Was isst Liebe?
Lulu – Armin Petras inszeniert in Stuttgart das "Rock-Vaudeville" der Tiger Lillies nach Frank Wedekind
Stuttgart- Immerhin: Niemand muss ganz nackt auf die Bühne! Alle haben immer irgendetwas an. Wenn nicht volles Outfit, dann wenigstens schwarze Shorts, Stofffetzen, Binden um Brüste und Augen. Einmal spült Lulu ihr Kleid mit Wasser weg, es löst sich auf, und sie liegt nackt auf einem Tisch: auf den Zacken hunderter Speisegabeln. Aber sofort geht das Licht aus. Also: Kompliment! Armin Petras erspart seinem Publikum in der kleinen Spielstätte Nord des Staatstheaters Stuttgart doch tatsächlich (fast ganz) eine splitternackte Lulu. Danke!
Dafür liefert er aber schon ganz am Anfang einen anderen Klischee-Fettnapf: "Lulu – Ein Rock-Vaudeville" beginnt mit Ravels "Bolero" – dem musikalischen Opfer eines 1979er-Films und seiner zentralen Bettszene. Vorher hat sich Lulu schon zaghaft auf die Schöße von Publikums-Männern gesetzt. Dann verschwindet sie hinterm lichten Plastikvorhang und windet sich tänzelnd zum "Bolero". Das wäre ja nicht weiter schlimm. Wenn bloß nicht das Ironie-Signal fehlen würde.
Und so gestaltet sich der ganze Abend. Geprägt von einer gewissen Lustlosigkeit an der Klarheit, an der Präzision, überhaupt am Stoff. Und das in Zeiten, da "Lulu" punktgenau auf eine international geführte Debatte über Sexisten, Grapscher, Vergewaltiger trifft. Das macht ratlos.
Lulus Geister
Frank Wedekind legt in seinem Skandalstück eine durch Scheinmoral korrumpierte Gesellschaft frei. Lulu, in Armut geboren, freizügig, triebhaft, abhängig, ausgebeutet, Verführerin, Sklavin. Dann der Befreiungsschlag: Ihr Körper wird zum Instrument, der Männer zerstört. Sie mordet und wird dann selbst gemeuchelt. In Petras' Sicht der Dinge schrumpft sie zur Karikatur zusammen. Klar, er inszeniert nicht Wedekinds Originaltext, sondern den Song-Zyklus "Lulu – Ein Rock-Vaudeville" von The Tiger Lillies, einer englischen Band, die sich der Theatermusik verschrieben hat, mit anarchisch-britischem Humor auf eine Stilmixtur aus Kunstmusik, Punk, Kabarett, Zirkusklängen, Epischem Theater, französischem Chanson setzt.
In ihrer "Lulu"-Version haben die Tiger Lillies in 18 Songs entscheidende Themen des Stücks amalgamiert, das Resultat ist in vielem der Brecht-Weillschen "Dreigroschenoper" ähnlich. Die Tiger-Lillies-"Lulu" stellt aber zwischen den Songs eine Menge Leerplätze zur Verfügung. Petras füllt sie nun mit Klamauk, zur Schau gestellter Inhaltslosigkeit, Fremdtexten. Wedekinds Skandalstück geistert im Raum herum, ist aber nicht zu fassen.
Sandra Gerling als Lulu ist dabei gänzlich unterfordert. Robbt zum Song "Bird in a cage" mit lahmen Beinen über die leere Bühne – die durch zwei kleine Showbühnen mit Band-Equipment gerahmt wird –, klettert auf den Flügel und stülpt sich ein blutrotes Tüllkleid über. Lässt sich beim "Mirror"-Song umrundet von Spiegeln zu einer bleichen, blutigen Leiche schminken. Performt mit riesigem Federschmuck auf dem Kopf und durchaus witzigem Stimmeverstellen das Märchen vom König, der seine eigene Tochter heiraten will. Es gibt noch weitere Lulus, die über die Bühne irrlichtern. Sie tun nichts zur Sache.
Macho-Klischee-Parade
Die Männerfiguren – vom Maler Schwartz bis zu Jack the Ripper – sind nicht weniger Karikatur. Die Zeit zwischen den Songs – professionell gesungen vom Multiinstrumentalisten Miles Perkin oder dilettantisch von Ensemble-Mitgliedern – füllt sich mit Nonsens: Man tanzt minimalistisch mit Zylindern auf dem Kopf. Männer tollen auf allen Vieren herum und mimen gierig hechelnde Hunde. Ein Schlechte-Witze-Erzähler mit neonfarbenen Jonglier-Keulen und Gewehr ("Treffen sich zwei Schnecken im Wald …") und ein Macho-Rapper ("Alle Fotzen ohne Hirn lutschen meinen Schwanz") treten auf. Immerhin gibt Paul Grill als Maler Schwartz eine lustige Kunst-Performance, in der er die Farbe auf seinen Körper schmiert und sie dann durch Sprünge gegen die Leinwand dorthin befördert. Ist aber aus "Fack ju Göhte 3" geklaut. Und dann sprechen alle im Chor mehrmals "Liebe ist …", was unbeantwortet bleibt und an die kitschigen Cartoons mit dem pummeligen Pärchen erinnert. Oder ist "Liebe isst" gemeint? Würde besser passen zur Monstre-Tragödie.
Zieht man den Dilettantismus der Singenden ab, wird den Tiger-Lillies-Songs ein wenig das Anarchische ausgetrieben, auch wenn sie oft lustig mit Toy-Piano und Alltagsgegenständen begleitet werden. Die Darsteller*innen zeigen freilich, dass sie auch instrumental etwas drauf haben: André Willmund etwa spielt ganz fantastisch Trompete.
Aber so aufgedreht, so schrill, so laut das Ensemble auch performt, es kann die schockierende Lustlosigkeit des Regisseurs nicht überspielen. Es ist Petras' letzte Spielzeit in Stuttgart. Und er zeigt ganz deutlich, dass er auf diese Stadt keinen Bock mehr hat.
Rezension für nachtkritik.de. Premiere war am 24.11.2017.
Stuttgart- Immerhin: Niemand muss ganz nackt auf die Bühne! Alle haben immer irgendetwas an. Wenn nicht volles Outfit, dann wenigstens schwarze Shorts, Stofffetzen, Binden um Brüste und Augen. Einmal spült Lulu ihr Kleid mit Wasser weg, es löst sich auf, und sie liegt nackt auf einem Tisch: auf den Zacken hunderter Speisegabeln. Aber sofort geht das Licht aus. Also: Kompliment! Armin Petras erspart seinem Publikum in der kleinen Spielstätte Nord des Staatstheaters Stuttgart doch tatsächlich (fast ganz) eine splitternackte Lulu. Danke!
Dafür liefert er aber schon ganz am Anfang einen anderen Klischee-Fettnapf: "Lulu – Ein Rock-Vaudeville" beginnt mit Ravels "Bolero" – dem musikalischen Opfer eines 1979er-Films und seiner zentralen Bettszene. Vorher hat sich Lulu schon zaghaft auf die Schöße von Publikums-Männern gesetzt. Dann verschwindet sie hinterm lichten Plastikvorhang und windet sich tänzelnd zum "Bolero". Das wäre ja nicht weiter schlimm. Wenn bloß nicht das Ironie-Signal fehlen würde.
Und so gestaltet sich der ganze Abend. Geprägt von einer gewissen Lustlosigkeit an der Klarheit, an der Präzision, überhaupt am Stoff. Und das in Zeiten, da "Lulu" punktgenau auf eine international geführte Debatte über Sexisten, Grapscher, Vergewaltiger trifft. Das macht ratlos.
Lulus Geister
Frank Wedekind legt in seinem Skandalstück eine durch Scheinmoral korrumpierte Gesellschaft frei. Lulu, in Armut geboren, freizügig, triebhaft, abhängig, ausgebeutet, Verführerin, Sklavin. Dann der Befreiungsschlag: Ihr Körper wird zum Instrument, der Männer zerstört. Sie mordet und wird dann selbst gemeuchelt. In Petras' Sicht der Dinge schrumpft sie zur Karikatur zusammen. Klar, er inszeniert nicht Wedekinds Originaltext, sondern den Song-Zyklus "Lulu – Ein Rock-Vaudeville" von The Tiger Lillies, einer englischen Band, die sich der Theatermusik verschrieben hat, mit anarchisch-britischem Humor auf eine Stilmixtur aus Kunstmusik, Punk, Kabarett, Zirkusklängen, Epischem Theater, französischem Chanson setzt.
In ihrer "Lulu"-Version haben die Tiger Lillies in 18 Songs entscheidende Themen des Stücks amalgamiert, das Resultat ist in vielem der Brecht-Weillschen "Dreigroschenoper" ähnlich. Die Tiger-Lillies-"Lulu" stellt aber zwischen den Songs eine Menge Leerplätze zur Verfügung. Petras füllt sie nun mit Klamauk, zur Schau gestellter Inhaltslosigkeit, Fremdtexten. Wedekinds Skandalstück geistert im Raum herum, ist aber nicht zu fassen.
Sandra Gerling als Lulu ist dabei gänzlich unterfordert. Robbt zum Song "Bird in a cage" mit lahmen Beinen über die leere Bühne – die durch zwei kleine Showbühnen mit Band-Equipment gerahmt wird –, klettert auf den Flügel und stülpt sich ein blutrotes Tüllkleid über. Lässt sich beim "Mirror"-Song umrundet von Spiegeln zu einer bleichen, blutigen Leiche schminken. Performt mit riesigem Federschmuck auf dem Kopf und durchaus witzigem Stimmeverstellen das Märchen vom König, der seine eigene Tochter heiraten will. Es gibt noch weitere Lulus, die über die Bühne irrlichtern. Sie tun nichts zur Sache.
Macho-Klischee-Parade
Die Männerfiguren – vom Maler Schwartz bis zu Jack the Ripper – sind nicht weniger Karikatur. Die Zeit zwischen den Songs – professionell gesungen vom Multiinstrumentalisten Miles Perkin oder dilettantisch von Ensemble-Mitgliedern – füllt sich mit Nonsens: Man tanzt minimalistisch mit Zylindern auf dem Kopf. Männer tollen auf allen Vieren herum und mimen gierig hechelnde Hunde. Ein Schlechte-Witze-Erzähler mit neonfarbenen Jonglier-Keulen und Gewehr ("Treffen sich zwei Schnecken im Wald …") und ein Macho-Rapper ("Alle Fotzen ohne Hirn lutschen meinen Schwanz") treten auf. Immerhin gibt Paul Grill als Maler Schwartz eine lustige Kunst-Performance, in der er die Farbe auf seinen Körper schmiert und sie dann durch Sprünge gegen die Leinwand dorthin befördert. Ist aber aus "Fack ju Göhte 3" geklaut. Und dann sprechen alle im Chor mehrmals "Liebe ist …", was unbeantwortet bleibt und an die kitschigen Cartoons mit dem pummeligen Pärchen erinnert. Oder ist "Liebe isst" gemeint? Würde besser passen zur Monstre-Tragödie.
Zieht man den Dilettantismus der Singenden ab, wird den Tiger-Lillies-Songs ein wenig das Anarchische ausgetrieben, auch wenn sie oft lustig mit Toy-Piano und Alltagsgegenständen begleitet werden. Die Darsteller*innen zeigen freilich, dass sie auch instrumental etwas drauf haben: André Willmund etwa spielt ganz fantastisch Trompete.
Aber so aufgedreht, so schrill, so laut das Ensemble auch performt, es kann die schockierende Lustlosigkeit des Regisseurs nicht überspielen. Es ist Petras' letzte Spielzeit in Stuttgart. Und er zeigt ganz deutlich, dass er auf diese Stadt keinen Bock mehr hat.
Rezension für nachtkritik.de. Premiere war am 24.11.2017.
eduarda - 25. Nov, 18:53