Vier Fäuste und kein Hallelujah
Pierre Charial und Joris Verdin mit Drehorgel und Harmonium in den Wagenhallen - Weltklasse-Klarinettist Michael Riessler steuert Avantgarde-Jazz bei

Stuttgart - Man hört sie gelegentlich noch auf dem Jahrmarkt oder in Einkaufspassagen. Dann tritt sie meistens als etwas dudelige Schlagersängerin oder mit blechernem Tschingderassabum in Erscheinung: die Drehorgel. Aber als präzise Interpretin von Strawinskys „Le sacre du printemps“? Wenn der Franzose Pierre Charial die Bühne betritt wie jetzt in den Stuttgarter Wagenhallen wird das möglich. Man traut bald seinen Augen und Ohren nicht mehr. Was da aus seinem Instrument tönt, das trotz seiner 156 Holzpfeifen auf einen kleinen Handwagen passt, ist satztechnisch komplexeste, rhythmisch komplizierteste Musik. Er spielt darauf Werke aller Genres, ob Avantgarde, Jazz oder Filmmusik.
An diesem spektakulären Abend trat er im Duo mit dem Weltklasse-Jazz-Klarinettisten Michael Riessler auf. Ein spannendes Konzert, in dem Pierre Charial seine Klangmaschine solo, aber genauso oft auch als Begleitinstrument zu Riesslers quirligen, feingliedrigen Avantgarde-Jazz-Stücken kurbelte, als wäre die Drehorgel - in diesem Fall eine Sonderanfertigung von André Odin - speziell dafür gemacht.
Wenn Charial die Kurbel in Gang setzt, ist ein großer Teil seiner Interpretation zwar schon getan: die Herstellung der faltbaren Lochpappen, die nun nacheinander als lange Schlangen durch die Maschine krochen - um dort dafür zu sorgen, dass der Druckluftapparat seinen Atem in die richtigen Orgelpfeifen pustet, um am Ende auf der anderen Seite wieder sauber gestapelt ausgespuckt zu werden.
Dennoch ist die Art und Weise, wie Charial die Handkurbel dreht, offenbar entscheidend für die Klangwirkung. Er dreht sie sorgfältig, reagiert genau und konzentriert auf die rhythmisch fein differenzierenden Soli Riesslers. Das Kurbeln als poetische, expressive Geste, die für Tempo, Phrasierung, Sinnstiftung und Spannung zuständig ist. Charial, zunächst Fagottist und Pianist, hat das Instrument 1974 für sich entdeckt. Seither bearbeitet er Papierrollen, stanzt eigene Werke oder die anderer hinein. Viele Komponisten sind so fasziniert von seiner Kunst, dass sie ihm Solowerke geschrieben haben: etwa György Ligeti, mit dessen „Musica ricercata“ Charial an diesem Abend die feinen und filigranen Klangmöglichkeiten seines gelegentlich auch zur Höllenmaschine mutierenden Leierkastens demonstriert.
Melodien auf der „Methodistenquetsche“
Bevor Charial und Riessler die Bühne betraten, hatte schon ein anderer Exot für Aufsehen gesorgt: das Harmonium, eine Orgelerfindung des 19. Jahrhunderts, die ohne Pfeifen auskommt. Wie beim Akkordeon werden durch Blasebalgbeatmung Metallzungen in Schwingung gebracht. Joris Verdin, belgischer Organist und Musikwissenschaftler, war der Virtuose an diesem fast vergessenen Tasteninstrument, das in alten Westernfilmen als Wahrzeichen frommer Pioniere zum Einsatz kam. „Methodistenquetsche“ wurde das Harmonium oft genannt, weil es armen Kirchen und reisenden Missionaren als Orgelersatz diente. Dabei begeisterten sich einst auch die Pariser Bürger in ihren Salons für das damals brandneue Instrument.
Deshalb spielte Verdin auch fast ausschließlich Werke französischer Komponisten, die für das Harmonium eine Menge Originalkompositionen beigesteuert haben. Die Klangfarbenvielfalt, die Verdin auf seinem Instrument zu entfalten weiß, war dabei beeindruckend. Ob in Georges Bizets Caprice, Camille Saint-Saëns‘ Barcarolle, Alexandre Guilmants Mazurka de Salon oder Sigfrid Karg-Elerts Ciaconna con variazioni: Weiche Melodik, zart tröpfelnde Läufe und kräftige Polyphonie kann Verdin dem Harmonium ebenso entlocken wie das wütend grollende Donnerwetter, das in Théodore Dubois‘ Pastorale eine Hirtenidylle unterbricht. Verdin, Gegenteil eines exaltierten Tastenlöwen, spielte in sich versunken, konzentrierte sich darauf, Tastenspiel und Blasebalgpedale in Einklang zu bringen: das riesige Atembedürfnis des Instruments gleichmäßig zu stillen, um dadurch Legato-Spiel und dynamische Gestaltung zu ihrem Recht kommen zu lassen - wie aus der Zeit gefallen, verträumt und etwas melancholisch.
Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 11. September. Die Konzerte fanden statt am 7. September.

Stuttgart - Man hört sie gelegentlich noch auf dem Jahrmarkt oder in Einkaufspassagen. Dann tritt sie meistens als etwas dudelige Schlagersängerin oder mit blechernem Tschingderassabum in Erscheinung: die Drehorgel. Aber als präzise Interpretin von Strawinskys „Le sacre du printemps“? Wenn der Franzose Pierre Charial die Bühne betritt wie jetzt in den Stuttgarter Wagenhallen wird das möglich. Man traut bald seinen Augen und Ohren nicht mehr. Was da aus seinem Instrument tönt, das trotz seiner 156 Holzpfeifen auf einen kleinen Handwagen passt, ist satztechnisch komplexeste, rhythmisch komplizierteste Musik. Er spielt darauf Werke aller Genres, ob Avantgarde, Jazz oder Filmmusik.
An diesem spektakulären Abend trat er im Duo mit dem Weltklasse-Jazz-Klarinettisten Michael Riessler auf. Ein spannendes Konzert, in dem Pierre Charial seine Klangmaschine solo, aber genauso oft auch als Begleitinstrument zu Riesslers quirligen, feingliedrigen Avantgarde-Jazz-Stücken kurbelte, als wäre die Drehorgel - in diesem Fall eine Sonderanfertigung von André Odin - speziell dafür gemacht.
Wenn Charial die Kurbel in Gang setzt, ist ein großer Teil seiner Interpretation zwar schon getan: die Herstellung der faltbaren Lochpappen, die nun nacheinander als lange Schlangen durch die Maschine krochen - um dort dafür zu sorgen, dass der Druckluftapparat seinen Atem in die richtigen Orgelpfeifen pustet, um am Ende auf der anderen Seite wieder sauber gestapelt ausgespuckt zu werden.
Dennoch ist die Art und Weise, wie Charial die Handkurbel dreht, offenbar entscheidend für die Klangwirkung. Er dreht sie sorgfältig, reagiert genau und konzentriert auf die rhythmisch fein differenzierenden Soli Riesslers. Das Kurbeln als poetische, expressive Geste, die für Tempo, Phrasierung, Sinnstiftung und Spannung zuständig ist. Charial, zunächst Fagottist und Pianist, hat das Instrument 1974 für sich entdeckt. Seither bearbeitet er Papierrollen, stanzt eigene Werke oder die anderer hinein. Viele Komponisten sind so fasziniert von seiner Kunst, dass sie ihm Solowerke geschrieben haben: etwa György Ligeti, mit dessen „Musica ricercata“ Charial an diesem Abend die feinen und filigranen Klangmöglichkeiten seines gelegentlich auch zur Höllenmaschine mutierenden Leierkastens demonstriert.
Melodien auf der „Methodistenquetsche“
Bevor Charial und Riessler die Bühne betraten, hatte schon ein anderer Exot für Aufsehen gesorgt: das Harmonium, eine Orgelerfindung des 19. Jahrhunderts, die ohne Pfeifen auskommt. Wie beim Akkordeon werden durch Blasebalgbeatmung Metallzungen in Schwingung gebracht. Joris Verdin, belgischer Organist und Musikwissenschaftler, war der Virtuose an diesem fast vergessenen Tasteninstrument, das in alten Westernfilmen als Wahrzeichen frommer Pioniere zum Einsatz kam. „Methodistenquetsche“ wurde das Harmonium oft genannt, weil es armen Kirchen und reisenden Missionaren als Orgelersatz diente. Dabei begeisterten sich einst auch die Pariser Bürger in ihren Salons für das damals brandneue Instrument.
Deshalb spielte Verdin auch fast ausschließlich Werke französischer Komponisten, die für das Harmonium eine Menge Originalkompositionen beigesteuert haben. Die Klangfarbenvielfalt, die Verdin auf seinem Instrument zu entfalten weiß, war dabei beeindruckend. Ob in Georges Bizets Caprice, Camille Saint-Saëns‘ Barcarolle, Alexandre Guilmants Mazurka de Salon oder Sigfrid Karg-Elerts Ciaconna con variazioni: Weiche Melodik, zart tröpfelnde Läufe und kräftige Polyphonie kann Verdin dem Harmonium ebenso entlocken wie das wütend grollende Donnerwetter, das in Théodore Dubois‘ Pastorale eine Hirtenidylle unterbricht. Verdin, Gegenteil eines exaltierten Tastenlöwen, spielte in sich versunken, konzentrierte sich darauf, Tastenspiel und Blasebalgpedale in Einklang zu bringen: das riesige Atembedürfnis des Instruments gleichmäßig zu stillen, um dadurch Legato-Spiel und dynamische Gestaltung zu ihrem Recht kommen zu lassen - wie aus der Zeit gefallen, verträumt und etwas melancholisch.
Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 11. September. Die Konzerte fanden statt am 7. September.
eduarda - 11. Sep, 08:43