Dienstag, 5. Juni 2012

Gottes Ferne

Ludwigsburger Schlossfestspiele: Uraufführung von Richard van Schoors Oratorium „Die sieben letzten Worte …“

Ludwigsburg - Nach gut einer Stunde schuldbeladenem Seufzen, Klagen und Weinen über die Hinrichtung des Gottessohnes, wie es Joseph Haydn in seiner Oratoriumsfassung der „Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze“ eindrücklich in Musik gegossen hat, waren einem die Kirchenbänkchen im räumlich bedrängenden Innern der spätbarocken Ludwigsburger Schlosskirche doch arg eng geworden. Man sehnte sich nach einer kleinen Pause, um die gestauchten Glieder ein wenig zu räkeln. Aber flugs ging es weiter. Und im Nu waren alle Ermüdungserscheinungen vergessen. Richard van Schoors moderne kompositorische Antwort auf Haydns Sicht der Dinge nahm vom ersten Takt an für sich ein. Van Schoor versteht es, Musik wirkungsvoll, abwechslungsreich und zeitlich perfekt ausgewogen in Szene zu setzen.

Die Ludwigsburger Schlossfestspiele hatten das Oratorium bei dem südafrikanischen, 1961 geborenen Komponisten in Auftrag gegeben. Michael Hofstetter am Dirigierpult führte Festspielchor und -orchester sicher durch den Abend.

Der Titel „die sieben letzten worte … in anderen worten“, der einen bedeutenden Bestandteil weglässt, verrät sofort, worum es Richard van Schoor geht: Nicht Erlösung, auf die Haydn noch unverbrüchlich hoffen dürfte, erfuhren die Menschen durch den Tod Jesu. Nein, das Unglück fing mit seiner Kreuzigung erst an. Jesu Leiden wird zum Leiden des Menschen. Und von den sieben unterschiedlichen letzten Sätzen, die der sterbende Jesus am Kreuz geäußert haben soll und die die Kirche aus den vier Evangelien zusammengefasst hat, bleibt bei van Schoor nur noch einer übrig: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Biblisches erklingt nur an einer Stelle: die wenig Hoffnung versprühenden Teile der Psalme 22 und 88, die von Gottes Schrecken und Gottes Ferne zeugen. Ansonsten: finstere Lyrik des Komponisten und Nachrichtenmeldungen über Morde, Massaker, Genozide. Im Namen der Religion sei schon zu viel angerichtet worden, was nichts mit Gott zu tun habe, so der Komponist.

Die Klangwelt van Schoors fängt den Schrecken dieser Welt ein. Wie aus der Ferne nimmt der Komponist immer wieder Bezug auf die musikalische Welt der Passionen. Hartes Traktieren eines Cellos erinnert zu Beginn an die Hammerschläge der Kreuzigung. Immer wieder schält sich ein wohlklingendes Bläsersolo aus Clusterklängen und Trommeldonner, folgt bruitistischem, wohlgeordnetem Chaos trauerumflorter, polyphoner Schönklang, der vage an Bach und Brahms erinnert und manchmal auch an gregorianisch Archaisches. Eine versunkene, vergessene Welt, in deren Nachhall hinein der Chor die Namen diverser Mordopfer flüstert oder die vier Solisten gleichzeitig unterschiedliche furchtbare Nachrichtenmeldungen sprechen. Ein musikalisches Grabdenkmal für all die unbekannten Opfer unbeschreiblicher, religiös motivierter Gewalt.

Bewegend ist die zwischen Gesang und Sprechen oft changierende Deklamation der vier Solisten. Kirsten Blaise (Sopran), Ruth Sandhoff (Mezzosopran), Daniel Johannsen (Tenor) und David Jerusalem (Bass) beeindruckten aber gleichermaßen in Haydns Meditationen in Moll. Durch Emphase und Beseeltheit und mitreißendes Spiel überzeugten auch Chor und Orchester der Festspiele. Nachdenklicher Stille am Ende folgte begeisterter Applaus.

Besprechung für die Stuttgarter Nachrichten vom 4. Juni und nmz-online. Das Konzert fand statt am 2. Juni.

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