Überwältigend
Marc Piollet dirigiert das Stuttgarter Staatsorchester in der Liederhalle

Marc Piollet
Stuttgart - Spätestens beim majestätischen „Alphornruf“ im Finale dürfte jeder fortschrittliche Brahmsianer an diesem Sonntagmorgen im siebten Himmel geschwebt haben: Eine derart überwältigende Interpretation von Johannes Brahms‘ erster Sinfonie, wie sie das Stuttgarter Staatsorchester unter der Leitung des französischen Dirigenten Marc Piollet, derzeit Generalmusikdirektor am Staatstheater Wiesbaden, in die Welt entließ, werden die meisten Ohren im sehr gut besuchten Beethovensaal schon lange nicht mehr vernommen haben. Überwältigend war Piollets Dirigat, weil es einerseits satte Klanglichkeit, packende Dramatik und fließendes Melos zu ihrem Recht kommen ließ, andererseits aber das Staatsorchester zu einem derart transparenten Klangbild animierte, dass so manches hörbar wurde, was oft genug unter süßem Streicherschmelz verschwindet: zierliche Gegenstimmen und harmonische Reibungen genauso wie überraschende Stimmungswechsel. Piollets spezifisch französisches Gespür für Klangfarben und Farbwerte und sein extrem sensibler Sinn für jene feinen Strukturen, die sich bei Brahms als entwickelnde Variationen emsig unter der Oberfläche abarbeiten, zogen vom ersten bis zum letzten Takt in den Bann. Eine Interpretation, die auch ganz deutlich machte, warum Arnold Schönberg Brahms einst als „Fortschrittlichen“ bezeichnete. Das Staatsorchester war in diesen 45 Minuten in sinfonischer Höchstform, auch was die vielen solistischen Einsätze von Bläsern und Streichern angeht.
Zuvor hatten Piollet und das Orchester in Olli Mustonen einen kongenialen Dritten im Bunde gefunden: Der finnische Klavier-Feuerkopf, der auch als Dirigent und Komponist erfolgreich ist, brillierte in Béla Bartóks letztem Werk, dem dritten Klavierkonzert, nicht nur mit technischer Perfektion und einer ungeheueren rhythmisch-metrischen Beweglichkeit, sondern vor allem auch mit seinem poetischen, sprechenden Ton: quecksilbrig-nervös, scharf, spitz, grell im ersten Satz, nach innen gekehrt, dennoch nie allzu verträumt im Adagio religioso und stets aufmüpfig im Finale. Mustonens besondere Spezialität: Charaktere, Stimmungen, Gesten blitzschnell das Gesicht wechseln zu lassen - auch innerhalb einer einzigen Phrase. Mit exzentrischer, zackiger Gestik die Klaviatur bearbeitend, sich des öfteren mit dem Jackettärmel die Stirn wischend, wirkte Mustonen stets hoch angespannt. Das Staatorchester reagierte gelassen und war dem Romantiker Mustonen ein dunkler Wald, in dem seine Farben, Gedanken und Ideen stets ihren Widerhall fanden.
Dass sich Witold Lutoslawskis Trauermusik („Musique funèbre“), die am Programmbeginn stand, mit ihrer ganzen kahlen, fahlen, entbeinten Klanglichkeit in einigen Momenten des Beginns der zum Schluss gespielten Brahms-Sinfonie widerzuspiegeln schien, ist eines der musikalischen Mysterien dieses Morgens, die Marc Piollet zu verdanken sind.
Eine weitere Aufführung beginnt heute um 19.30 Uhr im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle.
Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 1.2.2010

Marc Piollet
Stuttgart - Spätestens beim majestätischen „Alphornruf“ im Finale dürfte jeder fortschrittliche Brahmsianer an diesem Sonntagmorgen im siebten Himmel geschwebt haben: Eine derart überwältigende Interpretation von Johannes Brahms‘ erster Sinfonie, wie sie das Stuttgarter Staatsorchester unter der Leitung des französischen Dirigenten Marc Piollet, derzeit Generalmusikdirektor am Staatstheater Wiesbaden, in die Welt entließ, werden die meisten Ohren im sehr gut besuchten Beethovensaal schon lange nicht mehr vernommen haben. Überwältigend war Piollets Dirigat, weil es einerseits satte Klanglichkeit, packende Dramatik und fließendes Melos zu ihrem Recht kommen ließ, andererseits aber das Staatsorchester zu einem derart transparenten Klangbild animierte, dass so manches hörbar wurde, was oft genug unter süßem Streicherschmelz verschwindet: zierliche Gegenstimmen und harmonische Reibungen genauso wie überraschende Stimmungswechsel. Piollets spezifisch französisches Gespür für Klangfarben und Farbwerte und sein extrem sensibler Sinn für jene feinen Strukturen, die sich bei Brahms als entwickelnde Variationen emsig unter der Oberfläche abarbeiten, zogen vom ersten bis zum letzten Takt in den Bann. Eine Interpretation, die auch ganz deutlich machte, warum Arnold Schönberg Brahms einst als „Fortschrittlichen“ bezeichnete. Das Staatsorchester war in diesen 45 Minuten in sinfonischer Höchstform, auch was die vielen solistischen Einsätze von Bläsern und Streichern angeht.
Zuvor hatten Piollet und das Orchester in Olli Mustonen einen kongenialen Dritten im Bunde gefunden: Der finnische Klavier-Feuerkopf, der auch als Dirigent und Komponist erfolgreich ist, brillierte in Béla Bartóks letztem Werk, dem dritten Klavierkonzert, nicht nur mit technischer Perfektion und einer ungeheueren rhythmisch-metrischen Beweglichkeit, sondern vor allem auch mit seinem poetischen, sprechenden Ton: quecksilbrig-nervös, scharf, spitz, grell im ersten Satz, nach innen gekehrt, dennoch nie allzu verträumt im Adagio religioso und stets aufmüpfig im Finale. Mustonens besondere Spezialität: Charaktere, Stimmungen, Gesten blitzschnell das Gesicht wechseln zu lassen - auch innerhalb einer einzigen Phrase. Mit exzentrischer, zackiger Gestik die Klaviatur bearbeitend, sich des öfteren mit dem Jackettärmel die Stirn wischend, wirkte Mustonen stets hoch angespannt. Das Staatorchester reagierte gelassen und war dem Romantiker Mustonen ein dunkler Wald, in dem seine Farben, Gedanken und Ideen stets ihren Widerhall fanden.
Dass sich Witold Lutoslawskis Trauermusik („Musique funèbre“), die am Programmbeginn stand, mit ihrer ganzen kahlen, fahlen, entbeinten Klanglichkeit in einigen Momenten des Beginns der zum Schluss gespielten Brahms-Sinfonie widerzuspiegeln schien, ist eines der musikalischen Mysterien dieses Morgens, die Marc Piollet zu verdanken sind.
Eine weitere Aufführung beginnt heute um 19.30 Uhr im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle.
Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 1.2.2010
eduarda - 31. Jan, 23:27