Donnerstag, 15. Juli 2010

Schuld und Sühne light

"Napoleon Raskolnikow im Schnee" frei nach Fjodor Dostojewskis Roman im Stuttgarter Theater Rampe

Der vierfache Raskolnikow (von links): Georgi Novakov, Klaus Gramüller, Tom Baert und Bernhard Linke, Foto: Rüdiger Schestag

Stuttgart – Beim Verlassen des Stuttgarter Theaters Rampe pfiff man ausgerechnet Bachs gefühliges "Erbarme dich, mein Gott" aus der Matthäus-Passion vor sich hin. Aber nicht in schwermütiger Stimmung, die die Thematik des Theaterabends eigentlich in einem hätte hinterlassen müssen, sondern eher in fröhlicher. Grund dafür war wohl die Leichtigkeit, mit der sich das freie Ensemble TART-Produktion auf der Bühne seines Kooperationspartners, des Stuttgarter Theaters Rampe, an den schwergewichtigen Roman "Verbrechen und Strafe" (früher bekannt als "Schuld und Sühne") von Fjodor Dostojewski herangewagt hatte.

Den voluminösen Roman, mit dem man sich monatelang beschäftigen kann, hat man auf gut 75 Theaterminuten zusammenschnurren lassen. Die Bühnenfassung "Napoleon Raskolnikow im Schnee" von Bernhard M. Eusterschulte und Rebecca Mühlich bietet eine Art Bewusstseinsstrom aus Textfragmenten und Motiven des Romans und aktualisierten Umformulierungen. Zentrum ist das Ich Raskolnikows, des Protagonisten des Romans: Ein größenwahnsinniger, hochintelligenter, armer Jurastudent, der aus Habgier im Dienste des gesellschaftlichen Aufstiegs zum Doppelmörder wird: Er haut der Pfandleiherin Aljona Iwanowa ein Beil in den Kopf, und auch deren zufällig auftauchende Schwester muss dran glauben. Raskolnikows Rechtfertigung: Der Zweck heiligt die Mittel, wie im Falle Napoleons und anderer großer Männer. "Was bedeutet auf der großen Waage das Leben dieser bösen Alten? Doch kaum mehr als das Leben einer Laus, einer Küchenschabe und noch weniger", denkt er.

Die Morde oder andere Handlungselemente des Romans werden auf der Bühne nicht gezeigt, nur angedeutet im Wörterfluss. Nicht immer ist es einfach, dem zu folgen. Aufgeteilt ist der Text auf vier Personen, die alle Raskolnikow sind. Ebenfalls auf der Bühne anwesend: der Cellist Scott Roller, der das Geschehen mit sachten Melodien, "La Cucaracha" oder "All you need ist love" der Beatles kommentiert.

Regisseurin Johanna Niedermüller hat ganz unterschiedliche Typen inszeniert: Den Anzug tragenden Rationalisten und PR-Menschen (Bernhard Linke), den bodenständigen "Normalo" in geflickten Schuhen und Jogginghose (Klaus Gramüller), den versoffenen, rauchenden, in sich gefangenen Melancholiker in Rüschenhemd (Georgi Novakov), der mit breitem bulgarischen Akzent manchmal zu übertrieben die Sätze in die Länge dehnt, und den barfüßigen, emotionalen, tanzenden Ästheten (Tom Baert). Die vier diskutieren beständig miteinander, beschimpfen sich, spucken sich Popcorn ins Gesicht, das die Papiertüten mit "Fotze schlachten"-Aufdruck füllt. Man tanzt gelegentlich Blues und fasst sich an den Hintern oder schupst sich von der Rampe. Immer wieder kommt man zu demselben Schluss: Die Morde waren im Grunde nicht das Problem. Das eigentliche Verbrechen war ihre dilettantische Ausführung: Der Mord an der Schwester war nicht geplant, die Hals-über-Kopf-Flucht genauso wenig, und das Geld, um das es eigentlich ging, blieb auch liegen. Raskolnikow scheiterte an seinem eigenen Anspruch.

Die Bühne ist minimalistisch ausgestattet. Ein Tisch, Stühle, eine Tapetenwand voller Zettel: "Verbrechen schafft Arbeit", "In mir tobt die Theorie", "Gewissen ist Mangel an Selbstdisziplin". Im Fluss hin- und herspringender Gedanken und Assoziationen geht es immer wieder um die Frage, was das ist: Gewissen, Selbstverantwortung, Schuld. All das ist dem Protagonisten fremd. Es ekelt ihn vor den Menschen. Die Roman-Figur der liebenden Sonja bleibt weitgehend ausgespart. Dafür unterbricht einmal Raskolnikows Bewährungshelferin (Nina Heller) das Geschehen. Sie gibt ihm keine "positive Sozialprognose", weil er sich so verhält wie die meisten Verbrecher: Er kann seine Tat nicht angemessen reflektieren, sucht die Schuld bei anderen.

Was schließlich Bachs "Erbarme dich"-Arie angeht: Die war Teil der stärksten Phase der Inszenierung. Tanztheaterspezialist Tom Baert tanzt Raskolnikow, wie er mit dem Freitod kokettiert: zeigt seine innere Leere, seinen Selbsthass, seine Verzweiflung (Choreographie: Nina Kurzeja). Dazu spielt Scott Roller die Arie: ganz ruhig, mit dem Cello nur die Basslinie andeutend, die Melodie pfeifend und summend. Fein!

Und die Botschaft des Abends? In Zeiten unserer Wirtschaftsdiktatur, in der Moral, Mitgefühl, Solidarität durch Abwesenheit glänzen, ist Raskolnikow nur einer von vielen. Der Abend schließt mit der Rezitation seines "Traums von den Trichinen", von einer unheimlichen Seuche, die die Menschheit befällt und sie in die Selbstvernichtung treibt. Nichts Gutes, was uns in Aussicht gestellt wird. Und doch nichts, was einem die Laune verdürbe. Dank dieses kurzweiligen, assoziativen, dennoch abgründigen Theaterabends, der die Lektüre des Romanes freilich nicht ersetzen kann.

Rezension für nachtkritik.de und die Eßlinger Zeitung vom 15. Juli. Die Premiere fand statt am 13. Juli 2010.

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