Dienstag, 21. Februar 2012

Freiheit ist nichts für feige Naturen

Das Spiel ist aus — Sebastian Baumgarten wirbelt Jean-Paul Sartres Existenzialismen auf die neue Stuttgarter Drehbühne

Das Stuttgarter Totenreich in "Das Spiel ist aus". (Foto: Matthias Dreher, Staatstheater Stuttgart)

Stuttgart - Wie frei ist der Mensch? Jean-Paul Sartre beschäftigte diese Frage lebenslang. "Der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein", schrieb er 1948, "verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, und dennoch frei, weil er, einmal in die Welt geworfen, für all das verantwortlich ist, was er tut". In seinem literarischen Werk stellte Sartre seine existenzialphilosophischen Gedankengänge in spielerischen Experimenten auf die Probe: Welche Möglichkeiten zur freien Entscheidung haben Menschen in Extremsituationen?

In seinem 1947 von Jean Delannoy verfilmtem Drehbuch "Das Spiel ist aus" erhalten der Arbeiter und Revolutionsführer Pierre Dumaine und Eve Charlier, reiche Dame der höheren Gesellschaft und Ehefrau eines Regierungsangehörigen, eine einmalige zweite Chance. Die beiden lernen sich im Totenreich kennen: Er wurde am Vortag der Revolution von einem Verräter erschossen, sie zur gleichen Zeit von ihrem habgierigen Gatten vergiftet. Weil Gott tot ist und die Geschicke der Menschheit von einer recht bürokratischen Rechenzentrale organisiert werden, passierten Fehler: Eigentlich waren die beiden für einander bestimmt und hätten sich schon im Leben treffen müssen.

Es folgt die Korrektur: Beide dürfen noch einmal zurück ins Reich der Lebenden. Wenn sie es schaffen, 24 Stunden nicht an ihrer Liebe zu zweifeln, dürfen sie weiterleben, wenn nicht, sind sie für immer tot. Dass das Paar scheitern muss, wird schnell deutlich: Zu groß sind die Unterschiede zwischen dem hitzigen politischen Aktivisten und der passiv an ihrer Ehe zugrunde gehenden Eve, als dass ihre Liebe in der Realität bestehen könnte.

Der Existenzialismus als Schaubild mit Wollpullover

Im neu eröffneten, aber noch lange nicht fertig renovierten Schauspielhaus des Stuttgarter Staatstheaters hatte "Das Spiel ist aus" jetzt in einer Bühnenfassung Premiere. Die Schwierigkeit der Adaption liegt auf der Hand. Einerseits lässt sich die reiche Bilderwelt des Films nicht ohne weiteres auf die Bühne übertragen. Die Dialoge sind eher spärlich. Filmische Mittel müssen durch Theatrales ersetzt werden. Andererseits gilt es, Sartres verwirrende Aussage zu verdeutlichen, er habe keinen existenzialistischen Film machen wollen, sondern sein Szenario sei ganz geprägt vom Determinismus, dem Glauben also, zukünftige Ereignisse seien durch Vorbedingungen eindeutig festgelegt.

Im großen Ganzen ist Regisseur Sebastian Baumgarten beides gelungen. Das recht einfach gestrickte Skript wird intellektuell geschickt untermauert durch einen Vorspann, in dem ein humoriger Namensvetter Jean-Paul Sartres (Florian von Manteuffel) mittels dessen Essay "Der Existenzialismus ist ein Humanismus" in die Gedankengänge des großen Denkers einstimmt, inklusive Schaubild – wobei sich hier bereits zeigt, dass das alles nicht allzu bierernst genommen werden soll: Der schwarze Existenzialistenwollpullover des intellektuell Bebrillten reicht ihm beinahe bis zu den Knöcheln.

Dem Vorspann folgt das Lehrstück: "Das Spiel ist aus" als eine existenzialistische Situation, aus der heraus die Protagonisten verantwortungsbewusste Entscheidungen treffen müssen, gemäß dem Motto: Freiheit ist nichts für feige Naturen. Die sehr detailreiche Inszenierung setzt auf enormes Tempo. Zwei Stunden vergehen im Fluge.

Der Diktator verzehrt eine Wurst


Der Aufwand, mit dem das Theater dem Film beikommt, ist dabei groß. Auf der nagelneuen Drehbühne kreist als Ort der Lebenden ein dampferartiges Gebilde und in großen Lettern das Wort "Determinismus". Filmprojektionen steuern Kampf- und Revolutionsszenen bei, auch der Kulturphilosoph Boris Groys kommt hier zu Wort. Während sich im Film Tote und Lebende fröhlich vermischen, sind die Welten auf der Stuttgarter Bühne zunächst getrennt. Das Totenreich ist eine dunkle Unterwelt, deren Bewohner in Clownskostümen stecken und motorisch schwer gestörte Verhaltensweisen an den Tag legen.

Karikiert und übertrieben wird allerdings auf jeder Ebene. Der diktatorische Regent (Boris Koneczny), den die Revolutionäre beseitigen wollen, wird nicht bloß als eitler Fatzke dargestellt, sondern vertilgt obendrein, mit einem großen Fleischermesser bewaffnet, blutüberströmt und nackt in einer Badewanne stehend, eine Wurst, während sein Lakai ihn mit einem Schlauch bewässert. Das lumpenproletarische Pärchen, aus dessen Händen Pierre und Eve auf Bitte eines verstorbenen Vaters dessen Tochter retten soll, trifft man kopulierend an: Hammer-Georges Sperma spritzt den beiden Möchtegern-Rettern entgegen, das völlig verkrätzte und entstellte Kind kaut an einem toten Hahn, möchte keineswegs sein Milieu verlassen und hält Eve durch ständige Selbstmordversuche auf Trab.

Wohlstandsschlampe und Choleriker im Totenreich

Bei aller Überfrachtung und Übertreibung, die gelegentlich auf den Wecker geht, bietet der Abend doch überzeugendes Theater. Dafür sorgen auch Nadja Stübinger als Eve und Till Wonka als Pierre, die ihre filmische Ungleichheit noch um ein Vielfaches übertreffen. Sie: eine aufgedrehte, oberflächliche Wohlstandsschlampe, er: ein cholerischer, prügelnder Draufgänger. Fulminant, wie beide den Übergang vom Totenreich ins Leben und die damit verbundene Materialisierung ihrer Körper spielen, Wonka entfesselt gegen Tische und Wände rennt.

Es kommt, wie es kommen muss: Kaum zurück im Leben hetzt Pierre zu seinen Revolutionskameraden, will den Aufstand abblasen, hat er doch aus dem Totenreich heraus beobachten können, dass die Revolution verraten wurde. Und Eve versucht ihre Schwester (Sarah Sophie Meyer) zu retten, die zweites Opfer des Exgatten (Rainer Philippi) zu werden droht.

Die Frist ist vorbei, beide fallen erneut ihren Mördern in die Hände. Zurück im Totenreich begegnet ihnen ein junges Liebespaar, das ebenfalls auf eine zweite Chance hoffen darf. "Kann man sein Leben wirklich noch mal von vorne beginnen?", fragt der junge Mann die gerade Gescheiterten? "Man kann es ja mal versuchen", ruft Pierre. Eine bessere Antwort hatte auch Sartre nicht parat.

Besprechung für nachtkritik.de und die Eßlinger Zeitung. Premiere war am 18. Februar 2012.

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