Mensch in der Revolte
Volker Lösch holt am Stuttgarter Staatstheater Camus’ „Die Gerechten“ in unsere Zeit

Stuttgart - Samstagmittag in Frankfurt, im Herzen des internationalen Finanzbankentums: „Blockupy“-Demo gegen die Macht der Banken, die Sparpolitik der EU und gegen deutsche Großunternehmen, die Rekordprofite, auch durch Leiharbeit und sinkende Reallöhne finanziert, verzeichnen. Es ist die einzige offiziell genehmigte Veranstaltung der viertägigen „Blockupy“-Aktionstage. Alle anderen hat die Stadt Frankfurt aus Angst vor Krawallen verboten. Flankiert von 5000 Polizisten zogen 25 000 Demonstranten aus mehreren Ländern friedlich durch das Bankenviertel. Im französischen Attac-Block singen sie Lieder gegen den Fiskalpakt, beschwören die Solidarität mit Griechenland und skandieren rhythmisch „Ré-sis-tance“ und „A- …, Antí- …, Antí-capí-talí-sme“.
Dann mit dem Zug schnell zurück nach Stuttgart, pünktlich zur Premiere ins Schauspielhaus: Volker Lösch hat Albert Camus’ 1949 uraufgeführtes Schauspiel „Die Gerechten“ in unsere Zeit geholt, es genau mit den Fragen konfrontiert, die in den letzten Frankfurter Tagen eine so große Rolle spielten. Welche Möglichkeiten haben wir heute, in gesellschaftliche Prozesse einzugreifen, sie aktiv mitzugestalten, gegen die Ungerechtigkeiten dieser Welt zu kämpfen, uns politisch zu artikulieren?
Nicht immer nur reden, handeln!
Camus verarbeitete in den „Gerechten“ ein reales Geschehen aus dem Jahr 1905: Eine Gruppe junger russischer Sozialrevolutionäre plant ein Attentat auf den Großfürsten Sergej Romanow und tötet diesen schließlich durch eine Bombe - nicht ohne den eigenen Tod in Kauf zu nehmen, ja, sogar zu wünschen. „Ich liebe nicht das Leben, ich liebe die Gerechtigkeit“, sagt einer der Attentäter. Es geht in den „Gerechten“ um die Frage nach dem Sinn und nach den Grenzen politisch motivierter Gewalt. Sollen dem Mordanschlag zur „Befreiung des russischen Volkes“ etwa auch die Kinder des Fürsten zum Opfer fallen? Nein, sagt der eine, und kann die Bombe nicht werfen. Ja, sagt der andere - schließlich rette man dadurch Tausende andere Kinder vor dem Hungertod.
Die Fragen, über die sich die jungen Revolutionäre im Stück streiten, nimmt Lösch zum Anlass, das Frontaltheater vor dem Vorhang zu unterbrechen, die fünf Schauspieler immer wieder aus dem Geschehen heraustreten zu lassen und das Publikum zur Meinungsäußerung zu animieren. Sie bedienen sich dabei Kommunikationsformen der Occupy-Bewegung. Daraus entsteht ein ungeheuer spannender und lebendiger Theaterabend - der freilich in seiner Mitte auseinanderzubrechen drohte.
Konsensfindung statt sonst üblicher Abstimmungsdemokratie ist bei Occupy-Versammlungen angesagt. Ergo zeigen die Schauspieler den Zuschauern erst einmal die klar definierten Handzeichen zur Veto-Abgabe. Und zur Meinungsäußerung bitte das „menschliche Mikrofon“ benutzen: Einer gibt sein Statement ab, seine Sitznachbarn wiederholen den Satz im Sprechchor. Das ist keine Lösch-Erfindung, sondern eine Idee der Occupy-Wall-Street-Versammlungen, um die Kommunikation in großen Gruppen zu ermöglichen, obwohl die Verwendung von Verstärkern und Megaphonen von der Stadt untersagt worden war.
Das Stuttgarter Premieren-Publikum macht zunächst engagiert mit: „Warum zählen Sie sich zu den 99 % der Menschen, die gegenüber dem einen Top-Prozent vom Großteil der Finanzmittel und damit vom politischen Einfluss ausgeschlossen sind?“ „Weil ich mir eine aufwendige Zahnbehandlung nicht leisten kann“; „weil ich auf die Altersarmut zusteuere“; „weil ich mich verweigert habe, meine Seele zu verkaufen“, skandieren die menschlichen Mikrofone.
Die Stimmung kippt
Auch bei der Forderung nach einem Stopp aller Rüstungsexporte aus Deutschland gelingt es den Schauspielern Lisa Bitter, Marco Albrecht, Jan Jaroszek, Matthias Kelle und Markus Lerch noch, einen gewissen Zuschauer-Konsens herzustellen. Die Aufforderung allerdings, mal darüber nachzudenken, wie man diese Forderung umsetzen könne, führt in kürzester Zeit zu tumultuösen Zuständen im Schauspielhaus. Eine Frau, sich dem Gebrauch des menschlichen Mikrofons jetzt verweigernd, schimpft: „Sie manipulieren uns. In dem Stück geht es schließlich um Mord. Wohin soll das hier führen?“ „Wir wollen Camus sehen“, brüllen nun einige Zuschauer, die der Diskussion überdrüssig geworden sind und ganz vergessen zu haben scheinen, dass Camus einst als Mitglied der Résistance aktiven Widerstand im besetzten Frankreich geleistet hat.
Ein Buh-Chor macht die Kommunikation zeitweise unmöglich. Einige Leute verlassen kopfschüttelnd den Saal. Eine Zuschauerin fordert verzweifelt, die Diskussion doch bitte ernstzunehmen. Ein offenbar durch die Tumulte verwirrter Herr fordert „Schauspieler raus!“, woraufhin einer der Akteure einwendet: „Wer soll dann aber Camus fertigspielen?“ Licht aus, Spot on. „Die Gerechten“ gehen weiter.
Die offene Form erlaubt das. Jetzt sind ohnehin die meisten Krakeler aus dem Saal. Das Publikum beruhigt sich. Die Revolutionäre streiten weiter. Ist Lösch an dieser Stelle gescheitert? Hat er konstruktive Vorschläge erwartet? Hat er mit solch aufbrausenden Emotionen gerechnet? Elektrisierender als dieser Abend und näher dran an aktuellen gesellschaftlichen Fragen kann Theater aber nicht sein.
Ziviler Ungehorsam
Es geht dann auch noch weiter: Mit Videoprojektionen wird an gelungene Protestaktionen und wirkungsvollen zivilen Ungehorsam erinnert: an die Aktivisten-Gruppe „The Yes-Man“ etwa, die in einer gefälschten „New York Times“ das Ende des Irakkriegs verkündete. Oder an die Schotter-Aktionen der Castor-Gegner, die Atommüll-Transporte aufhielten. Wieder Fragen: Wer hat Ideen für politische Aktionen, die unser Leben besser machen? Stift und Block liegen unter den Sesseln. Bier wird gereicht: Die besten Aktionsideen entstanden schließlich während des Genusses von Gerstensaft. Die Stimmung im Publikum lockert sich, zehn Minuten angeregtes Plaudern, worüber auch immer.
„Mehr Freizeit“ wird gefordert, „ein medienwirksamer Flashmob in Sachen kostenloser Kitas“. „Politiker sollen durch die Schauspieler ersetzt“ und „Arbeit nach sozialer Wertigkeit bezahlt werden“. Das Ergebnis ist mau, zu kurz die Zeit. Aber darum geht es gar nicht mehr. Es haben sich so viele Fragen im Kopf angesammelt, die man mit nach draußen, mit auf die Straße nehmen wird. Man kann aus Camus’ Stück nicht mehr herausholen.
Lösch und sein Team haben „Die Gerechten“ gekürzt und die Szenen umgestellt, so dass die Frage, ob das Attentat gelingt, bis zum Schluss offen bleibt. „Zerstören, darauf kommt es an!“, sagt einer der Revolutionäre. Ein letztes Mal wird das Publikum befragt: „Was halten Sie davon, dass die Bombe geworfen wird?“ Für die Findung eines Konsenses lässt man sich jetzt nicht mehr viel Zeit. Eine ungeheure Detonation erschüttert den Raum. Der Fürst ist tot.
Die nächsten Vorstellungen finden statt am 28. Mai sowie am 1., 2., 4., 19., 21., 23. und am 28. Juni im Schauspielhaus.
Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 21. Mai. Premiere war am 19. Mai.

Stuttgart - Samstagmittag in Frankfurt, im Herzen des internationalen Finanzbankentums: „Blockupy“-Demo gegen die Macht der Banken, die Sparpolitik der EU und gegen deutsche Großunternehmen, die Rekordprofite, auch durch Leiharbeit und sinkende Reallöhne finanziert, verzeichnen. Es ist die einzige offiziell genehmigte Veranstaltung der viertägigen „Blockupy“-Aktionstage. Alle anderen hat die Stadt Frankfurt aus Angst vor Krawallen verboten. Flankiert von 5000 Polizisten zogen 25 000 Demonstranten aus mehreren Ländern friedlich durch das Bankenviertel. Im französischen Attac-Block singen sie Lieder gegen den Fiskalpakt, beschwören die Solidarität mit Griechenland und skandieren rhythmisch „Ré-sis-tance“ und „A- …, Antí- …, Antí-capí-talí-sme“.
Dann mit dem Zug schnell zurück nach Stuttgart, pünktlich zur Premiere ins Schauspielhaus: Volker Lösch hat Albert Camus’ 1949 uraufgeführtes Schauspiel „Die Gerechten“ in unsere Zeit geholt, es genau mit den Fragen konfrontiert, die in den letzten Frankfurter Tagen eine so große Rolle spielten. Welche Möglichkeiten haben wir heute, in gesellschaftliche Prozesse einzugreifen, sie aktiv mitzugestalten, gegen die Ungerechtigkeiten dieser Welt zu kämpfen, uns politisch zu artikulieren?
Nicht immer nur reden, handeln!
Camus verarbeitete in den „Gerechten“ ein reales Geschehen aus dem Jahr 1905: Eine Gruppe junger russischer Sozialrevolutionäre plant ein Attentat auf den Großfürsten Sergej Romanow und tötet diesen schließlich durch eine Bombe - nicht ohne den eigenen Tod in Kauf zu nehmen, ja, sogar zu wünschen. „Ich liebe nicht das Leben, ich liebe die Gerechtigkeit“, sagt einer der Attentäter. Es geht in den „Gerechten“ um die Frage nach dem Sinn und nach den Grenzen politisch motivierter Gewalt. Sollen dem Mordanschlag zur „Befreiung des russischen Volkes“ etwa auch die Kinder des Fürsten zum Opfer fallen? Nein, sagt der eine, und kann die Bombe nicht werfen. Ja, sagt der andere - schließlich rette man dadurch Tausende andere Kinder vor dem Hungertod.
Die Fragen, über die sich die jungen Revolutionäre im Stück streiten, nimmt Lösch zum Anlass, das Frontaltheater vor dem Vorhang zu unterbrechen, die fünf Schauspieler immer wieder aus dem Geschehen heraustreten zu lassen und das Publikum zur Meinungsäußerung zu animieren. Sie bedienen sich dabei Kommunikationsformen der Occupy-Bewegung. Daraus entsteht ein ungeheuer spannender und lebendiger Theaterabend - der freilich in seiner Mitte auseinanderzubrechen drohte.
Konsensfindung statt sonst üblicher Abstimmungsdemokratie ist bei Occupy-Versammlungen angesagt. Ergo zeigen die Schauspieler den Zuschauern erst einmal die klar definierten Handzeichen zur Veto-Abgabe. Und zur Meinungsäußerung bitte das „menschliche Mikrofon“ benutzen: Einer gibt sein Statement ab, seine Sitznachbarn wiederholen den Satz im Sprechchor. Das ist keine Lösch-Erfindung, sondern eine Idee der Occupy-Wall-Street-Versammlungen, um die Kommunikation in großen Gruppen zu ermöglichen, obwohl die Verwendung von Verstärkern und Megaphonen von der Stadt untersagt worden war.
Das Stuttgarter Premieren-Publikum macht zunächst engagiert mit: „Warum zählen Sie sich zu den 99 % der Menschen, die gegenüber dem einen Top-Prozent vom Großteil der Finanzmittel und damit vom politischen Einfluss ausgeschlossen sind?“ „Weil ich mir eine aufwendige Zahnbehandlung nicht leisten kann“; „weil ich auf die Altersarmut zusteuere“; „weil ich mich verweigert habe, meine Seele zu verkaufen“, skandieren die menschlichen Mikrofone.
Die Stimmung kippt
Auch bei der Forderung nach einem Stopp aller Rüstungsexporte aus Deutschland gelingt es den Schauspielern Lisa Bitter, Marco Albrecht, Jan Jaroszek, Matthias Kelle und Markus Lerch noch, einen gewissen Zuschauer-Konsens herzustellen. Die Aufforderung allerdings, mal darüber nachzudenken, wie man diese Forderung umsetzen könne, führt in kürzester Zeit zu tumultuösen Zuständen im Schauspielhaus. Eine Frau, sich dem Gebrauch des menschlichen Mikrofons jetzt verweigernd, schimpft: „Sie manipulieren uns. In dem Stück geht es schließlich um Mord. Wohin soll das hier führen?“ „Wir wollen Camus sehen“, brüllen nun einige Zuschauer, die der Diskussion überdrüssig geworden sind und ganz vergessen zu haben scheinen, dass Camus einst als Mitglied der Résistance aktiven Widerstand im besetzten Frankreich geleistet hat.
Ein Buh-Chor macht die Kommunikation zeitweise unmöglich. Einige Leute verlassen kopfschüttelnd den Saal. Eine Zuschauerin fordert verzweifelt, die Diskussion doch bitte ernstzunehmen. Ein offenbar durch die Tumulte verwirrter Herr fordert „Schauspieler raus!“, woraufhin einer der Akteure einwendet: „Wer soll dann aber Camus fertigspielen?“ Licht aus, Spot on. „Die Gerechten“ gehen weiter.
Die offene Form erlaubt das. Jetzt sind ohnehin die meisten Krakeler aus dem Saal. Das Publikum beruhigt sich. Die Revolutionäre streiten weiter. Ist Lösch an dieser Stelle gescheitert? Hat er konstruktive Vorschläge erwartet? Hat er mit solch aufbrausenden Emotionen gerechnet? Elektrisierender als dieser Abend und näher dran an aktuellen gesellschaftlichen Fragen kann Theater aber nicht sein.
Ziviler Ungehorsam
Es geht dann auch noch weiter: Mit Videoprojektionen wird an gelungene Protestaktionen und wirkungsvollen zivilen Ungehorsam erinnert: an die Aktivisten-Gruppe „The Yes-Man“ etwa, die in einer gefälschten „New York Times“ das Ende des Irakkriegs verkündete. Oder an die Schotter-Aktionen der Castor-Gegner, die Atommüll-Transporte aufhielten. Wieder Fragen: Wer hat Ideen für politische Aktionen, die unser Leben besser machen? Stift und Block liegen unter den Sesseln. Bier wird gereicht: Die besten Aktionsideen entstanden schließlich während des Genusses von Gerstensaft. Die Stimmung im Publikum lockert sich, zehn Minuten angeregtes Plaudern, worüber auch immer.
„Mehr Freizeit“ wird gefordert, „ein medienwirksamer Flashmob in Sachen kostenloser Kitas“. „Politiker sollen durch die Schauspieler ersetzt“ und „Arbeit nach sozialer Wertigkeit bezahlt werden“. Das Ergebnis ist mau, zu kurz die Zeit. Aber darum geht es gar nicht mehr. Es haben sich so viele Fragen im Kopf angesammelt, die man mit nach draußen, mit auf die Straße nehmen wird. Man kann aus Camus’ Stück nicht mehr herausholen.
Lösch und sein Team haben „Die Gerechten“ gekürzt und die Szenen umgestellt, so dass die Frage, ob das Attentat gelingt, bis zum Schluss offen bleibt. „Zerstören, darauf kommt es an!“, sagt einer der Revolutionäre. Ein letztes Mal wird das Publikum befragt: „Was halten Sie davon, dass die Bombe geworfen wird?“ Für die Findung eines Konsenses lässt man sich jetzt nicht mehr viel Zeit. Eine ungeheure Detonation erschüttert den Raum. Der Fürst ist tot.
Die nächsten Vorstellungen finden statt am 28. Mai sowie am 1., 2., 4., 19., 21., 23. und am 28. Juni im Schauspielhaus.
Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 21. Mai. Premiere war am 19. Mai.
eduarda - 22. Mai, 15:37