Freitag, 15. Januar 2010

Winter in Russland

Die Stuttgarter Philharmoniker und Pianist Ivo Pogorelich im ausverkauften Beethovensaal der Liederhalle

Stuttgart - Ivo Pogorelich, einstiger Superstar der Klassikszene, setzt sich nur noch selten dem Rampenlicht aus. Auch das Aufnahmestudio meidet er. Sein Name ist indessen noch immer ein Zugpferd: Das Konzert der Stuttgarter Philharmoniker im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle, in dessen Rahmen Pogorelich jetzt mit Tschaikowskys erstem Klavierkonzert auftrat, war komplett ausverkauft. Diverse Abendkassenkunden mussten enttäuscht wieder nach Hause gehen.

Der für seine völlig gegen den Strich gebürsteten Interpretationen bekannte Pianist machte auch an diesem Abend seinem Ruf alle Ehre: Schon die ersten Klavierklänge, die wohl berühmtesten Des-Dur-Akkorde aller Zeiten, erschütterten in ihrer ganzen Kälte und Härte: Pogorelich stemmte sich mit all seiner Körperkraft in die Tasten, worauf der Steinwayflügel ein wenig verstimmt reagierte. Da war klar: Mit aalglattem, flinkem Virtuosenzauber oder poetisch-fantastischem Fingerballett würde man die nächsten 40 Minuten nicht rechnen können. Der 51-Jährige entfaltete stattdessen das ganze Panorama einer abweisenden, erstarrten Winterlandschaft. Wie aus Eisblöcken gehauen, formierte sich das virtuose Akkord- und Passagenwerk, grell-blendende Akzente zuckten durch düsteres Schneetreiben, und selbst den langsamen Satz gab Pogorelich distanziert, fahl, trocken. In den Solopassagen schien er zuweilen aus dem Zeitgefüge auszusteigen, die Musik zum Schweigen zu bringen. Einzelne Töne gefroren langsam zu scharfen Eiszapfen.

Darin steckte sehr viel Schmerz und Verzweiflung, was das Publikum irritiert zurückließ. Vom „Kampf zweier ebenbürtiger Kräfte“, von dem Tschaikowsky einmal in Hinblick auf seine eigenen Solokonzerte gesprochen hatte, war wenig zu spüren. Die Philharmoniker unter ihrem Chef Gabriel Feltz wirkten eher ein wenig eingeschüchtert, und Feltz hatte alle Hände voll zu tun, um des Pianisten verstörende Sicht auf die Dinge mit der rhythmisch-metrischen Auffassung des Orchesters in Einklang zu bringen. Da waren zwei Welten aufeinandergetroffen, die zueinander nicht finden konnten.

Wirklich zum Zuge kamen die Philharmoniker erst in Schostakowitschs Achter Sinfonie. Entstanden 1943 mitten im zweiten Weltkrieg und wie viele Sinfonien Schostakowitschs ein „Grabdenkmal für die Opfer von Krieg und Faschismus“, wie sie der Komponist einmal charakterisierte, fordert das schwierige Werk unterschiedlichste Tonfälle des Leidens, des Schreckens, des Trauerns. Feltz gelang es bravourös, den großen Spannungsbogen des fünfsätzigen, über einstündigen Werkes dezidiert aufzubauen und bis zum letzten Ton zu halten.

Das Orchester brachte sein ganzes Potenzial an Klangfarben, allen voran die glänzenden Holzbläser, zur Entfaltung: In den unbarmherzig in die Katastrophe führenden krassen Steigerungen und schrillen Klangballungen genauso wie in den grotesk-satirischen Passagen oder den fahlen, schleppenden Trauergesängen. Am Ende herrschte atemlose Stille im Beethovensaal.

Rezension für die Eßlinger Zeitungvom 20.1.2010

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