Lämmer unter Wölfen
Die Esslinger Landesbühne adaptiert Hans Falladas sozialkritischen und zugleich komödiantischen Roman „Kleiner Mann - was nun?“ fürs Theater

Esslingen - Die Romane von Hans Fallada, dem Chronisten der Weimarer Republik mit einem großen Herz für die kleinen Leute, gewinnen in rasantem Tempo wieder an Aktualität. Seine Prosa erzählt von den Ängsten und Nöten der Menschen in einer vom Geld beherrschten Welt, von der Ohnmacht des Einzelnen angesichts der ihn beherrschenden gesellschaftlichen Mächte. Sie passt deshalb in unsere Zeit, in der sich die Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft langsam in der Salzsäure des Kapitalismus auflösen.
Für die deutschen Bühnen sind Falladas Romane - vor allem sein weltberühmter Roman „Kleiner Mann - was nun?“ von 1932 - ein gefundenes Fressen. Im letzten Jahr stellte Luk Perceval in den Münchner Kammerspielen seine Lesart vor, Anfang Januar hatte „Kleiner Mann - was nun?“ in Dresden Premiere. Auch die Esslinger Landesbühne (WLB) hat sich an eine Adaption des 400-Seiten-Romans gewagt. Der Dramaturg Reiner Müller hat sie eingerichtet und sich für eine Gratwanderung zwischen Boulevard- und Sozialstück entschieden.
Verhindertes Familienglück
Anders als etwa Falladas Roman „Wolf unter Wölfen“, der eine Welt der Vereinzelung beschreibt, steht im Mittelpunkt von „Kleiner Mann - was nun?“ ein junges Ehepaar, Johannes Pinneberg und Lämmchen, das nur das Beste füreinander will. Beide glauben an das Glück in der Familie und an die Liebe. Und erwarten eigentlich nicht viel vom Leben: Etwas Sicherheit, eine kleine Wohnung, Arbeit, ein bisschen Zeit füreinander und für den neugeborenen Nachwuchs Murkel. Aber die Welt will es anders. In Zeiten rasender Inflation ist das bisschen Arbeitslohn kaum zusammenzuhalten, eine Wohnung ist schwer zu bekommen, wenn frau schwanger ist. Arbeit ist rar, und hat man sie, ist man der Willkür der Chefs hilflos ausgeliefert - die Entwendung von Essensresten in Gestalt von Maultaschen könnte auch in diesem Roman der Grund für den Verlust des Arbeitsplatzes sein, spielte er nicht in Berlin. Der fleißige Pinneberg verliert seinen Job als Buchhalter in einem Düngemittelladen, weil er verheiratet ist und deshalb als Schwiegersohn des Chefs, der seine nervige Tochter an den Mann bringen will, nicht in Frage kommt. Und beim Herrenausstatter Mandel wird ihm gekündigt, weil er, der eigentlich begabte Verkäufer, dem Verkaufsquotendruck nervlich nicht mehr standhalten kann. Am Ende ist Pinneberg am Boden zerstört und reiht sich ein in das Millionenheer der Arbeitslosen. Immerhin ist er nicht allein: Was ihm bleibt, ist seine Familie, die Liebe zu Lämmchen - ein sprechender Name, den Fallada nicht ohne Grund gewählt hat. Ein Lämmchen unter Wölfen ist freilich auch Pinneberg.
Müllers Bearbeitung überträgt den bunten, szenischen, dialogreichen Bilderbogen des Romans geschickt und dramatisch wirkungsvoll auf die Bühne, lässt die Protagonisten zwischen Handlung erzählender Prosa und pfiffigen Dialogen hin- und herswitchen. Die Kostüme verorten die Geschichte in zeitlose Gegenwart, gelegentlich erinnert ein Detail an die 1920er-Jahre. Tilo Esche, eingesprungen für den erkrankten Regisseur Matthias Brenner, kann in seiner Inszenierung auf ein tolles Ensemble bauen: Jonas Pätzold als Pinneberg ist eine Idealbesetzung. Der schlaksige, große Junge, der sich so vergeblich bemüht, seiner kleinen Familie menschenwürdige Lebensbedingungen zu schaffen, hat das Herz des Publikums im Nu erobert. Liebenswürdige Naivität, Verzweiflung, vorsichtiges Aufbegehren, Verstörung, Hoffnungslosigkeit, bewundernswertes Stehaufmännchentum - das alles durchlebt auch das Publikum dank Pätzolds intensiver Darstellung. Genauso überzeugend agiert auch Nora Backhaus als Lämmchen: vital, draufgängerisch, zupackend. Ein feines Paar. Glänzende Komödianten auch die übrigen Ensemble-Mitglieder, die jeweils mehrere Rollen spielen: Stefan Wancura ist vor allem als hochcholerischer Düngemittelhändler Kleinholz, der stets kurz vor dem Herzinfarkt zu stehen scheint, zum Totlachen. Susanne Weckerle als seine Tochter überzeugt als Nervensäge. Matthias Zajgier ist nicht nur als tumber Nazischerge eine Wucht, sondern auch in den Travestie-Rollen. Lothar Bobbe unterhält vor allem als selbstsicherer Gewerkschafter Kube, der ständig Mittagspause macht, und Dietrich Schulz brilliert als herrlich eitler Fatzke Schulz.
Die Bühne als Kamera
Dass der absolut sehenswerte, dreistündige Abend am Ende doch ein paar Längen aufweist, liegt an seiner gelegentlich etwas zu prosaischen Ausführlichkeit und etwas behäbigen Slapstick-Taktung. Vielleicht fehlen dem Bühnenbild einfach ein paar Türen, die boulevardesk knallen könnten. Ansonsten aber hat Ulrike Reinhard mit minimalistischen Mitteln eine praktikable Bühne geschaffen. Schön etwa die Idee, mit schwarzem Stoff eine Kamerablende zu imitieren, die die Bühne nur schlaglichtartig beleuchtet. Handlung kann so schnell geschnitten erzählt werden. Und auch Livemusik bietet der Abend: Hinter dem Gaze-Prospekt mit Monets Baumidylle kommentiert die Band Broken Glass and Rusty Nails das Geschehen mit Jazz, eingerichtet von Alexander Suckel.
Bleibt die leidige Frage, für wen Theater gemacht wird und wer sich im gut situierten Premieren-Publikum mit der auf der Bühne dargestellten Problematik wirklich identifizieren kann. Die WLB geht dieser Frage nicht aus dem Weg und gewährt am 22. Januar allen Hartz-IV-Empfängern 50 Prozent Ermäßigung auf alle Tickets - bei den ohnehin schon niedrigen Eintrittspreisen ein faires Angebot.
Die nächsten Vorstellungen: 22. und 27. Januar, 4., 5., 15. und 16. Februar.
Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 15.1.2011. Die Premiere war am 13.1.

Esslingen - Die Romane von Hans Fallada, dem Chronisten der Weimarer Republik mit einem großen Herz für die kleinen Leute, gewinnen in rasantem Tempo wieder an Aktualität. Seine Prosa erzählt von den Ängsten und Nöten der Menschen in einer vom Geld beherrschten Welt, von der Ohnmacht des Einzelnen angesichts der ihn beherrschenden gesellschaftlichen Mächte. Sie passt deshalb in unsere Zeit, in der sich die Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft langsam in der Salzsäure des Kapitalismus auflösen.
Für die deutschen Bühnen sind Falladas Romane - vor allem sein weltberühmter Roman „Kleiner Mann - was nun?“ von 1932 - ein gefundenes Fressen. Im letzten Jahr stellte Luk Perceval in den Münchner Kammerspielen seine Lesart vor, Anfang Januar hatte „Kleiner Mann - was nun?“ in Dresden Premiere. Auch die Esslinger Landesbühne (WLB) hat sich an eine Adaption des 400-Seiten-Romans gewagt. Der Dramaturg Reiner Müller hat sie eingerichtet und sich für eine Gratwanderung zwischen Boulevard- und Sozialstück entschieden.
Verhindertes Familienglück
Anders als etwa Falladas Roman „Wolf unter Wölfen“, der eine Welt der Vereinzelung beschreibt, steht im Mittelpunkt von „Kleiner Mann - was nun?“ ein junges Ehepaar, Johannes Pinneberg und Lämmchen, das nur das Beste füreinander will. Beide glauben an das Glück in der Familie und an die Liebe. Und erwarten eigentlich nicht viel vom Leben: Etwas Sicherheit, eine kleine Wohnung, Arbeit, ein bisschen Zeit füreinander und für den neugeborenen Nachwuchs Murkel. Aber die Welt will es anders. In Zeiten rasender Inflation ist das bisschen Arbeitslohn kaum zusammenzuhalten, eine Wohnung ist schwer zu bekommen, wenn frau schwanger ist. Arbeit ist rar, und hat man sie, ist man der Willkür der Chefs hilflos ausgeliefert - die Entwendung von Essensresten in Gestalt von Maultaschen könnte auch in diesem Roman der Grund für den Verlust des Arbeitsplatzes sein, spielte er nicht in Berlin. Der fleißige Pinneberg verliert seinen Job als Buchhalter in einem Düngemittelladen, weil er verheiratet ist und deshalb als Schwiegersohn des Chefs, der seine nervige Tochter an den Mann bringen will, nicht in Frage kommt. Und beim Herrenausstatter Mandel wird ihm gekündigt, weil er, der eigentlich begabte Verkäufer, dem Verkaufsquotendruck nervlich nicht mehr standhalten kann. Am Ende ist Pinneberg am Boden zerstört und reiht sich ein in das Millionenheer der Arbeitslosen. Immerhin ist er nicht allein: Was ihm bleibt, ist seine Familie, die Liebe zu Lämmchen - ein sprechender Name, den Fallada nicht ohne Grund gewählt hat. Ein Lämmchen unter Wölfen ist freilich auch Pinneberg.
Müllers Bearbeitung überträgt den bunten, szenischen, dialogreichen Bilderbogen des Romans geschickt und dramatisch wirkungsvoll auf die Bühne, lässt die Protagonisten zwischen Handlung erzählender Prosa und pfiffigen Dialogen hin- und herswitchen. Die Kostüme verorten die Geschichte in zeitlose Gegenwart, gelegentlich erinnert ein Detail an die 1920er-Jahre. Tilo Esche, eingesprungen für den erkrankten Regisseur Matthias Brenner, kann in seiner Inszenierung auf ein tolles Ensemble bauen: Jonas Pätzold als Pinneberg ist eine Idealbesetzung. Der schlaksige, große Junge, der sich so vergeblich bemüht, seiner kleinen Familie menschenwürdige Lebensbedingungen zu schaffen, hat das Herz des Publikums im Nu erobert. Liebenswürdige Naivität, Verzweiflung, vorsichtiges Aufbegehren, Verstörung, Hoffnungslosigkeit, bewundernswertes Stehaufmännchentum - das alles durchlebt auch das Publikum dank Pätzolds intensiver Darstellung. Genauso überzeugend agiert auch Nora Backhaus als Lämmchen: vital, draufgängerisch, zupackend. Ein feines Paar. Glänzende Komödianten auch die übrigen Ensemble-Mitglieder, die jeweils mehrere Rollen spielen: Stefan Wancura ist vor allem als hochcholerischer Düngemittelhändler Kleinholz, der stets kurz vor dem Herzinfarkt zu stehen scheint, zum Totlachen. Susanne Weckerle als seine Tochter überzeugt als Nervensäge. Matthias Zajgier ist nicht nur als tumber Nazischerge eine Wucht, sondern auch in den Travestie-Rollen. Lothar Bobbe unterhält vor allem als selbstsicherer Gewerkschafter Kube, der ständig Mittagspause macht, und Dietrich Schulz brilliert als herrlich eitler Fatzke Schulz.
Die Bühne als Kamera
Dass der absolut sehenswerte, dreistündige Abend am Ende doch ein paar Längen aufweist, liegt an seiner gelegentlich etwas zu prosaischen Ausführlichkeit und etwas behäbigen Slapstick-Taktung. Vielleicht fehlen dem Bühnenbild einfach ein paar Türen, die boulevardesk knallen könnten. Ansonsten aber hat Ulrike Reinhard mit minimalistischen Mitteln eine praktikable Bühne geschaffen. Schön etwa die Idee, mit schwarzem Stoff eine Kamerablende zu imitieren, die die Bühne nur schlaglichtartig beleuchtet. Handlung kann so schnell geschnitten erzählt werden. Und auch Livemusik bietet der Abend: Hinter dem Gaze-Prospekt mit Monets Baumidylle kommentiert die Band Broken Glass and Rusty Nails das Geschehen mit Jazz, eingerichtet von Alexander Suckel.
Bleibt die leidige Frage, für wen Theater gemacht wird und wer sich im gut situierten Premieren-Publikum mit der auf der Bühne dargestellten Problematik wirklich identifizieren kann. Die WLB geht dieser Frage nicht aus dem Weg und gewährt am 22. Januar allen Hartz-IV-Empfängern 50 Prozent Ermäßigung auf alle Tickets - bei den ohnehin schon niedrigen Eintrittspreisen ein faires Angebot.
Die nächsten Vorstellungen: 22. und 27. Januar, 4., 5., 15. und 16. Februar.
Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 15.1.2011. Die Premiere war am 13.1.
eduarda - 16. Jan, 01:14