Ein Himmel voller Mikros
"Dancer in the Dark" – Lars von Trier am Stuttgarter Staatstheater spartenübergreifend inszeniert

Stuttgart - Auf die Frage, warum seine Filmfiguren stets Höllenqualen ertragen müssen, antwortete der dänische Regisseur Lars von Trier einmal: "Ein Film muss weh tun wie ein Stein im Schuh. Es gibt doch keinen anderen Grund, ins Kino zu gehen. Wenn man was Schönes erleben will, ist Sex dazu besser. Oder Kanufahren." Höllenqualen erleidet auch Selma in Lars von Triers von Musik- und Tanzszenen durchzogenem "Dancer in the Dark" aus dem Jahr 2000: Die erblindende Fabrikarbeiterin sammelt ihren kargen Lohn in einer Keksdose, um die Augenlicht rettende Operation ihres geliebten Sohns zu finanzieren, dem sie ihre Krankheit vererbte.
Vor dem trostlosen Fabrikalltag flüchtet sie sich träumend in die rosarote Welt des Musicals, verursacht aus Unachtsamkeit einen Maschinenschaden und wird entlassen. Das ersparte Geld klaut der Nachbar, um die eigene Verschuldung zu mildern. Selma erschießt ihn im Kampf um ihr Erspartes. Dafür wird sie am Ende, ihr Unglück passiv erduldend, zum Tode verurteilt und gehängt. Das Geld für den Rechtsanwalt sparte sie für die Sehkraft des Sohnes.
Kühle Abstraktion
Der Film "Dancer in the Dark", für den der Regisseur die isländische Popikone Björk als Komponistin und Hauptdarstellerin gewinnen konnte, ist die pralle Frucht einer kongenialen, kräftezehrenden Zusammenarbeit zweier kompromissloser Künstler. Und er ist im Zusammenwirken von Bild, Musik und dem hohen Identifikationsstreben der Hauptdarstellerin mit ihrer Rolle von ungeheurer, zuweilen kaum zu ertragender Intensität.
Will ein Theater eine solche Vorlage für seine Zwecke adaptieren, muss es sich die Frage stellen, was es dem Film gegenüber an Mehrwert zu bieten hat. In Stuttgart, in der Interimsspielstätte "Nord" des Schauspiels des Staatstheaters, ging man jetzt immerhin einen sehr eigenen Weg: Im Gegensatz zum Film, der auf krasse Authentizität zielt, setzt man hier auf kühle Distanz und Abstraktion. Die Bühne ist schwarz und leergeräumt. Von der Decke baumelt an langen Kabeln ein Himmel voller Mikrofone – Reminiszenz an Selmas Traum vom Musicalstar-Dasein. Später denkt man an Gitterstäbe und an den Strang, der Selmas Leben beenden wird. Die Handlung wird in straffen Dialogen vermittelt – hierfür hat Patrick Ellsworth seine an diesem Abend uraufgeführte Bühnenbearbeitung des Drehbuchs von Lars von Trier neu eingerichtet, das heißt stark gekürzt.
Stampfend, zuckend
Für kühle Abstraktion sorgt vor allem die Kooperation des Schauspielhauses mit dem Stuttgarter Ballett: Die Choreografie von Marco Goecke, die Louis Stiens nach dessen Erkrankung weiterführte, verwendet zwar gelegentlich auch schwungvolle Elemente, wie man sie aus Tanzeinlagen amerikanischer Musikfilme, Musicals und Revuen der 1950er Jahre kennt. Aber ansonsten wird die Auflösung der Realität in mitreißende, oft fetzige Musicalszenen, wie sie im Film immer wieder Selmas Wahrnehmung vernebeln, ersetzt durch abstrakt Getanztes, das in kleinteiligen Bewegungen aus schiebenden Händen, abgewinkelten Armen, auf Schenkel trommelnden Fäusten und merkwürdigen Fingerzeigen, stampfend, zuckend, nervös zappelnd, nur wenige Bezüge zur Geschichte offenbart – es sei denn durch solistisch getanzte Verzweiflung oder Melancholie.
Letzteres gelingt etwa dem jungen Alessandro Giaquinto, der die Rolle von Selmas Sohn Gene als stumme Rolle tanzt, sehr ausdrucksstark und in seiner komischen Ernsthaftigkeit ein wenig an Buster Keaton erinnernd. In der Gruppe, wenn sich etwa aus stampfenden Maschinenrhythmen ein ganzer Wald aus eindrücklich und prächtig sich bewegenden Menschen formiert, denkt man: Das ist schön anzuschauen, aber es ist eine dunkle, bedrohliche Welt, die nichts zu tun hat mit dem wohlig-trügerischen Musicalrausch der Selma. Der Stoff wird ästhetisiert und er verliert auf diese Weise seine so schmerzhaft aufdringliche Direktheit.
Für Björks geniale Musik fand der Theaterkomponist Matthias Klein einen zumindest pragmatischen Ersatz: Collagen aus elektronischen Sounds, Maschinen- oder Zügerattern und Schallplattenrauschen, ein leicht verfremdetes "I'm in heaven" von Fred Astaire oder Judy Garlands "Get happy". Und im Pas de deux, das anstelle des Film-Liebesduetts "I've seen it all" getanzt wird, erklingt wagnernde Erlösungsharmonik.
Spiel mit Nähe und Distanz
In Goeckes Zeichen- und Schrittsprache werden auch die Schauspieler hineingezogen. Auf der kahlen Bühne haben sie alle es schwer, sich freizuspielen. Das Tanztheater verschlingt sie mehr und mehr. Christian Brey, der der Regisseur des Abends ist, wurde offenbar dank all der wilden Körperlichkeit der Tänzer ist seiner Arbeit zur Starrheit verdammt. Dabei ist er eigentlich Slapstickexperte, der für schnelles, quirliges Theater steht. An diesem Abend verrinnen ihm die Worte, verlieren sie an Bedeutung, wirken oft unfreiwillig komisch.
Ute Hannig als Selma steht in gelber Strickjacke, zu kurzer Hose und braunen Stiefeln einsam mitten auf der Bühne und kämpft mit den Worten. Es wird mit räumlicher Nähe und Distanz allzu platt gespielt. Der Sohn tanzt vorbei, und der Nachbar steht am anderen Ende der Bühne. Nicht einmal Freundin Kathy kommt Selma näher. Die Leerstellen, die sich zwischen Text, Stoff und seiner theatralen Umsetzung auftun, werden immer offensichtlicher. Dass Selmas Kampf ums Ersparte dann mit realistischen Pistolenschüssen und minutiöser Strangulation des Diebes endet, erscheint angesichts der sonst herrschenden Abstraktion völlig übertrieben. Selmas eigener Tod dagegen wird nur angedeutet. Nein, dieser Abend tut nicht weh. Aber er langweilt auch nicht. Er fließt dahin und ist so schön wie eine Kanufahrt.
Rezension für www.nachtkritik.de. Die Premiere fand statt am 28.11.2012.

Stuttgart - Auf die Frage, warum seine Filmfiguren stets Höllenqualen ertragen müssen, antwortete der dänische Regisseur Lars von Trier einmal: "Ein Film muss weh tun wie ein Stein im Schuh. Es gibt doch keinen anderen Grund, ins Kino zu gehen. Wenn man was Schönes erleben will, ist Sex dazu besser. Oder Kanufahren." Höllenqualen erleidet auch Selma in Lars von Triers von Musik- und Tanzszenen durchzogenem "Dancer in the Dark" aus dem Jahr 2000: Die erblindende Fabrikarbeiterin sammelt ihren kargen Lohn in einer Keksdose, um die Augenlicht rettende Operation ihres geliebten Sohns zu finanzieren, dem sie ihre Krankheit vererbte.
Vor dem trostlosen Fabrikalltag flüchtet sie sich träumend in die rosarote Welt des Musicals, verursacht aus Unachtsamkeit einen Maschinenschaden und wird entlassen. Das ersparte Geld klaut der Nachbar, um die eigene Verschuldung zu mildern. Selma erschießt ihn im Kampf um ihr Erspartes. Dafür wird sie am Ende, ihr Unglück passiv erduldend, zum Tode verurteilt und gehängt. Das Geld für den Rechtsanwalt sparte sie für die Sehkraft des Sohnes.
Kühle Abstraktion
Der Film "Dancer in the Dark", für den der Regisseur die isländische Popikone Björk als Komponistin und Hauptdarstellerin gewinnen konnte, ist die pralle Frucht einer kongenialen, kräftezehrenden Zusammenarbeit zweier kompromissloser Künstler. Und er ist im Zusammenwirken von Bild, Musik und dem hohen Identifikationsstreben der Hauptdarstellerin mit ihrer Rolle von ungeheurer, zuweilen kaum zu ertragender Intensität.
Will ein Theater eine solche Vorlage für seine Zwecke adaptieren, muss es sich die Frage stellen, was es dem Film gegenüber an Mehrwert zu bieten hat. In Stuttgart, in der Interimsspielstätte "Nord" des Schauspiels des Staatstheaters, ging man jetzt immerhin einen sehr eigenen Weg: Im Gegensatz zum Film, der auf krasse Authentizität zielt, setzt man hier auf kühle Distanz und Abstraktion. Die Bühne ist schwarz und leergeräumt. Von der Decke baumelt an langen Kabeln ein Himmel voller Mikrofone – Reminiszenz an Selmas Traum vom Musicalstar-Dasein. Später denkt man an Gitterstäbe und an den Strang, der Selmas Leben beenden wird. Die Handlung wird in straffen Dialogen vermittelt – hierfür hat Patrick Ellsworth seine an diesem Abend uraufgeführte Bühnenbearbeitung des Drehbuchs von Lars von Trier neu eingerichtet, das heißt stark gekürzt.
Stampfend, zuckend
Für kühle Abstraktion sorgt vor allem die Kooperation des Schauspielhauses mit dem Stuttgarter Ballett: Die Choreografie von Marco Goecke, die Louis Stiens nach dessen Erkrankung weiterführte, verwendet zwar gelegentlich auch schwungvolle Elemente, wie man sie aus Tanzeinlagen amerikanischer Musikfilme, Musicals und Revuen der 1950er Jahre kennt. Aber ansonsten wird die Auflösung der Realität in mitreißende, oft fetzige Musicalszenen, wie sie im Film immer wieder Selmas Wahrnehmung vernebeln, ersetzt durch abstrakt Getanztes, das in kleinteiligen Bewegungen aus schiebenden Händen, abgewinkelten Armen, auf Schenkel trommelnden Fäusten und merkwürdigen Fingerzeigen, stampfend, zuckend, nervös zappelnd, nur wenige Bezüge zur Geschichte offenbart – es sei denn durch solistisch getanzte Verzweiflung oder Melancholie.
Letzteres gelingt etwa dem jungen Alessandro Giaquinto, der die Rolle von Selmas Sohn Gene als stumme Rolle tanzt, sehr ausdrucksstark und in seiner komischen Ernsthaftigkeit ein wenig an Buster Keaton erinnernd. In der Gruppe, wenn sich etwa aus stampfenden Maschinenrhythmen ein ganzer Wald aus eindrücklich und prächtig sich bewegenden Menschen formiert, denkt man: Das ist schön anzuschauen, aber es ist eine dunkle, bedrohliche Welt, die nichts zu tun hat mit dem wohlig-trügerischen Musicalrausch der Selma. Der Stoff wird ästhetisiert und er verliert auf diese Weise seine so schmerzhaft aufdringliche Direktheit.
Für Björks geniale Musik fand der Theaterkomponist Matthias Klein einen zumindest pragmatischen Ersatz: Collagen aus elektronischen Sounds, Maschinen- oder Zügerattern und Schallplattenrauschen, ein leicht verfremdetes "I'm in heaven" von Fred Astaire oder Judy Garlands "Get happy". Und im Pas de deux, das anstelle des Film-Liebesduetts "I've seen it all" getanzt wird, erklingt wagnernde Erlösungsharmonik.
Spiel mit Nähe und Distanz
In Goeckes Zeichen- und Schrittsprache werden auch die Schauspieler hineingezogen. Auf der kahlen Bühne haben sie alle es schwer, sich freizuspielen. Das Tanztheater verschlingt sie mehr und mehr. Christian Brey, der der Regisseur des Abends ist, wurde offenbar dank all der wilden Körperlichkeit der Tänzer ist seiner Arbeit zur Starrheit verdammt. Dabei ist er eigentlich Slapstickexperte, der für schnelles, quirliges Theater steht. An diesem Abend verrinnen ihm die Worte, verlieren sie an Bedeutung, wirken oft unfreiwillig komisch.
Ute Hannig als Selma steht in gelber Strickjacke, zu kurzer Hose und braunen Stiefeln einsam mitten auf der Bühne und kämpft mit den Worten. Es wird mit räumlicher Nähe und Distanz allzu platt gespielt. Der Sohn tanzt vorbei, und der Nachbar steht am anderen Ende der Bühne. Nicht einmal Freundin Kathy kommt Selma näher. Die Leerstellen, die sich zwischen Text, Stoff und seiner theatralen Umsetzung auftun, werden immer offensichtlicher. Dass Selmas Kampf ums Ersparte dann mit realistischen Pistolenschüssen und minutiöser Strangulation des Diebes endet, erscheint angesichts der sonst herrschenden Abstraktion völlig übertrieben. Selmas eigener Tod dagegen wird nur angedeutet. Nein, dieser Abend tut nicht weh. Aber er langweilt auch nicht. Er fließt dahin und ist so schön wie eine Kanufahrt.
Rezension für www.nachtkritik.de. Die Premiere fand statt am 28.11.2012.
eduarda - 30. Nov, 00:51