungemein vital und enthemmt agierenden Darstellerquartetts.

Schoeck lässt Carmen und Don José von zwei Schauspielern singen. Micaëla und Escamillo dagegen werden von Opernsängern dargestellt. Nadezda Tseluykina spielt den Orchesterpart am Flügel unterstützt von Saxofonist Andrej Lakisov. Der Regisseur hat seinen Sigmund Freud gelesen, für den Aggression ein Trieb war, der durch das Gleichgewicht zwischen zerstörerischem Todes- und harmonisierendem Liebestrieb in Schach gehalten wird. In der Rampe läuft er völlig aus dem Ruder. Valerie Oberhof als Carmen und Yannick Zürcher als Don José brüllen sich beständig an und gehen sich an die Gurgel. Ihre Dialoge laufen im Hamsterrad: Endlos etwa wechseln die Phrasen „Ich bin ein Mörder“ (Don José), „Ich liebe Mörder“ (Carmen), ins Absurde steigert sich auch der Streit um Carmens Kastagnetten: „Wo sind sie schon wieder, ich hasse es, wenn sie nicht daliegen, wo sie hingehören.“

Immer wieder geht die Musik unter in orgiastischem Gebrüll. Zwischen Dauerknutschen und schrillem Pfeifen auf zwei Fingern singt Oberhof die berühmte „Habanera“, als sei Carmen die Seeräuber-Jenny, während Don José sein Liebeslied einleitet mit „Schnauze halten, Ohren spitzen und zuhören“, um es dann brüchig und sehr leise zum Besten zu geben. Man kann nicht sagen, dass das Unvollkommene weniger nahegeht als die Vollversion - wenn man sich darauf einlässt. Glänzend inszeniert ist der finale Mord an Carmen: Don José ersticht sie nicht, sondern erdrückt sie in der Umarmung.

Die Bühne von Merle Vierck und Christina Schmitt gibt Einblicke in zwei ländliche Behausungen. Don Josés Reich: eine Scheune voller Orangenkisten. Martin Gerke als Torero liegt meist lethargisch auf dem Boden eines Stalls, dessen Wände Stierkämpferutensilien und ein Altärchen schmücken. Steht er auf, schauen seine Augen misstrauisch und leicht wahnsinnig in die Welt. Ein in sich Gefangener, der sich während seines Toreroliedes auf dem Boden windet, während Carmen über ihn herfällt. Ulrike Schwab alias Micaëla, die Don José nicht kriegen kann, wandelt zwischen den Paarungen herum wie ein Bote aus einer anderen Welt - in Wanderschuhen, die ein Motiv der Romantik zitieren ebenso wie die eingangs gespielte Schumann'sche „Träumerei“.

Nadezda Tseluykinas Bearbeitung zieht ihre Kraft aus der rhythmischen Gewalt der Musik, die sie gelegentlich ins völlige Chaos münden lässt. Ein großer, magischer Theatermoment ist, wenn sie am Klavier den „Dance Bohéme“ intoniert, dann wie in Trance aufsteht und sich jetzt offenbart, dass die Musik eigentlich vom Band kommt: Und sich nun zu diesem Tanz, der sich von schnippisch-koketter Flöterei langsam in die wild-peitschende Raserei steigert, ein völlig enthemmter Hüpf-Reigen ums Bühnenbild entlädt, in dem sich alle Darsteller in den verrücktesten Verkleidungen zeigen - im Baströckchen, als Tannenbaum, mit dem Teufel im Gepäck. Die Liebe ist eben ein „rebellischer Vogel“, der nicht zu zähmen ist.

Wer die Schönheit in Bizets Musik sucht, mag diese Produktion meiden. Wer die draufgängerische Lust am Experiment liebt, sollte sie auf keinen Fall verpassen.

Weitere Aufführungen: 14. bis 17. und 27. bis 30. Dezember sowie 3. bis 7. Januar 2012, jeweils 20 Uhr. Am 26. Dezember findet eine Vorstellung um 18 Uhr statt, an Silvester gibt es zwei Aufführungen (16 und 20.30 Uhr).

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 13.12.2011 und die Zeitschrift "Kultur", Premiere war am 9.12.

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