Zerfetzte Utopien
Eliam Kraiems Drama „Sechzehn Verletzte“ mit Ilja Richter im Alten Schauspielhaus Stuttgart

Stuttgart - Die Idee, dass alle Religionen gleichwertig seien und jeder den Wert seiner Religion durch praktisches Tun ohne Vorurteile erweisen müsse, ist bis heute Utopie geblieben. Lessing hat sie 1779 zum Gegenstand seiner berühmten Ringparabel gemacht, die er dem weisen Nathan in den Mund legte, als der nach einer Antwort suchte auf die Frage, welche der Religionen er für die wahre halte.
Der jüdische Bäcker Hans, der im Mittelpunkt des Dramas „Sechzehn Verletzte“ von Eliam Kraiem steht, das jetzt im Stuttgarter Alten Schauspielhaus in einer Inszenierung von Ulf Dietrich Premiere hatte, hat auch kluge Antworten parat: Als ihm der junge Palästinenser Mahmoud ein hasserfülltes „Du bist Jude!“ an den Kopf wirft, antwortet er lakonisch: „Ich bin Bäcker. Sonst nichts.“
Elementare Unterbrechung
„Sechzehn Verletzte“ spielt in den 1990er-Jahren in einer kleinen Bäckerei in Amsterdam, in der die Zeit stehengeblieben scheint (Ausstattung: Konrad Kulke). Hierher hat sich der 60-jährige Hans zurückgezogen. Seine einzigen Kontakte zur Außenwelt sind seine junge Gehilfin Nora und die Hure Sonja (in schickem Outfit: Barbara von Münchhausen), die immer wieder sonntags vorbeischaut. Sein Freizeitvertreib: Fußballgucken und Backgammon gegen sich selbst spielen. Doch eines Nachts wird ein junger Mann auf der Flucht vor Hooligans durch das Schaufenster seines Geschäfts katapultiert. Es ist der junge Palästinenser Mahmoud, der ihn bittet, die Polizei nicht zu verständigen. Hans versorgt den Verletzten und nimmt ihn als Gehilfen bei sich auf. Es entwickelt sich eine beidseitige Zuneigung. Mahmoud akzeptiert Hans' jüdische Herkunft, und Hans findet sich bei aller Abscheu gegen die Tat auch mit Mahmouds furchtbarer Wahrheit ab: Der ist in Amsterdam untergetaucht, weil er in Israel bei einem Bombenattentat mehrere Menschen getötet hat. Schuldgefühle hat Mahmoud keine, er sieht sich als Opfer israelischen Staatsterrors: Seine Familie wurde enteignet, seine Freunde sitzen im Gefängnis, sein Vater wurde von israelischen Soldaten erschossen.
Es scheint so, als fände die alte Toleranzidee der Aufklärung in dieser Freundschaft ihre Verwirklichung. Mahmoud verliebt sich zudem in Hans' Gehilfin Nora (erfrischend und ganz von dieser Welt: Birte Wentzek). Die beiden werden ein Paar, und bald wird Nora schwanger. Normalität, das Glück in der Familie, in der auch Hans seinen Platz finden soll, scheint greifbar nahe. Doch da erscheint Mahmouds Bruder Ashraf (Pano Karas), erinnert Mahmoud an seine kämpferischen Pflichten als Palästinenser, berichtet, ihre Mutter sei von Israelis zu Tode gefoltert worden. Da flammt der alte Hass wieder auf. Am Ende entscheidet sich Mahmoud gegen den Neuanfang.
Die Rolle des jüdischen Bäckers ist prominent und trefflich besetzt mit Ilja Richter. Er spielt den alten Mann als liebenswürdigen, gütigen, etwas verschrobenen, zuweilen aber auch sehr wütenden und verzweifelten Menschenfreund - immer mit feinem Humor und Sensibilität. Sehr glaubwürdig verkörpert Nadim Jarrar den jugendlichen Terroristen: Hin- und hergeworfen zwischen Macho-Gehabe, tiefer Verletzlichkeit, Verzweiflung, Zärtlichkeit, Hass und Liebe und natürlich Überforderung und Selbstüberschätzung. Das Stück lebt von der Gegenüberstellung dieser beiden so konträren Charaktere.
Ulf Dietrichs aufwühlende Inszenierung, in der lediglich die zu exaltierten Elektrosound-Zwischenmusiken von Sebastian Bartmann ein wenig stören, erlebt ihren Höhepunkt in der finalen Auseinandersetzung der beiden Männer über die Gründe des je eigenen Verhaltens. Nachdem Hans bemerkt hat, dass sein junger Freund an einer Bombe baut, tun beide etwas, was in der Realität wohl die Ausnahme bliebe: Sie reden miteinander. Hans, der Wortgewandte, der sich aus der Welt längst verabschiedet hat, schafft es zunächst, Mahmoud von der Sinnlosigkeit seines Tuns zu überzeugen. Mahmoud erfährt, dass Hans ein Überlebender des Holocausts ist, in Amsterdam unter falschem Namen lebt, um zu vergessen. Hans' Selbstverleugnung und Passivität - er bezeichnet sich selbst als „Gespenst in dieser Pfefferkuchenbäckerei“ - ist für den Palästinenser nicht nachvollziehbar. Keiner von beiden kann sich letztlich von seiner Vergangenheit befreien. Das Drama endet dementsprechend deprimierend: Da wird die kleine, weltferne Bäckerei von einer Detonation erschüttert. In der nahegelegenen Synagoge hat sich Mahmoud in die Luft gesprengt. Bilanz: 9 Tote, 16 Verletzte.
Besprechung für die Eßlinger Zeitung von heute. Premiere war am 17. März 2011.

Stuttgart - Die Idee, dass alle Religionen gleichwertig seien und jeder den Wert seiner Religion durch praktisches Tun ohne Vorurteile erweisen müsse, ist bis heute Utopie geblieben. Lessing hat sie 1779 zum Gegenstand seiner berühmten Ringparabel gemacht, die er dem weisen Nathan in den Mund legte, als der nach einer Antwort suchte auf die Frage, welche der Religionen er für die wahre halte.
Der jüdische Bäcker Hans, der im Mittelpunkt des Dramas „Sechzehn Verletzte“ von Eliam Kraiem steht, das jetzt im Stuttgarter Alten Schauspielhaus in einer Inszenierung von Ulf Dietrich Premiere hatte, hat auch kluge Antworten parat: Als ihm der junge Palästinenser Mahmoud ein hasserfülltes „Du bist Jude!“ an den Kopf wirft, antwortet er lakonisch: „Ich bin Bäcker. Sonst nichts.“
Elementare Unterbrechung
„Sechzehn Verletzte“ spielt in den 1990er-Jahren in einer kleinen Bäckerei in Amsterdam, in der die Zeit stehengeblieben scheint (Ausstattung: Konrad Kulke). Hierher hat sich der 60-jährige Hans zurückgezogen. Seine einzigen Kontakte zur Außenwelt sind seine junge Gehilfin Nora und die Hure Sonja (in schickem Outfit: Barbara von Münchhausen), die immer wieder sonntags vorbeischaut. Sein Freizeitvertreib: Fußballgucken und Backgammon gegen sich selbst spielen. Doch eines Nachts wird ein junger Mann auf der Flucht vor Hooligans durch das Schaufenster seines Geschäfts katapultiert. Es ist der junge Palästinenser Mahmoud, der ihn bittet, die Polizei nicht zu verständigen. Hans versorgt den Verletzten und nimmt ihn als Gehilfen bei sich auf. Es entwickelt sich eine beidseitige Zuneigung. Mahmoud akzeptiert Hans' jüdische Herkunft, und Hans findet sich bei aller Abscheu gegen die Tat auch mit Mahmouds furchtbarer Wahrheit ab: Der ist in Amsterdam untergetaucht, weil er in Israel bei einem Bombenattentat mehrere Menschen getötet hat. Schuldgefühle hat Mahmoud keine, er sieht sich als Opfer israelischen Staatsterrors: Seine Familie wurde enteignet, seine Freunde sitzen im Gefängnis, sein Vater wurde von israelischen Soldaten erschossen.
Es scheint so, als fände die alte Toleranzidee der Aufklärung in dieser Freundschaft ihre Verwirklichung. Mahmoud verliebt sich zudem in Hans' Gehilfin Nora (erfrischend und ganz von dieser Welt: Birte Wentzek). Die beiden werden ein Paar, und bald wird Nora schwanger. Normalität, das Glück in der Familie, in der auch Hans seinen Platz finden soll, scheint greifbar nahe. Doch da erscheint Mahmouds Bruder Ashraf (Pano Karas), erinnert Mahmoud an seine kämpferischen Pflichten als Palästinenser, berichtet, ihre Mutter sei von Israelis zu Tode gefoltert worden. Da flammt der alte Hass wieder auf. Am Ende entscheidet sich Mahmoud gegen den Neuanfang.
Die Rolle des jüdischen Bäckers ist prominent und trefflich besetzt mit Ilja Richter. Er spielt den alten Mann als liebenswürdigen, gütigen, etwas verschrobenen, zuweilen aber auch sehr wütenden und verzweifelten Menschenfreund - immer mit feinem Humor und Sensibilität. Sehr glaubwürdig verkörpert Nadim Jarrar den jugendlichen Terroristen: Hin- und hergeworfen zwischen Macho-Gehabe, tiefer Verletzlichkeit, Verzweiflung, Zärtlichkeit, Hass und Liebe und natürlich Überforderung und Selbstüberschätzung. Das Stück lebt von der Gegenüberstellung dieser beiden so konträren Charaktere.
Ulf Dietrichs aufwühlende Inszenierung, in der lediglich die zu exaltierten Elektrosound-Zwischenmusiken von Sebastian Bartmann ein wenig stören, erlebt ihren Höhepunkt in der finalen Auseinandersetzung der beiden Männer über die Gründe des je eigenen Verhaltens. Nachdem Hans bemerkt hat, dass sein junger Freund an einer Bombe baut, tun beide etwas, was in der Realität wohl die Ausnahme bliebe: Sie reden miteinander. Hans, der Wortgewandte, der sich aus der Welt längst verabschiedet hat, schafft es zunächst, Mahmoud von der Sinnlosigkeit seines Tuns zu überzeugen. Mahmoud erfährt, dass Hans ein Überlebender des Holocausts ist, in Amsterdam unter falschem Namen lebt, um zu vergessen. Hans' Selbstverleugnung und Passivität - er bezeichnet sich selbst als „Gespenst in dieser Pfefferkuchenbäckerei“ - ist für den Palästinenser nicht nachvollziehbar. Keiner von beiden kann sich letztlich von seiner Vergangenheit befreien. Das Drama endet dementsprechend deprimierend: Da wird die kleine, weltferne Bäckerei von einer Detonation erschüttert. In der nahegelegenen Synagoge hat sich Mahmoud in die Luft gesprengt. Bilanz: 9 Tote, 16 Verletzte.
Besprechung für die Eßlinger Zeitung von heute. Premiere war am 17. März 2011.
eduarda - 19. Mär, 12:18