Katastrophengebiet Welt
Sibylle Bergs neues Stück "Angst reist mit" von Hasko Weber und ihr selbst am Stuttgarter Staatsschauspiel uraufgeführt

Stuttgart - Angst geht um in Europa: Angst vor Europa. Irrationale Angst, ausgelöst durch die Finanz-, Euro- und Schuldenkrise, deren Zusammenhänge offenbar nicht einmal Experten wirklich erklären können. Über die Angst, die Europas fremdbestimmte BürgerInnen derzeit lähmt, gibt es jetzt ein Stück. Das ist gut. Sibylle Berg, die kluge, bissige Analytikerin gesellschaftlichen Niedergangs und der Vergeblichkeit aller menschlichen Mühen, hat es geschrieben und am Staatsschauspiel Stuttgart im "Nord" zusammen mit dem scheidenden Intendanten Hasko Weber in Szene gesetzt: "Angst reist mit", heißt es. Und im Untertitel ironisch: "Ein Reiseoperepos". Keine guten Aussichten verspricht uns Berg, die die derzeitige Stimmung sinnbildlich zu fassen sucht.
Es geht um vier bisher noch wohlstandsverwöhnte europäische Touristen, die auf einer Insel der "Dritten Welt" Urlaub machen wollen: Die beiden Online-Journalisten Kevin und Ansgar, Anfang 30, auf der Suche nach einer "Preisträgergeschichte" (Christian Schmidt und Marco Albrecht). Außerdem das körperlich und emotional längst auseinandergerückte Lehrerehepaar Karl und Karla, Mitte 50 (Jens Winterstein und Marietta Mequid). Er: hält Ausschau nach der "einheimischen Frau", sie: die Weltverbesserin, will "mit eingeborenen Kindern tanzen" und "Brunnenbauprojekte" besichtigen.
Aber was der Reiseveranstalter versprach – "die romantischsten Ferien des Lebens" – entpuppt sich als Werbelüge. Romantisch – zumindest in seiner düsteren Metaphorik – ist nur der "Unterwelt"-Chor, der das Geschehen auf der Bühne kommentiert: "Da beginnt das leise Grauen", singt er melancholisch, "allein mit sich in tiefer Nacht. / Da beginnen sie zu ahnen, / was sie auf dieser Erde sind."
In der Tat sind die vier Reisenden auf sich selbst zurückgeworfen, auf ihre Nichtigkeit, innere Hohlheit, sexuelle Frustration, Gefühllosigkeit. Die Insel: wüst und leer. Sie ist Projektionsfläche für die Ängste vor dem Fremden und vor sich selbst. Das Unbewusste stülpt sich nach außen. Dort lauert Kannibalentum, und die vier werden Opfer einer brutalen Geiselnahme. Geiselnehmer ist das zweiköpfige Insel-Empfangskomitee (Minna Wündrich und Jonas Fürstenau): diktatorische Animateure, weiß gekleidet wie Psychiatrie-Personal; weiße Schminke im Gesicht deutet auf Zombietum.
Auf der Bühne baut sich eine kalte Kunstwelt auf, ein fremder, karger Planet. Die runde, leere, angeschrägte Spielfläche dreht sich zuweilen, und gibt an der angehobenen Seite den Blick frei in einige skurril gefüllte Räumchen. Hier zwängt sich auch gelegentlich der kurios verkleidete Chor hinein und glotzt die Zuschauer aus allerlei fantastischen Sehorganen an. Über der Drehbühne: Videoprojektionen und die Schaltzentrale der beiden Zombies.
Letztere sind offenbar Teil eines globalen geheimnisvollen Plans, der mit einem Schlag an verschiedenen Orten der Welt eine Milliarde Touristen unter Kontrolle bringen soll: "Menschen, die freiwillig zur Masse werden, um bewusst den eignen Willen aufzugeben". Das gefällt den Männern: "Ich muss gestehen, dass ich mich in der versorgten Abhängigkeit nicht unwohl fühle", sagt Ansgar.
Sextourismus, Tourismus in Katastrophengebiete und Diktaturen, der zerstörerische Umgang mit der Natur, die völlige Natur- und Selbstentfremdung – all das spießt Berg auf in ihrem Stück, das unterhält, wenn man hineinhört in den entlarvenden Wort- und überhaupt Witz. Schlag auf Schlag geht es mit Sprüchen wie: "Das sind keine Schlangen, das sind mehrfach verwendete Kondome" oder "Die Dritte Welt ist mitunter eine Zumutung". Es ist viel und muss erst nachwirken. Die Inszenierung jedenfalls erstarrt vor der Textmenge und nutzt das Potential seiner Schauspieler zu wenig.
Am Ende springt Karla ins Wasser und verbrennt. Die Männer essen Kokosnüsse, und auf der Leinwand sieht man einen Atompilz aufsteigen. Die beiden Zombies rezitieren Heidegger, und der Chor singt elegisch: "Schau an, da sind die klaren Flüsse, / der Wald, der Greif, der neue Aal. / Für euch, ihr traurigen Gestalten, / kommt nun das letzte Abendmahl." Die bessere Welt wäre vielleicht die ohne Menschen, denkt Sibylle Berg, und hat offenbar keine Angst davor.
Rezension für nachtkritik.de. Die Premiere fand statt am 23. März 2013.

Stuttgart - Angst geht um in Europa: Angst vor Europa. Irrationale Angst, ausgelöst durch die Finanz-, Euro- und Schuldenkrise, deren Zusammenhänge offenbar nicht einmal Experten wirklich erklären können. Über die Angst, die Europas fremdbestimmte BürgerInnen derzeit lähmt, gibt es jetzt ein Stück. Das ist gut. Sibylle Berg, die kluge, bissige Analytikerin gesellschaftlichen Niedergangs und der Vergeblichkeit aller menschlichen Mühen, hat es geschrieben und am Staatsschauspiel Stuttgart im "Nord" zusammen mit dem scheidenden Intendanten Hasko Weber in Szene gesetzt: "Angst reist mit", heißt es. Und im Untertitel ironisch: "Ein Reiseoperepos". Keine guten Aussichten verspricht uns Berg, die die derzeitige Stimmung sinnbildlich zu fassen sucht.
Es geht um vier bisher noch wohlstandsverwöhnte europäische Touristen, die auf einer Insel der "Dritten Welt" Urlaub machen wollen: Die beiden Online-Journalisten Kevin und Ansgar, Anfang 30, auf der Suche nach einer "Preisträgergeschichte" (Christian Schmidt und Marco Albrecht). Außerdem das körperlich und emotional längst auseinandergerückte Lehrerehepaar Karl und Karla, Mitte 50 (Jens Winterstein und Marietta Mequid). Er: hält Ausschau nach der "einheimischen Frau", sie: die Weltverbesserin, will "mit eingeborenen Kindern tanzen" und "Brunnenbauprojekte" besichtigen.
Aber was der Reiseveranstalter versprach – "die romantischsten Ferien des Lebens" – entpuppt sich als Werbelüge. Romantisch – zumindest in seiner düsteren Metaphorik – ist nur der "Unterwelt"-Chor, der das Geschehen auf der Bühne kommentiert: "Da beginnt das leise Grauen", singt er melancholisch, "allein mit sich in tiefer Nacht. / Da beginnen sie zu ahnen, / was sie auf dieser Erde sind."
In der Tat sind die vier Reisenden auf sich selbst zurückgeworfen, auf ihre Nichtigkeit, innere Hohlheit, sexuelle Frustration, Gefühllosigkeit. Die Insel: wüst und leer. Sie ist Projektionsfläche für die Ängste vor dem Fremden und vor sich selbst. Das Unbewusste stülpt sich nach außen. Dort lauert Kannibalentum, und die vier werden Opfer einer brutalen Geiselnahme. Geiselnehmer ist das zweiköpfige Insel-Empfangskomitee (Minna Wündrich und Jonas Fürstenau): diktatorische Animateure, weiß gekleidet wie Psychiatrie-Personal; weiße Schminke im Gesicht deutet auf Zombietum.
Auf der Bühne baut sich eine kalte Kunstwelt auf, ein fremder, karger Planet. Die runde, leere, angeschrägte Spielfläche dreht sich zuweilen, und gibt an der angehobenen Seite den Blick frei in einige skurril gefüllte Räumchen. Hier zwängt sich auch gelegentlich der kurios verkleidete Chor hinein und glotzt die Zuschauer aus allerlei fantastischen Sehorganen an. Über der Drehbühne: Videoprojektionen und die Schaltzentrale der beiden Zombies.
Letztere sind offenbar Teil eines globalen geheimnisvollen Plans, der mit einem Schlag an verschiedenen Orten der Welt eine Milliarde Touristen unter Kontrolle bringen soll: "Menschen, die freiwillig zur Masse werden, um bewusst den eignen Willen aufzugeben". Das gefällt den Männern: "Ich muss gestehen, dass ich mich in der versorgten Abhängigkeit nicht unwohl fühle", sagt Ansgar.
Sextourismus, Tourismus in Katastrophengebiete und Diktaturen, der zerstörerische Umgang mit der Natur, die völlige Natur- und Selbstentfremdung – all das spießt Berg auf in ihrem Stück, das unterhält, wenn man hineinhört in den entlarvenden Wort- und überhaupt Witz. Schlag auf Schlag geht es mit Sprüchen wie: "Das sind keine Schlangen, das sind mehrfach verwendete Kondome" oder "Die Dritte Welt ist mitunter eine Zumutung". Es ist viel und muss erst nachwirken. Die Inszenierung jedenfalls erstarrt vor der Textmenge und nutzt das Potential seiner Schauspieler zu wenig.
Am Ende springt Karla ins Wasser und verbrennt. Die Männer essen Kokosnüsse, und auf der Leinwand sieht man einen Atompilz aufsteigen. Die beiden Zombies rezitieren Heidegger, und der Chor singt elegisch: "Schau an, da sind die klaren Flüsse, / der Wald, der Greif, der neue Aal. / Für euch, ihr traurigen Gestalten, / kommt nun das letzte Abendmahl." Die bessere Welt wäre vielleicht die ohne Menschen, denkt Sibylle Berg, und hat offenbar keine Angst davor.
Rezension für nachtkritik.de. Die Premiere fand statt am 23. März 2013.
eduarda - 25. Mär, 11:06