Samstag, 8. September 2012

Die Todsünde der Übertreibung

Musikfest Stuttgart: Ute Lemper singt im Theaterhaus Musik von Kurt Weill, Tangos und französische Chansons

Forcierend: Ute Lemper (mit Dirigent Markus Huber). (Foto: Bachakademie/Holger Schneider)

Stuttgart - Es gibt ein schönes Fremdwort für jene Übertreibung, die manche Bühnenkünstler ihren Rollen gelegentlich angedeihen lassen: outrieren. Das bedeutet: dick auftragen. Die Musicaldarstellerin und Chansonsängerin Ute Lemper outriert am laufenden Band. Zumindest tat sie das bei ihrem Auftritt beim Musikfest im ausverkauften großen Saal des Stuttgarter Theaterhauses, wo sie in Begleitung der fröhlich aufspielenden Südwestdeutschen Philharmonie Konstanz in der Leitung Markus Hubers ein Programm mit Werken von Kurt Weill und Bertolt Brecht sowie mit Tangos von Astor Piazzolla und französischen Chansons zum Besten gab.

Verzerrte Rollenauslegung

Lemper übertrieb, was die Mimik angeht, und sie übertrieb, was die musikalische Artikulation betrifft. Das verzerrte ihre Rollenauslegung der doppelten Anna in Kurt Weills und Bertolt Brechts „Die sieben Todsünden der Kleinbürger“ derart, dass es nicht einmal andeutungsweise klar wurde, wen oder was sie dort eigentlich auf der Bühne darstellen will. Einen betrunkenen Clown? Eine Verrückte? Eine Sängerin, die gerade erfolglos versucht, die Femme fatale zu spielen? Sie übersang auch die Zweigeteiltheit der Anna, die in diesem Stück von ihrer doppelmoralischen Kleinbürgerfamilie in die Welt geschickt wird, um - sich selbst verratend und letztlich prostituierend, sich in Ware und Verkäuferin spaltend - das Geld für ein Eigenheim am Mississippi zu verdienen. Ohnehin sollte in diesem „Ballett mit Gesang“ die zweite, die nur wenige Worte sprechende Anna (im Original eine Tanzrolle) eigentlich von einer anderen Person übernommen werden. Aber warum setzte Ute Lemper in dieser konzertanten Aufführung ihre Übertreibungskunst gerade dort, wo sie sinnvoll gewesen wäre, nämlich zur Differenzierung der beiden gegensätzlichen Anna-Ichs, gar nicht ein?

Lemper sang die von Wilhelm Brückner-Rüggeberg um eine Quarte tiefer transponierte Fassung der „Sieben Todsünden“. Aber im oberen Register blieb ihre hochgepresste Bruststimme in der Intonation vage und wurde durchs Mikrofon noch zusätzlich eingeschrillt, die Registerwechsel gelangen nur unsauber. Immer wieder driftete Lemper in einen fragwürdigen Sprechgesang ab, und das extreme Grimassieren wirkte mehr unfreiwillig denn gewollt komisch.

Sehr klangschön und doch mit der nötigen ironischen Brechung gestaltete das Herrenquartett mit den Tenören Jean-Pierre Ouellet und Wolfgang Frisch sowie den Bässen Philipp J. Kaven und Stefan Müller-Ruppert die habgierige, verlogene Familie Annas. Und das Orchester lieferte spielfreudig den sinfonischen Begleit-Sound zum Stück.

In den Kostproben, die Lemper dann aus ihrem Tango-Programm gab, forcierte sie die Überspanntheit ihrer Darbietung sogar noch und brachte dadurch Astor Piazzollas „Yo soy Maria“ und „La última grela“ an den Rand der ungewollten Parodie. Es wirkte weder authentisch noch überzeugend gesungen, was da in die Ohren drang. Gerade die große Emotionalität dieser Musik verlangt zurückhaltende Gestik und Mimik und feine Ausdrucknuancen, um glaubwürdig zu sein.

In der Ruhe liegt die Ausdruckskraft


Letzteres gelang Ute Lemper erst ganz am Ende ihrer Show, nämlich in Chansons von Jaques Brel und besonders in Norbert Glanzbergs „Padam Padam“, das an diesem Abend in einem sehr reizvollen, tonmalerischen Orchester-Arrangement aufgeführt wurde. Jetzt schien Lemper endlich jene innere Ruhe gefunden zu haben, in der die Ausdruckskraft liegt. Großen Teilen des Publikums schien allerdings der gesamte Abend gut gefallen zu haben: Es bedankte sich mit Bravo-Rufen und Standing Ovations.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 8. September. Das Konzert war am 6. September.

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