Donnerstag, 1. Dezember 2011

Russische Seele mal ganz klassisch

Die Stuttgarter Philharmoniker und der Trompeter Reinhold Friedrich musizieren im Beethovensaal in der Leitung von John Axelrod

Stuttgart - „Gefährliche Liebschaften“ war das Motto des jüngsten Abokonzerts der Stuttgarter Philharmoniker. Aber der Titel „Gefährliche Viren und Toxine“ hätte auch nicht schlecht gepasst. Denn am Beginn stand die Ansage, dass der Dirigent des Abends grippekrank und der Solist einer Lebensmittelvergiftung zum Opfer gefallen sei. Beide traten zur Erleichterung des mittelprächtig gefüllten Beethovensaals allerdings trotzdem auf. Von Viren und Toxinen war dann auch gar nichts zu hören.

In zwei Sätzen aus der Konzertsuite „Medea“, die Samuel Barber in den 1950er-Jahren aus seinem Ballett über die rachsüchtige mythologische Mörderin zusammengestellt hat, zeigten die Philharmoniker in der Leitung des texanischen Dirigenten John Axelrod eine brillante Bläserfraktion und farbig wie rhythmisch stringent agierende Streicher. Dank transparentem Klangbild konnte sich der gestische Duktus dieser Musik kraftvoll entfalten - ob in der melancholischen Meditation oder im wild-dramatischen Rachetanz.

Ein besonders vielschichtiger Leckerbissen für die Ohren erklang dann mit dem Trompetenkonzert „miramondo multiplo“ von Olga Neuwirth, komponiert 2006. Der Titel, der soviel bedeutet wie vielfach aufgefächerte Betrachtung der Welt, schlägt sich eins zu eins in der Partitur nieder: Vielstimmig, kleingliedrig, wuselig, mal dicht, mal locker gefügt verändert das Klanggewebe des Orchesters ständig seine Farben und Helligkeitsgrade. Die grelle Stimme der Trompete - trotz Erkrankung sicher, brillant und exakt gespielt von Reinhold Friedrich - tönt in diese Welt hinein, wird reflektiert, vervielfacht oder weiterverarbeitet. Zitiertes taucht auf und verschwindet wieder. Als erwecke die hier fast durchweg martialische Stimme der Trompete - die im 20. Jahrhundert besonders im Jazz ja auch sensiblere Töne gelernt hat - die alten barocken Geister wieder, scheint plötzlich im langsamen Satz Händels Arie „Lascia ch‘io pianga“ auf, wird überschrieben, versinkt in mikrointervallischem Klangnebel.

In Tschaikowskys „Manfred“-Sinfonie - einer sinfonischen Dichtung nach Lord Byrons dramatischem Gedicht über eine Geschwisterliebe - verzichtete Axelrod auf das sonst übliche schwerblütige und aufgewühlte Pathos. Er setzte auf epische Breite und wohldosierte Lautstärken, die selbst in der finalen Höllenfahrt des Titelhelden und dem schmetternden Einsatz des Orgelwerks kaum bombastisch zu nennen waren. Dafür baute er bedächtig eine innere Dramatik auf, die mehr und mehr zur zwingenden Logik wurde. Natur- und Seelengemälde wirkten so zwar eher klassisch abstrakt als finster oder fantastisch, das Pastorale-Andante weniger süffig dahinschmelzend und das Finale weniger gewalttätig. Aber das stand dem Werk nicht schlecht, wenn man vom Klischee der russischen Seele und ihrer Lust am Leiden einmal Abstand nimmt.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 1.12. Das Konzert fand statt am 29.11.

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