Mittwoch, 18. Mai 2016

„Im IS steckt jede Menge Westen“

Auftakt zur Veranstaltungsreihe „Wie wir leben können: Terror, Texte, Wirklichkeiten“ mit Nicolas Hénin und Sabine Damir-Geilsdorf im Literaturhaus Stuttgart

Stuttgart - Großer Andrang im Literaturhaus Stuttgart. Es geht an diesem Abend um die Propaganda-Strategien des sogenannten Islamischen Staats, der mit Videos von Geisel-Enthauptungen weltweit Angst und Schrecken verbreitet, andererseits über die sozialen Netzwerke Bilder verbreitet, auf denen sich Dschihadisten als coole Kerle zeigen: mit jungen Kätzchen, die sich auf den Gewehrläufen räkeln. „Propaganda: Sprache, Text und Poesie“ war das Thema der Auftaktveranstaltung einer Reihe zu terroristischer und kriegerischer Gewalt. Zu Gast auf dem Podium: Nicolas Hénin, französischer Nahostjournalist, der im Juni 2013 für zehn Monate Geisel des IS und dann von Frankreich freigekauft wurde, und Sabine Damir-Geilsdorf, Kölner Professorin für Islamwissenschaft, die sich mit der der Bedeutung von Frauen in der IS-Propaganda-Maschinerie beschäftigt.

Moderator Jörg Armbruster, bis 2012 ARD-Nahost-Korrespondent, befragte Hénin nach seinen Erlebnissen im IS-Geisel-Lager in Syrien. Die Zeit habe ihn stark gemacht, sagt Hénin. Wie man aus solchem Horror Stärke gewinnen könne? Die Gräuel, die er erlebt habe, erklärt der Franzose, seien „verhältnismäßig nichts“ im Vergleich zu jenen der Syrer in den Nebenzellen, die vom Abend- bis zum Morgengebet gefoltert worden seien. Für ihn sei der Tagesablauf weniger von Angst als von Langeweile geprägt gewesen. „Man schläft, man schlägt die Zeit tot, man hat einfach nichts zu tun.“ Seine Bewacher kamen aus verschiedenen westlichen Ländern. Alle Typen seien dort vertreten, vom draufgängerischen Cowboy bis zum ganz Schüchternen.

Unterschätzte Frauen beim IS

Warum er in seinem aktuellen Buch „Der IS und die Fehler des Westens“ nichts über seine Geiselhaft berichtet habe, wird Nicolas Hénin gefragt. Zum einen wolle er nicht die Erwartungen des IS erfüllen, über den Schrecken zu berichten und damit die Propaganda fortzuführen, so Hénin. Außerdem wolle er keine Opferhaltung einnehmen. Mit Blick auf das Pariser Attentat im vergangenen November mit 130 Toten meinte der französische Journalist: Das sei furchtbar gewesen, doch wir sollten nicht besessen sein vom eigenen Leid. „Das finde ich kontraproduktiv. In Syrien sterben jeden Tag 130 Menschen“. Die Bevölkerung dort bettle um ein Minimum an Sicherheit, und selbst das verweigere man ihr.

In der Propaganda-Maschinerie des IS spielen Frauen eine besondere, eine wichtige Rolle. Sabine Damir-Geilsdorf untersuchte Blogs, Facebook-Seiten, Twitter-Accounts junger Dschihadistinnen. Sie hat deren Gedichte und verklärenden Erfahrungsberichte gesammelt und ausgewertet. Die meisten stammen von ausgereisten Europäerinnen. In den Blogs herrsche ein subkultereller Jargon, der gespickt sei mit arabischen Phrasen und Schlüsselworten. Was treibe Frauen in die Arme des IS? „Gehirnwäsche oder Sprung in der Schüssel?“, fragt Armbruster. Es sei die Auffassung, sich heldisch für Gott zu opfern, alles als Prüfung anzusehen, das Diesseits nur als unwichtige Zwischenstation auf dem Weg ins Jenseits zu verstehen, meint Damir-Geilsdorf.

Die Syrerin Ahlam al-Nasr ist so etwas wie eine IS-Hofpoetin. In einem Gedicht verklärt sie den Opfertod : „Nein! Sagt nicht: Wir brauchen keinen Dschihad (...). Der Dschihad ist unser Leben und unser Heil.“ Syrien diene Männern wie Frauen als Kulisse für ihre „Hidschra“, die Auswanderung nach dem Vorbild Mohammeds, der 622 von Mekka nach Medina zog, so Damir-Geilsdorf. Selbst bei Zwangsverheiratungen mit Dschihadisten hätten die Frauen das Gefühl, wirkmächtige Akteurinnen beim geschichtsträchtigen Aufbau eines Staates sein, wie er zur Zeit des Propheten Mohamed gewesen sei. Andere freilich trieben schlicht Abenteuerlust oder Heldenverehrung nach Syrien, romantische Phantasmen vom sexuell attraktiven, wilden Kerl. Auch gebe es das Phänomen der Popkultur: Dschihadismus würde als cool empfunden, diene aber auch oft der Rebellion gegen die schockierten Eltern.

Hénin berichtet von einem Gespräch mit dem späteren Brüsseler Attentäter Najim Laachraoui, der geäußert habe, Marine Le Pen habe völlig Recht mit ihrer Parole „Frankreich den Franzosen!“. „Die brauchen einander“, folgert Hénin, „der sogenannte IS und die sogenannte Islamophobie“. Daraus entstehe die Bereitschaft zu Attentaten.

Hénin vergleicht die Rolle der Frauen im IS mit den Tupperwaren-Vertriebstechniken, bei der eine Frau als Verkäuferin anfängt und dann neue Verkäuferinnen anwerbe. Die weiblichen Dschihadisten würden im Westen grenzenlos unterschätzt, da man Frauen prinzipiell in der Opferrolle des IS sehe. Wenn eine Dschihadistin in Deutschland einreise, werde sie so gut wie nicht gefilzt. Werde sie auffällig, drohten ihr lediglich ein paar Wochen Hausarrest, während Männer im gleichen Fall jahrelang hinter Gitter kämen.

Ausdruck einer Krise des Islam

Überhaupt lasse sich das Phänomen des IS-Terrorismus nicht auf ein paar Typen reduzieren, die Bomben legen, gibt Hénin zu bedenken. Er bestehe zu 95 Prozent aus Propaganda und höchstens zu fünf Prozent aus militärischer Gewalt. Das zeige sich schon bei den Videos mit Enthauptungen von Geiseln, die vor allem eines belegten: den sadistischen Erfindungsreichtum der Terroristen, die ihre Geiseln auch auf unspektakulärere Weise töten k önnten.

„Wieviel Westen steckt im IS?“, fragt Armbruster. „Jede Menge“, sagt Hénin, er sei ein Multikulti-Gebilde, ein Auffangbecken. Wer bei uns „zum Abfall der Gesellschaft“ geworden sei, könne dort mit Anerkennung rechnen. Im gegenwärtigen Dschihadismus sieht Hénin vor allem den Ausdruck einer Krise des Islam. Wer bei diesem asymmetrischen Krieg etwas gewinnen wolle, werde dies nicht auf dem Schlachtwelt erreichen. Nur der sei am Ende erfolgreich, dem es gelingt, die Bevölkerung des Gegners zu gewinnen.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 17. Mai 2016.

Sonntag, 15. Mai 2016

Auf Klangwellen surfen

Der Klarinettist Kari Kriikku bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen

Als der schlanke, finnische Klarinettenstar Kari Kriikku die Bühne des Ludwigsburger Forums betritt, baut er einen kleinen Hüpfer ein in seine weiten, geschmeidigen Schritte: Als freue er sich diebisch darauf, endlich die Energie zu entladen, die Magnus Lindbergs Klarinettenkonzert einfordert und die Kriikku wohl schon einige Zeit vor seinem Auftritt hat sammeln müssen. Was dann in den nächsten 40 Minuten folgt, schüttelt man ja nicht einfach so aus dem Ärmel. Das Konzert ist einsätzig, ohne Atempause geht es ab in die oberste Liga der Instrumentenbeherrschung, die an diesem Abend in ihrer Vollkommenheit und ihrem riesigen Ausdrucks- und Farbenspektrum geradezu erschüttert. Ist das wirklich bloß eine Klarinette, die der Finne da spielt?

Das Konzert schrieb Lindberg Kriikku 2002 gleichsam auf den Leib. Es ist ein glänzend komponiertes Virtuosenstück, in dem das Orchester mal zum Klangmantel mutiert, mal zu plastischer Klanglandschaft. Es greift Impulse des Solisten auf, vergrößert und spiegelt sie, bricht sie zuweilen auf in schillernde Flächen. Die komplexe, polystilistische Partitur, die Neoromantik mit den geräuschhaft-experimentellen Errungenschaften der Neuen Musik verbindet, verwandelte das Festivalorchester in der Leitung des smarten Pietari Inkinen in brodelnde Eruptionen, Schatten und Licht, schillernde Farbmeere. Eine perfekte Klangkulisse für den heldischen Solisten: Das schön melancholische Klarinettensolo des Beginns mündet schon bald in euphorische Hitze und albverträumte Poesie. Kriikkus Klarinette scheint wie eine Surferin auf den Klangwellen des Orchesters zu gleiten, in Glissando-Sturz- und Raketenflügen. In zerklüfteten Schluchten lässt Kriikku Oberton-Geschrei hallen, lässt jäh angerissene Töne rasend schnell von der Hölle in den Himmel hüpfen. Setzt Bluesmelodien ins Vakuum, das das Orchester sorgfältig herausgearbeitet hat. Und auch das mehrstimmige Spiel wirkt beim Finnen so, als wäre es das Allerleichteste dieser Welt. Und was ist das bloß für ein merkwürdiger Vogel, den er da in der Solokadenz imitiert?

So was hört man nicht alle Tage, und vor dem Spektakulären musste das weitere Programm erblassen: die durchaus mitreißend gespielten Tondichtungen „Don Juan“ und „Till Eulenspiegel“ von Richard Strauss. Wobei letztere nicht schlecht zur Persönlichkeit Kriikkus passte, der in der Zugabe, „Dance of Joy“ von Roberto Pansera, ins clowneske Fach wechselte.

Rezension für die Stuttgarter Zeitung/Stuttgarter Nachrichten vom 14. Mai 2016.

Donnerstag, 5. Mai 2016

Ohne Fremde keine Utopie

„Das glaubst du ja wohl selber nicht!“: Der künstlerische Leiter des Nordlabors 2 über zehn musiktheatrale Abende am Schauspiel Stuttgart

Schorsch Kamerun

Stuttgart - Mit dem mehrwöchigen Theaterprojekt „Nordlabor“ versucht das Staatsschauspiel Stuttgart von diesem Freitag an bis zum 4. Juni zum zweiten Mal, neue Publikumsschichten zu gewinnen und das „Nord“, seinen kleinsten Spielort, zumindest für ein paar Wochen zu einem „urbaneren Ort“ mit experimentellem Theater zu machen. Für dieses Nordlabor 2 ist künstlerisch der Theatermacher, Autor und Musiker Schorsch Kamerun verantwortlich. Verena Großkreutz sprach mit dem Hamburger, der seine Karriere im Jahr 1984 als Frontmann der Punkband Die Goldenen Zitronen begann, über das Projekt, über Eskapismus, Eventkultur, fließende Identitäten und den gesellschaftlichen Wert des Fremden.

Herr Kamerun, das Motto vom Nordlabor 2 lautet „Das glaubst du ja wohl selber nicht!“. Was steckt dahinter?

Kamerun: Dass man etwas entdeckt, von dem man gar nicht so richtig wusste, dass es das gibt. Unser Grundthema lautet Eskapismus. Die Menschen flüchten sich heute gerne zeitweise aus der Realität, die zu komplex geworden ist. Sie suchen nach dem Fremden, das sie ansonsten nicht mehr finden.

Was erwartet das Publikum?

Kamerun: Konzerte, die wir aus Texten heraus entwickeln, sprechen, singen, tanzen. Jeden Tag andere. Auch ein Chor macht mit. Die Bühne ist flexibel gestaltet und der Raum frei begehbar. Und eine Bar ist offen. Das halbe Schauspielensemble ist im Einsatz. Mit im Boot ist auch die Band Metabolismus, mit riesigem Equipment, mit Geräten, die sich kaum kontrollieren lassen, wie einen Synthie mit Fotozellen, der Bewegungen im Raum in Musik umwandelt.

Sie widmen sich in den verschiedenen Premieren jeweils einem Beat-Literaten der 60er- und 70er-Jahre?

Kamerun: Ja, die Idee zu dem Projekt entstand aus der Kooperation mit dem Marbacher Literaturarchiv. Wir dürfen dort in den Archiven stöbern, schauen uns Texte an und prüfen, ob wir aus ihnen neue machen können und Musik. In Marbach liegt der Nachlass von Carl Weissner, der fast die gesamte amerikanische Beat-Literatur ins Deutsche übersetzt hat, der mit den Autoren befreundet war und eine ganz zentrale Figur in dieser Szene war. Da liegen zum Beispiel Weihnachtskarten von Charles Bukowski an ihn, Briefe von William S. Burroughs. Vor allem mit deutschen Beat-Poeten wie Hubert Fichte und Rolf Dieter Brinkmann beschäftigen wir uns, spinnen das weiter, schreiben eigenes.

Warum gerade die Beat-Poeten?

Kamerun: Es geht uns um Fragen der Gegenkultur. Welche Art von Kultur es schaffen kann, eine Identität zu gestalten, Aufmerksamkeit zu erreichen, sich einzumischen, wenn man mit Dingen nicht einverstanden ist. Das haben die Beat-Poeten ja damals sehr deutlich gemacht, als Bewegung, als Lebensgefühl und -entwurf. So was gibt es so heute nicht mehr.

Warum nicht?

Kamerun: Früher waren die Identitäten eindeutig, auch die Feindbilder. Alt-Nazis, Franz Josef Strauß usw. Dagegen konnte man sein. Heute hat man tausendmillionen Identitäten. Man kann Veganer, aber gleichzeitig auch Hardcore-Fan sein und eine Bank leiten. Es gibt keine klaren Positionen mehr. Und die Welt ist zusammengerückt und ängstlich geworden. Ängste sind heute das höchste Handelsgut, wie die Populisten zeigen. Und dann hat’s der Kapitalismus ja auch verstanden, die Themen für sich zu vereinnahmen: Sie sagen, das Apple-Telefon sei Freiheit, oder diese Auto, das du fährst, sei eine Revolution. Es gibt heute keine Bewegungen mehr, die Andersartigkeit schaffen, die uns echte Alternativen bereitstellen. Das zeigt ja auch der baden-württembergische grüne Ministerpräsident, der jetzt mit der CDU zusammenarbeitet. Die Grünen waren mal eine Alternative, jetzt nicht mehr. Heute nennt sich die AfD Alternative für Deutschland. Aber sie schürt nur die Ängste, verengt den Fokus. Sie behauptet: Wir nehmen euch die Ängste, wir bieten Lösungen. Aber sie vereinfachen die überkomplexe Welt bloß, setzen ihr falsche Eindeutigkeit entgegen, sagen, was die Leute hören wollen: „Grenze dicht machen“, oder „Wir kümmern uns um die Familie“.

Welche Möglichkeiten zum Ausstieg und zur Gegenkultur hatte man in Ihrer Jugend?

Kamerun: Es gab noch Urbanitäten, die Lücken hatten, nicht durchleuchtet waren. Ich bin in einem kleinen, engen Kaff an der Ostsee aufgewachsen, Timmendorfer Strand. Wir Punker sind nach Hamburg gegangen, nach Sankt Pauli. Der Bürger wollte da nicht leben. Rotlichtmilieu, Arbeitergegend, Hafen, dreckig. Wir fanden das aufregend, exotisch, und wir konnten uns dort mit vier Leuten für 150 Mark in einer Wohnung leben. Heute undenkbar. Wir konnten unser Leben noch selbst organisieren, eigene Strukturen in den Städten basteln, Plattenläden, Magazine, eigene Mode.

Warum setzen Sie den Fokus auf die deutsche Beat-Literatur?

Kamerun: Bukowski zum Beispiel funktioniert nicht mehr. Was an seinen Texten so unerhört war, Fickgeschichten in kaputten Hotelzimmern, ist längst angekommen im Privatfernsehen. Oder im Museum. Anders als etwa Hubert Fichte, der weiterging, die Ethnologie entdeckte, auf Reise ging, um das archaische Verhalten des Menschen zu erforschen. Das sogenannte Fremde entdecken wir ja nicht mehr in unseren weltweit gleichaussehenden Städten, sondern vielleicht in merkwürdigen Ritualen irgendwo auf der Welt.

Warum brauchen wir das „Fremde“?

Kamerun: Zum Weiterdenken, zur Identitätsbildung. Ohne Fremde keine Utopie, kein Geheimnis, keine Fantasie. Jeder will das. Aber man will heute keine Risiken mehr eingehen, weil alles so gefährlich ist. Wir leben in einer Gesellschaft der Eventkultur, des Spektakels, wo wir kurz mal ins möglichst Abgefahrene hineinschauen können.

Aber die „Fremde“ kommt doch jetzt hierher? Warum wird sie von vielen so abgelehnt?

Kamerun: Weil sie nicht kontrolliert scheint. Weil sie Unüberschaubarkeiten im Handgepäck hat, mit denen wir uns schlecht auskennen, den Islam zum Beispiel.

Interview für die Eßlinger Zeitung vom 4. Mai 2016.

Dienstag, 28. Juli 2015

Erotik im Konzertsaal?

Die in der Emanzipation des Bürgertums wurzelnden Rituale der klassischen Musik sind unsexy und bis heute konserviert - Wer das ändern will, wird schnell peinlich

Von Verena Großkreutz

Uniformes Streichen in uniformer Kleidung: Ein klassisches Konzert - hier die Wiener Philharmoniker mit Riccardo Muti und der Pianistin Mitsuko Uchida  - verbindet Arbeitsethos und Kunstreligion - aber keinen Eros.

Gegen das unverhohlen Sexuelle, Körperliche sträubt sich die instrumentale Kunstmusik - zumindest gemäß ihrer klassischen Ästhetik als absolute Musik, die nur sich selbst bedeuten will. Spannungssteigerungen, energetische Ballungen und ihre Entladung können alles Mögliche bedeuten. Aber eine Harmonie- oder Formenlehre des sexuellen Aktes in der Musik wurde nie geschrieben - auch nicht für jene programmmusikalischen Werke wie Richard Strauss‘ „Don Juan“ oder Arnold Schönbergs „Verklärte Nacht“, die laut literarischer Vorlage Erotisches in Klänge zu bannen trachten. Gerade Schönberg sprach ausschließlich von den „Bedürfnissen“ und „Sehnsüchten“ der Töne und vom „Triebleben der Harmonien“ - nicht der Menschen. Die Assoziation von Erotik, die beim Zuhörer möglicherweise ausgelöst wird, bleibt vonseiten des klingenden Materials also strikt binnenmusikalisch definiert.

Dem entspricht - etwa im Vergleich mit der Pop-Musik - eine äußerst zurückhaltende Körpersprache im Konzertsaal; beim mehr oder weniger reglos in den Reihen sitzenden Publikum sowieso, aber auch bei den Interpreten auf dem Podium. Hierarchisch gestaffelt wird zwar Dirigenten, Solisten und allenfalls noch Konzertmeistern gestische, pantomimische oder fast schon choreographische Beweglichkeit zugestanden, die als Ausweis von Musikalität akzeptiert oder sogar bewusst inszeniert wird. Doch der Rest vom Orchester hat unauffällig uniform zu musizieren.

Triumph über die Aristokratie

Und dem entspricht ein uniformierender Dresscode: Männliche Musiker stecken in aller Regel in anonymisierenden Fräcken - Relikten aus den Anfängen der bürgerlichen Konzertsaalkultur im frühen 19. Jahrhundert, als der Frack, eine typisch bürgerliche Bekleidung, noch antifeudale Zeichen setzen sollte. Der Adel trug damals bei repräsentativen Anlässen grundsätzlich prachtvolle, bunte Galauniformen. Der Frack stand für bürgerliche Schlichtheit und zugleich für den Stolz der ökonomisch Überlegenen. Ja, er wurde zum Symbol des Triumphs über die Aristokratie und damit einer bürgerlichen Umwertung der Kunst, die zuvor Sache des Hofes, des Adels, der Kirche war.

Die Antiquiertheit des Konzertfracks und sein Ursprung im reinen Männerorchester zeigt sich deutlich in der heutigen Aufweichung der Kleiderordnung durch die Musikerinnen. In Zeiten, da sich endlich die Gleichberechtigung der Geschlechter auch im Orchester anbahnt, zeigt auch das Outfit nicht mehr die gleichmachende Uniformität wie noch vor 30 Jahren. Frauen werden nicht genötigt, Fräcke zu tragen - was einerseits begrüßenswert, andererseits inkonsequent ist. Ob Rock und Bluse, Kleid oder Hosenanzug bleibt meist ihnen überlassen. Warum die freie Wahl der Kleidung nicht auch Männern zugestehen? Freudloses Schwarz muss es freilich auch für die Damen weiterhin sein.

Nur Solistinnen dürfen Farbe zeigen. Attraktiv sollten sie ohnehin sein. Gerne auch ein Paradiesvogel. Was zunehmend auch für männliche Solisten gilt. In Maßen exzentrisch darf es ebenfalls sein - und inzwischen auch ein bisschen erotisch. Letzteres ist eine Folge aus dem Spannungsverhältnis zwischen hehrem Kulturanspruch und Vermarktung. Einerseits hat das Erotik-Tabu in der sogenannten ernsten Musik ehernen Bestand. Schließlich geht es um „höhere“ Werte - in klarer Distanzierung zum Pop, der Sexualität ungeniert und pausenlos verbalisiert und rhythmisiert, durch Kleidung, Bewegung und Posen in der ganzen Inszenierung der Bühnenshows permanent ausstellt. Andererseits braucht heutzutage auch die ernsteste Musik PR-strategische Verlockungen, und da setzen die Marketing-Maschinerien der Agenturen durchaus auf wohltemperierten Sex-Appeal. Daher gleichen auch die Promo­tion-Fotos von Klassikstars immer häufiger Pin-Ups.

Doch Sex allein macht‘s in klassischen Klanggefilden eben auch nicht. Im Konzertsaal haben Herren wie Damen nach wie vor höchst diszipliniertes Arbeitsethos an den Tag zu legen. So fordern es die Notentexte. Leistung ist gefragt - aus dem bürgerlichen Selbstverständnis des 19. Jahrhunderts heraus. Die Körperlichkeit der Musizierenden tritt hinter dem wohlgeformten, präzisen Klangereignis zurück, ja, wird von ihm aufgesogen. Der musizierende Leib mutiert zum transzendierenden Körper. Das Bürgertum machte sich im 19. Jahrhundert die Künstler zu neuen Göttern, die Kunst zur Religion. Sie galt - obwohl vom Menschen geschaffen - als neue Offenbarung. So durchmischten sich Formen des Kunstgenusses mit jenen religiöser Verehrung. Was Erotik oder überhaupt alle „niedere“, körperliche Sinnlichkeit ausschloss. Konzerthallen wurden zu Kunsttempeln, in denen sich die versammelte Gemeinde der andächtigen Versenkung in die großen Werke hingab.

In scheinbarer, aber typisch bürgerlicher Paradoxie entspricht diesem quasi-religiösen Ergriffenheitspathos der nüchtern arbeitende Musikerkörper, der sich im Klang gleichsam ins Körperlose aufzuheben hat. Die in der Romantik und im Protestantismus wurzelnde Kunstreligion bindet sich damit - und in der Musik vielleicht am deutlichsten - an das protestantische Arbeitsethos und seine „innerweltliche Askese“ (Max Weber) als Zeichen überirdischer, ja göttlicher Berufung.

Höllisch Schweres himmlisch leicht

Das gilt ungemindert auch für heutige Klassik-Größen wie Sol Gabetta, Patricia Kopatchinskaja oder Hilary Hahn, Lang Lang, Igor Levit oder Daniel Müller-Schott: Was zählt, ist die Leistung der am höllisch schwer Spielbaren sich Abkämpfenden - und je himmlisch leichter es klingt, desto größer die Verehrung. Aber: Mit dem Publikum flirten, die Hüften schwingen, Pop-Posen imitieren? Das macht kein Hohepriester der Kunst. Lächeln? Nur als Dank für den Applaus! Wer doch mit äußeren Reizen - nicht nur sexuellen - kokettiert, erkauft den Erfolg bei dem einen Teil des Publikums mit dem Naserümpfen des anderen. So erging es etwa Roger Norrington, dem früheren Chefdirigenten des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart: gewiss ein hoch seriöser Musiker, aber mit eine Faible für humoristische Einlagen auf dem Podium. Und die wurden nur von einem Teil des Auditoriums goutiert. Andere, die ihre Coolness oder ihre Show-Talente zelebrieren, driften - wie etwa David Garrett - in Crossover ab, wo sich alsbald die hart erarbeitete Spieltechnik auflöst.

Auf erotische Selbstinszenierung ohne Preisgabe klassischen Klanganspruchs zielen hingegen Interpreten wie die georgische Pianistin Khatia Buniatishvili (27). Etwa kürzlich im Stuttgarter Beethovensaal mit dem Orchestre de Paris - in der Leitung des bürgerlichen Proto-Künstlertyps: Paavo Järvi, der Musik dienend, ohne Allüren, asketisch. In Griegs Klavierkonzert räkelte sich die schöne Brünette im eng anliegenden, silberblitzenden Paillettenkleid in ihren Spielpausen ziemlich lasziv dem dirigierenden Järvi entgegen oder atmete die Orchesterklänge zurückgelehnt mit geschlossenen Augen und bebender Brust ein, als erwarte sie einen Geliebten. Die posen­haft veräußerlichte Erotisierung des Spiels überträgt sich allerdings dann doch auf die Qualität des Tons: Statt auf musikalische Sinnhaftigkeit und Sinnlichkeit scheint er auf Attribute wie „wild und rassig“, „heißblütig und glutvoll“ erpicht; kurz: auf Kitsch und Klischee. Die Selbstdarstellung der Solistin legt sich obendrein über das Hören, sie reduziert die Musik zum Soundtrack für einen virtuosen Vamp, eine dionysische Diva. So wie der Film „Zehn. Die Traumfrau“ von 1979 Ravels „Boléro“ plump erotisierte, indem er ihn einem Geschlechtsakt unterlegte.

Analogien zwischen musikalischer und sexueller Lusterzeugung gelten freilich als neurophysiologisch untermauert, da offenbar alle Lustempfindungen sich derselben Grundmechanismen des Nervensystems bedienen. Die bürgerliche Konzertkultur machte sich das zunutze, aber unter den Vorzeichen der Triebsublimation. Was auch immer in der absoluten klassisch-romantischen Musik tiefenpsychologisch als erotischer Reiz ausgemacht werden kann: Es wird nie explizit, allenfalls - siehe Programmmusik - an der Krücke einer literarischen Vorlage, und es wird in jedem Fall überkompensiert durch die puritanischen, ja spießigen Konzertsaal-Rituale.

Voyeurismus und Läuterung


Die ästhetische Sublimation von Sexualität, Liebe und Eros zu sogenannter tiefer Empfindung und hoher, also körperloser Leidenschaft mündete allenfalls im Musiktheater, namentlich jenem Wagners, in eine eindeutigere erotische Sehnsucht, die jedoch mit Todessehnsucht einherging und sich in ihr wenn nicht zu bestrafen, so doch eben auch wieder zu sublimieren hatte: beispielsweise im Eros-und-Thanatos-Mythos von „Tristan und Isolde“. Das bürgerliche Publikum erkaufte sich mit der Eintrittskarte Voyeurismus und Läuterung zugleich: Teilhabe an den wogenden Ekstasen, aber um den Preis des Liebestodes - auf dass ja keine Begehrlichkeiten aufs wirkliche bürgerliche Leben abfärben.

Wer darüberhinaus etwa Debussys körperhafte und illuminierte Klänge erotisch findet, Bruckners Erlösungssinfonien als unendlich gedehnte Liebesakte deutet oder in Beethovens Sinfonien Orgasmen zu erahnen meint, die durch die Nacht zum Licht erkämpft werden, der tut dies auf eigene assoziative Rechnung.

An dieser Grundkonstellation einer rein werkimmanenten Sinnlichkeit und einer steril-ritualisierten Aufführungspraxis hat sich bis heute nichts geändert. Auch weil die klassische Konzertform kaum weiterentwickelt wurde, weil die Wiederholung des Bekannten den Veranstaltern sichere Einnahmen zu garantieren scheint, weil Experimente - etwa Konzerte an ungewohnten Orten - in ihrer Wirkung äußerlich oder - siehe Neue Musik - in ihrer Reichweite begrenzt bleiben. Da mögen Klassik-Rebellen noch so neidisch auf die Kollegen von der Pop-Fraktion blicken, aber das Dilemma ist bis auf weiteres unlösbar: Der Konzertsaal als Museum des 19. Jahrhunderts bleibt unsexy, und wer das Tabu bricht, wird peinlich.

Essay für die Eßlinger Zeitung vom 11. April 2015.

Montag, 22. Juni 2015

Bitte alle die Identitäten durchwechseln!

Christopher Rüping inszeniert am Stuttgarter Staatsschauspiel Ibsens „Peer Gynt“


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In Matsch und Textgewirr: Caroline Junghanns und Edgar Selge, letzterer als Peer Gynt. (Foto: Conny Mirbach)

Stuttgart - Igittigitt, dafür müsste die Schauspielerin wirklich eine Ekelzulage kriegen: Als Troll hat sie einen blutig-gedärmigen Fleischklumpen geboren, den sie zunächst schlafliedsummend im Arm wiegt. Dann beginnt sie, ihn aufzufressen. Da kommt einem schon beim bloßen Zugucken der Brechreiz. Die Szene, in der Peer Gynt im Troll-Land landet, ist trotzdem die beste an diesem Abend im Stuttgarter Schauspielhaus, weil sie zumindest etwas von der dunklen Mystik abstrahlt, die Ibsens „Dramatisches Gedicht“ umflort. Auch wenn Peer Gynt, den eigentlich Edgar Selge spielt, in diesem Moment gar nicht anwesend ist. Er weilt hinter der Bühne, um sich dort nicht, wie im Ibsen-Original, mit drei liebesgeilen Sennerinnen, sondern gleich mit 24 Zuschauerinnen zu vergnügen. Selge hat sie zuvor charmant aufdringlich aus dem Publikum herausgelesen. Die Souffleuse hat er gleich auch noch mitgenommen.

Conchita-Wurstisierung

Wobei er freilich auf Liebesspiele verzichtet. Die Auserwählten werden stattdessen auf einem Häppchen-Sekt-Empfang, der per Videoleinwand übertragen wird, mit 24 Männern verheiratet, die alle einen Brautschleier tragen. Tja, längst hat die Conchita-Wurstisierung unserer Individualitätsgesellschaft auch das Theater erreicht.

Während Selge hinten feiert, wird Peer Gynt vorne abwechselnd von den fünf Darstellerinnen gemimt, die gerade als Trolle zu Edvard Griegs „In der Halle des Bergkönigs“ herumtollen. Sie haben Gynt zuvor mit grünlichem Matsch und grauem Wollhaar zu einem der ihren gemacht und krönen ihn jetzt mit einer Pfauenfederkrone. Aber wer jetzt gerade Gynt spielt - Julischka Eichel, Svenja Liesau, Nathalie Thiede, Birgit Unterweger oder Caroline Junghanns - wird zunehmend undurchsichtiger. Weil alles so eklig ist im Troll-Land und einer der Gynts fühlt, dass der Fleischklumpen-Nachwuchs ihm noch Ärger bringen könnte, kann man verstehen, dass er so schnell wie möglich wieder weg will - in welcher Person auch immer.

Christopher Rüping hat den Abend inszeniert, und wie schon in seiner Adaption des Dogma-Films „Das Fest“ gibt es keine festen Rollenzuweisungen. Nur Selge ist immer Gynt (wenn auch Gynt nicht immer Selge). Das Frauen-Quintett, das ihn den Abend lang umzirzt, veralbert oder kommentiert, wirft sich virtuos die Textbälle zu, tauscht ständig die Rollen: spielt mal Gynt-Mutter Aase, mal Gynts Ewigkeits-Liebe Solveig oder sein Entführungsopfer Ingrid - des öfteren aber auch sich selbst. Im Identitätenwirrwarr scheinen immer wieder die Ichs der Darsteller auf. Denn Rüping interessierte offenkundig nur das: der modern anmutende Identitätswechsel der Titelfigur. Weshalb er Ibsens berühmtes Gynt-Bild von der Zwiebel, die nur aus Häuten besteht und kein Inneres, keine Substanz besitzt, im Sinne der populären Richard David Precht’schen Frage „Wer bin ich und wenn ja, wie viele“ deutet.

Sehr ernst nimmt Rüping das Stück, seine Allegorien und seine Symbolik, ansonsten nicht. Stark gekürzt ist es, mit viel Heutigem vermischt, Improvisationen inklusive. Die Personage spielt durchweg aufgedreht, übertreibt. Allen voran der aufgeregte, ekstatische, impulsive Selge. Vieles scheint beliebig, das Textdurcheinander führt gelegentlich zu Längen. Die nach hinten weit geöffnete Bühne (Bühnenbild: Jonathan Mertz) ist bis auf ein paar Blecheimer und Scheinwerfer leer, Regieanweisungen werden mitgesprochen.

Ibsens wortgewaltige Parforce-Jagd durch das scheiternde Leben eines ziellosen, sinnsuchenden Egoisten, der einst als „nordischer Faust“ identifiziert wurde, gerät zu oft zur Stand-up-Comedy: „Die sind alle wegen mir da“, sagt Selge-Gynt im Hinblick aufs Publikum. „Ich geb’ mal ‘nen Tipp: Kuss!“, rät eine, als Gynt paralysiert vor Solveig steht.

Der vierte Akt, in dem Gynt zum zwielichtigen Geschäftetreiber, Wüstenwanderer, Beduinenhäuptling, Propheten und dann auch noch Irrenhaus-Insassen mutiert, ist gleich ganz gestrichen. Stattdessen werden die Türen zur Pause geöffnet, während das Frauen-Quintett auf der Bühne allerlei alberne Geschichten erzählt: von Gynt als Pudelfriseur in einem Zirkus, als Guinness-Buch-Rekordbrecher, als Tankstellenbesitzer, in Therapie, von einer Corinna vergewaltigt und so weiter. Die Geschichten seien austauschbar, denkt Rüping möglicherweise und fokussiert das Geschehen auf Gynt als den Angeber, den Phantasten und Tagträumer, der sich immer wieder neu erfindet.

Die Zuschauer dürfen abstimmen

Dein Leben: Das sind die Geschichten, die du erzählst, wird den Zuschauern vorgespiegelt. Ohne diese Geschichten ist dein Leben ein schwarzes Loch, wie die leere Bühne zu Beginn, in der sich erst die Zwischenvorhänge öffnen müssen wie die Häute der besagten Zwiebel, bevor Peer Gynt weit hinten sichtbar wird. „Ich war Kreon und Odysseus, Faust und Mephisto, Hitler und Stauffenberg, Wallenstein und Galileo, Menschenhändler und Terrorist, Pinguin und Marilyn Monroe, nie aber Romeo!“, extemporiert Selge-Gynt am Ende. Und das Publikum darf abstimmen, ob Gynt in Solveigs Schoß zurückkehren mag (wie im Original) oder sich ins Nichts auflösen muss. Die Zuschauer-Befragung gerät zur Pattsituation. Das Ensemble entscheidet sich fürs Nichts.

Das Publikum ist am Ende (fast) restlos begeistert - dank eines elektrisierend spielenden Ensembles und einer Menge unterhaltender Szenen. Aber, oh armes Ibsen-Werk! Etwas immerhin gibt dem Abend ein Stück Ibsen‘sche Seele zurück: Der Männerchor, der hinter oder auf der Bühne in einer merkwürdigen nordischen Fantasiesprache romantische Weisen oder geheimnisvolle Mönchsgesänge oder eben ein bisschen Edvard Grieg sonor und dunkel vibrieren lässt. Wunderbar mystisch, diese Musik von Christoph Hart!

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 22. Juni 2015.

Samstag, 13. Juni 2015

Der Schubert Franzl tanzt die Polka

Vom rustikalen Untergrund der noblen Klassik: Die Osttiroler Musicbanda Franui mischt bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen Stile und Stimmungen

Ludwigsburg - Franui war wieder da. Zum vierten Mal beglückte die Osttiroler Musicbanda die Ludwigsburger Schlossfestspiele. Diesmal mit ihrem neuesten Programm „Tanz Boden Stücke“: eigenen anarchischen Bearbeitungen von Schubert-Tänzen und auch ein paar von Béla Bartók. Die Karlskaserne war voll, und das Publikum nahm sich die einleitenden Worte von Intendant Thomas Wördehoff zu Herzen, der da sagte: „Wenn Sie das Gefühl haben, plötzlich lachen zu müssen: Nicht nervös werden, tun Sie’s einfach!“

Franui spielt eine wilde Stilmischung und nimmt die Tatsache sehr ernst, dass alle abendländische Musik - und damit auch Brahms, Schubert und Mahler - in der Volksmusik wurzelt. Das zeigte dann sehr konkret das „Menuett mit Dirndl“, in dem Mozarts berühmtes „Don-Giovanni“-Menuett von drei alpenländischen Volksliedern „übermalt“ wird. Man hat meist das Gefühl, man tanze auf einer Bauernhochzeit, lausche in der Kirche einem Chor, der gerade Volkslieder probt, folge auf dem Friedhof einer Trauermarschkapelle - alles natürlich gleichzeitig!

Die Arrangements von Kontrabassist Markus Kraler und Bandleader Andreas Schett sind subtil. In Trauermärsche schleicht sich Humoristisches ein, Melancholie paart sich mit Witz, Lachen mit Weinen, das Schwere wird leicht: Plötzlich erklingen in einem wunderschönen Trauermarsch Männerstimmen im Chor: „Eine Viertelstund’ vor seinem Tod - ja da war er noch am Leben!“ Die meisten Mitglieder der zehnköpfigen Band, die seit 1993 in derselben Besetzung spielt, haben sich in ihrer Jugend in einer Friedhofskapelle im Osttiroler Dorf Innervillgraten kennengelernt. Der Gruft-Sound aus weich harmonierenden Blasinstrumenten ist daher unverkennbarer Teil im genialen Stilmix. Aber der typische Franui-Klang ergibt sich erst im Zusammenspiel mit Geige, Kontrabass, Hackbrett, Harfe und Akkordeon.

Sanft, jaulend, rasend

Hart geschnitten wechseln sich ruhige Walzer und Märsche, aufjaulende Lärmophonien und rasend schnelle Tänze ab. Dann wird es plötzlich ganz sanft, wie im „Schneekugelwalzer“ nach Schubert, in der zunächst nur Hackbrett, Geige, Harfe und Bass die Töne tupfen. „Wenn man Trauermärsche viermal schneller spielt, ist es eine Polka“, sagt Schett. Franz Schuberts berühmtes As-Dur-Impromptu geht auf in einer „Boarischen“ Polka, gleich mehrere Komponisten - auch Bartók und Ligeti - liefern die Motive für den „Vielfach Zwiefachen“, in dem Franui der komplexen Rhythmik alpiner Volksmusik auf den Grund geht. Ob „Tanzfolge der entfernten Verwandtschaft aus Wien“ oder „Alptraum eines österreichischen Pianisten“ - die originalen Melodien der Schubert-Tänze werden meist aufgeteilt auf mehrere Blasinstrumente, drehen von ruhigem Maß auf bis zur furiosen Raserei, um sich dann wieder mit Trauerflor zu umgeben. Schubert und der Tod - ein weites Feld: Sein „Totengräberlied“ spiegelt sich bei Franui folgerichtig in seinen „Deutschen Tänzen“ wider. Oft wird das eine vom anderen überschrieben oder durch wild bewegte, oft äußerst schräge Mehrstimmigkeit überlagert, in der sich dann irgendwo das Original versteckt.

Daneben hat Andreas Schett eine ganz eigene Moderation kultiviert: In seinem unnachahmlich zerdehnten Osttiroler Dialekt - auf zwei Monitoren deutsch übertitelt - erzählt er skurrile Geschichtchen: etwa von Wirtshausschlägereien und -demolierungen, deretwegen halb Innervillgraten in den 60er-Jahren fliehen musste, um auf einem Ozeandampfer in spanisch sprechenden Gefilden zu landen, um dann nach Verjährung der Sachbeschädigungsvorwürfe in die Heimat zurückzukehren - weswegen so manche Innervillgratener Familie heute gleichzeitig einen Emi- wie Immigrationshintergrund habe. Wolfgang Mitterer unterlegt das vom präparierten Flügel aus melodramatisch mit pointiert schrägen Klängen und Soundteppichen aus allerlei Animalischem wie Ziegenmeckern, Schweinegrunzen und Pferdgalopp. Sehr, sehr lustig!

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 13. Juni 2015.

Dienstag, 2. Juni 2015

Nachgeschöpft

Stuttgarter Philharmoniker mit Mahlers komplettierter Zehnter

Stuttgart - Man stelle sich vor, Thomas Mann hätte ein Romanfragment hinterlassen, von dem das erste Kapitel fertig und der Rest nur im groben Handlungsverlauf angelegt ist. Wäre jemand auf die Idee gekommen, das Buch fertigzuschreiben? Wohl nicht.

Im Fall von Gustav Mahlers Zehnter Sinfonie, bei der ein analoger Fall vorliegt, gab es von jeher keine Skrupel. Viele Versuche wollten das Werk - geschrieben mit der Todesangst eines Herzkranken und dem Liebesleid um die untreue Gattin - komplettieren. Den jüngsten stellten die Stuttgarter Philharmoniker im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle vor. Am Dirigierpult stand der Nach-Schöpfer selbst: der 28-jährige Yoel Gamzou, ein Mahler-Besessener, der schon im Alter von sieben Jahren durch eine Mahler-LP „erleuchtet“ wurde und dann beschloss, sein Leben dem Meister und dessen gut 20 Werken zu widmen. Schon als 19-Jähriger gründete er zu diesem Zweck das International Mahler Orchestra, mit dem er 2010 auch seine Fassung der Zehnten in Berlin uraufführte.

Gamzous Mahler-Begeisterung zeigt sich an diesem Abend auch körperlich: Er bäumt sich auf und krümmt sich, hüpft auf den Fußspitzen, schlägt den Taktstock mal zackig, mal hin und her schwingend, aber man hat manchmal den Eindruck, dass ihn das, was die Philharmoniker spielen, gar nicht mehr so sehr interessiert. So verrät schon das kleckernde Zusammenspiel der Bratschen beim einstimmigen, depressiven Adagio-Einstieg fehlende Feinarbeit. Dennoch gelingt gerade in diesem Kopfsatz - dem einzigen Teil der Sinfonie, den Mahler selbst vollendet hat - den Philharmonikern die plastische Umsetzung der Partitur in ihrer ganzen nervös vibrierenden Sehnsucht, ihrem dissonanten Aufschreien und höhnischen Lachen.

Was Gamzous kompositorische Mitarbeit an den restlichen vier Sätzen angeht, so trifft er die große weite Welt der Mahler-Tonfälle gut: ihre Kontraste aus apokalyptischen Einbrüchen, feierlichen Chorälen, Volksliedton, Naturpoesie und Idylle, aus Tragik und Trivialem. Auch das Finale, das nur in einer Stimme und ein paar Harmonien überliefert ist, klingt bei Gamzou recht mahlerisch - wenngleich die große Trommel übertrieben oft schicksalhaft dröhnt und der idyllische Flötengesang kitschig wirkt.

Interessant ist der Abend allemal. Die Frage bleibt aber, ob Vervollständigungen dieser Art nicht ein Bärendienst sind. Es ist ja nicht Mahlers niederschmetternd depressiver Schwanengesang, der da erklingt. Es ist Gamzous Vorstellung davon.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 2. Juni 2015.

Donnerstag, 26. Februar 2015

Liebe ist kälter als der Tod

Ziemlich raue Live-Poesie: Element of crime gastieren im Rahmen ihrer aktuellen Deutschlandtournee im Stuttgarter Theaterhaus

Stuttgart - „Ihr Herz ist kalt wie ein gefrornes Hühnchen“, „Edeka des Grauens“, „Wenn dich dein Schatten liebt“: Düster sind die poetischen Einfälle von Sven Regener, dem textenden Kopf der deutschen Band Element of crime, die ihren Namen Lars von Triers gleichnamigem Film aus dem Jahr 1984 verdankt, einem surrealen Krimi.

Mit ihrer Nummer „Wenn der Wolf schläft, müssen alle Schafe ruhen“ trat die Berliner Band kürzlich im Weimarer Tatort auf, in einem entvölkerten Volksfest-Bierzelt, spät nachts. Das Ermittlerpaar Christian Ulmen und Nora Tschirner tanzte dazu eng umschlungen. Das passte, denn Ulmen spielte auch den Titelhelden in „Herr Lehmann“, der Verfilmung des Romandebüts und Bestsellers von Sven Regener, womit sich die Katze in den Schwanz biss.

Element of crime sind derzeit auf Deutschlandtournee. Sie füllten jetzt gleich zweimal den großen Saal im Stuttgarter Theaterhaus - mit Songs ihrer neuen CD „Lieblingsfarben und Tiere“ und ein paar älteren Nummern, etwa aus ihren frühen, noch englischsprachigen Zeiten, als sie mit der LP „Try to be Mensch“ im Jahr 1987 erste Popularität erlangten. Richtig los ging’s damals aber erst in den 1990er-Jahren - nach der Bandreform und der Entscheidung, auf Deutsch zu singen. Element of crime entwickelten einen eigenen Stil aus Chanson, Zirkusmusik und Seemannslied, aus Folk-Country-Rhythm and Blues und Rock‘n‘Roll, mit Vorliebe für den Dreivierteltakt und Shuffle-Rhythmen. Sie sind diesem Stil bis heute treu geblieben: musikalisches Stagnieren auf hohem Niveau.

Ältere balladige Songs wie „Straßenbahn des Todes“, „Delmenhorst“ oder „Am Ende denk ich immer nur an dich“ fügen sich an diesem Abend daher prächtig zu den brandneuen wie „Dunkle Wolke“ oder „Liebe ist kälter als der Tod“. Auch Lieder in Dur werden nach wie vor durch Mollausweichungen dunkel melancholisiert.

Auf den CDs klingt das alles schön durchsichtig, was David Young am Bass, Richard Pappik am Schlagzeug und Jakob Ilja an der oft sehr melodiösen Gitarre beisteuern und damit Regeners charismatische, raue, schnoddrig artikulierende Stimme grundieren und kontrastieren. Was aber im Theaterhaus, wo die vier durch den Saxofonisten Rainer Theobald ergänzt werden, erklingt, ist härter, lauter, rockiger. Weswegen Regeners Stimme zu oft zu fett überdeckt wird, wodurch die Texte unverständlich werden. Wer sie also noch nicht kennt, kriegt wenig mit vom Herz der Musik, den Worten: „Wenn du sie siehst, grüß’ sie von mir / Sag ihr, hier sei alles im Lot / Und je länger man kaut, desto süßer das Brot / Irgendwas ist immer, irgendwas ist immer / Und Liebe ist kälter als der Tod.“

Klar und scharf dagegen kann Regener mit seinen exzellenten Trompeten-Soli protzen. Der Dichter spricht nicht viel zwischen den Songs. Und wenn, gerät Regener schnell ins virtuose Fabulieren. Parliert in der Ansage etwa zu „Am Morgen danach“ darüber, was die Fünf so auf der Tournee bewege: welche Städte, die sie kreuzen, sich in welche Flüsse entleeren, und über die Bedeutung von Rhein und Donau. Dabei ginge es hier letztlich doch um die Weser, was nicht erstaune, wenn man bedenke, dass er ja aus Bremen komme - und das sei auch gut so, denn wer kümmere sich sonst noch um diese „Drecksbrühe“. „Und jetzt das Lied!“: „Am Fluss ging die Sonne ewig unter / von links nach rechts floss er und plätscherte munter / vorbei als du kamst. Da war es schon spät. War ja klar.“

Weil’s vorne so laut ist, geht man nach hinten, wo die jüngeren Leute des sehr gemischten Publikums an ihren Smartphones herumfummeln und die ganze Zeit Selfies knipsen, auf denen man dann so gut wie nichts sieht, weil’s ja dunkel ist. Zudem wird hier auch viel gequasselt und gekichert, so dass man sich dann lieber ganz nach hinten verzieht, wo einen der Sound aber immer noch beinahe gegen die Wand dengelt. Wirklich schade um die schönen Texte.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 26. Februar 2015.

Montag, 23. Februar 2015

Schriller Ritt

Der Geiger Julian Rachlin und das Gewandhausorchester in der Stuttgarter Liederhalle

Stuttgart - Tschaikowskys Violinkonzert verlangt körperliche Höchstleistung - wegen seiner Länge, der Dichte an technischen Schwierigkeiten und seines hohen Anspruchs an die Gestaltungskraft. Wie die Wiener Uraufführung 1881 geklungen hat und ob der Geiger Adolph Brodsky damals die nötige technische Souveränität besaß, um sich entspannt der Interpretation zu widmen, können wir heute nur erahnen. Der gefürchtete Kritiker Eduard Hanslick, der ihr beiwohnte, fand jedenfalls keine gnädigen Worte: „Da wird nicht mehr Violine gespielt, sondern Violine gezaust, gerissen, gebläut.“ Interpretations- oder Werkkritik? Wohl beides, denn Hanslick konstatierte, er wisse zwar nicht, ob es überhaupt möglich sei, „diese haarsträubenden Schwierigkeiten rein herauszubringen“, sehr wohl aber, „daß Herr Brodsky, indem er es versuchte, uns nicht weniger gemartert hat, als sich selbst“.

Schön klingt anders

Beim Konzert des Leipziger Gewandhausorchesters, das in der Leitung seines Chefdirigenten Riccardo Chailly im Rahmen einer mehrwöchigen Europatournee im gut besuchten Beethovensaal gastierte, wagte sich der aus Litauen stammende und in Wien lebenden Violinvirtuose Julian Rachlin an das Werk, das trotz seines hohen Anspruchs zu den meistgespieltesten Violinkonzerten gehört. Und einige Geiger und Geigerinnen haben es ja vorgemacht, dass es durchaus geht: eine souveräne Balance zu finden zwischen Virtuosität und klangschönem Ausdruck. Julian Rachlin sah man freilich das Schuften an: Immer wieder blies er die Backen auf, sein Körper stand so unter Spannung, dass er sich leicht nach hinten bog. In den schnellen Außensätzen riss er die Saiten mit dem Bogen an, dass man sich wundern musste, dass keine Funken sprühten, an denen die Geige sich hätte entzünden können. Rasend schnell liefen die Finger über die Saiten, und exakt wie eine Maschine ratterten die Springbogensalven. Kaum Zeit gönnte sich der 40-Jährige, mal ins Orchester hineinzuhören - was dem Abend gut getan hätte für Genauigkeit des Zusammenspiels und gegenseitiges Reagieren auf Klangfarben. So unter Druck setzte Rachlin seine Stradivari, so eng, so klebrig phrasierte er, dass sie gelegentlich heiser wurde, und vor allem in der hohen Lage, in der sich Violinkonzerte naturgemäß häufig aufhalten, intonatorisch zu zicken begann, bis die Ohren bluteten. Schön klingt anders. Wenigstens im kurzen langsamen Mittelsatz, der „Canzonetta“, einem „Lied ohne Worte“, fand er zu jener souveränen Ruhe, die nötig ist, um die Geige wirklich zum Klingen zu bringen.

Interessant wäre es nun gewesen, wenn das Orchester auf diese eher geräuschhafte als ebenmäßige und tonschöne Herangehensweise Rachlins, die man allenfalls als sehr schroff und gewagt verteidigen könnte, reagiert hätte. Dafür wäre aber eine transparente, bewegliche Umsetzung der Partitur nötig gewesen. Doch das Gewandhausorchester in großer Besetzung frönte routiniert und schwerblütig seinem dunkel-homogenen, streichersatten Klang, für den die bedeutenden Orchester Mitteldeutschlands ja berühmt sind, und der Solist machte sein eigenes schrilles Ding. Das wollte einfach nicht zusammen gehen.

Süffiges Melos

Das Gewandhausorchester, eines der ältesten Orchester in Deutschland und mit 185 Planstellen das größte, pflegt einen erdfarbenen, homogenen Streicherton, der sich über sattem Bass aufbaut, der durch herrliche Holzbläser-Vokalisen und funkelnd-brillante Blechbläserchöre ergänzt wird. Zu Rachmaninows zweiter Sinfonie passte das trefflich: ein ganz schöner Brocken in der satt schwelgenden spätromantischen Harmonik und dem weit ausholenden süffigen Melos. Eine Stunde lang seufzt, klagt und weint es in großen Schüben. Traurige Gesänge münden in orgiastische, schicksalsschwangere Steigerungen und entladen sich immer wieder in Fortissimo-Klangauftürmungen. Einen langen Atem braucht man da als Dirigent, um dem epischen Fluss eine formale Logik zu verpassen und die Schlusspunkte, die auch Rachmaninow naturgemäß irgendwann setzen musste, als zwingende Konsequenz erscheinen zu lassen. Riccardo Chailly zeigte sich hier als souveräner Dirigent, der den großen Bogen stets im Blick behält, dem Orchester aber die Freiheiten lässt, die zur klangeuphorischen Entfaltung bis zur Ekstase nötig sind. So verfehlte die Sinfonie ihre Wirkung nicht, und das Publikum im Beethovensaal war hörbar begeistert.

Rezension für die Stuttgarter Nachrichten und die Eßlinger Zeitung vom 23. Februar 2015.

Mittwoch, 18. Februar 2015

Aus der Zeit gefallen

Niccolò Jommellis Oper „Berenike, Königin von Armenien“ an der Staatsoper Stuttgart

Von Verena Großkreutz

Beziehungsstress neben Aposteln: Potentat Lucio Vero (Sebastian Kohlhepp) wird von seiner ungeliebten Braut Lucilla (Helene Schneiderman) bedrängt. (Foto: A.T. Schaefer)

Stuttgart - Heiseres Löwengebrüll dröhnt aus Lautsprechern. Vologeso, König der Parther, soll den wilden Bestien in der römischen Arena zum Fraß vorgeworfen werden. Wie inszeniert man so was heute? In der Stuttgarter Staatsoper, wo am Sonntagabend Niccolò Jommellis Barockoper „Berenike, Königin von Armenien“ Premiere hatte, natürlich nicht naturalistisch: Vologeso drängelt sich durch die vorderen Zuschauerreihen. Berenike, in Angst um ihren heimlichen Verlobten, hetzt ihm über die Sitze kletternd nach. Jetzt fürchtet der römisch-kaiserliche Feldherr Lucio Vero um seine heißgeliebte Gefangene Berenike, wirft seinem Konkurrenten von der Rampe aus sein Schwert zu, damit der die Löwen meuchele. Und dann taucht Lucilla, Tochter des Kaisers Marc Aurel, auf, die eigentliche Verlobte Lucios, erkennt den Betrug ihres Gatten in spe, zwängt sich durchs Orchester an die Rampe, um dort den völlig verwirrten Lucio auf die Pelle zu rücken.

Jossi Wieler und Sergio Morabito haben aus diesem grandiosen Gesangsquartett auch szenisch große Kunst gemacht: Inmitten der Intrigen und Täuschungen, die die Handlung dieser Opera seria gattungsgemäß prägen, scheint plötzlich die Zeit stillzustehen, öffnen sich die Seelen der Protagonisten, wird alles, was sie bewegt, überdeutlich – als reiße ein Nebelvorhang auf: ein Augenblick der Wahrhaftigkeit, fernab von Kulisse und Künstlichkeit, und ganz nah beim Publikum. Wie es auch in Jommellis Musik hörbar wird: dieses Sehnen und Verzweifeln, diese Angst, Verwirrung und Einsamkeit.

Eine Ausgrabung mit wunderbarer Musik – bereits 1993 von Frieder Bernius ediert, konzertant aufgeführt und auf CD eingespielt. 250 Jahre aber gab es keine szenische Aufführung der „Berenike“, einer Vertonung des damals beliebten Librettos von Apostolo Zeno. Der Neapolitaner Jommelli, zu Lebzeiten ein europäischer Opernstar, heute ein großer Unbekannter, komponierte das Werk 1766 während seiner Amtszeit als Hofkapellmeister im Dienste des württembergischen Herzogs Carl Eugen für das damalige Opernhaus in Ludwigsburg.

Das Regieteam und die Bühnenbildnerin Anna Viebrock verlegen die Handlung in die heutige Zeit und brechen den Blick darauf durch einen Kunstgriff. Vorne öffnet sich der Innenhof eines venezianischen Palazzos, in den immer wieder Fragmente aus dem Gemälde „Die Fußwaschung“ des Renaissancemalers Tintoretto implantiert werden – ein Hund, ein Waschbottich, das Knie eines Apostels, alles surreal verzerrt in den Größenverhältnissen. In diese Kunstkulisse flüchten sich zu Beginn der Oper die Protagonisten – wie hineingeworfen in eine andere Zeit, in legerer Alltagskleidung und barfuß, als seien sie zu Hause von einem Erdbeben überrascht worden und suchten hier Schutz. Entdecken Requisiten und Kostüme, Schwerter, Stiefel, Pumphosen, Militärjacken, Lorbeerkranz und Zepter. Das Spiel, die Verkleidung, kann beginnen.

Aber nichts ist so, wie es scheint. Tintorettos Gemälde, auf dem Jesus seinen Jüngern beim Letzten Abendmahl die Füße wäscht, dient zwar als Rahmen für die heutige Aneignung der alten Historienoper. Hinter den Säulen, wo Tintoretto einen Kanal und antike Gebäude malte, blickt man aber auf die heruntergekommene heutige Vorstadt Neapels. Alles ist aufgebrochen an diesem Abend. So wie die Gefühle in „Berenike“ die Machtverhältnisse außer Kraft setzen. Tintoretto, der biblische Ereignisse in seinen Bildern inszenierte, ließ sich bei der Arbeit von der antikisierenden Bühnenkunst seiner Zeit inspirieren. Den Bildhintergrund für seine „Fußwaschung“ fand er in einem Architektur-Buch: eine idealtypische Tragödienkulisse.

Mittendrin im künstlerischen Vexierspiel: die wirren und irren Liebenden. Jommelli weichte die Grenzen zwischen Rezitativ und Arie auf. Die Gefühle sprengen die Form von innen auf. Das Orchester spricht eine neuartige, expressive Sprache. In Stuttgart ist es als Gefühlspool vorne sichtbar auf der Bühne positioniert, leuchtet die Seelen der Protagonisten aus. Gabriele Ferro am Dirigierpult fordert vom Staatsorchester große Emotionen, aber auch differenzierte Rhetorik: ob Seufzen, schmerzvoll dissonante Eintrübungen oder melodiöse und rhythmische Verdrehungen, die ein Lüge entlarven. Der Streichersatz weitet sich durch die Auffächerung in drei Gruppen. An Präzision und Intonation muss das Orchester aber noch arbeiten.

Auf der Bühne sucht sich die auskomponierte Gestik körperliche Ekstase. Flavio, kaiserlicher Gesandter, implodiert beinahe in seiner zornigen Arie von der Flatterhaftigkeit der Gefühle – Sopran Catriona Smith singt das mit Überdruck, am ganzen Körper bebend vor Hochspannung. Auch in der Rollenbesetzung scheint die Regie ein wenig gegen den barocken Strich zu arbeiten. Tenor Sebastian Kohlhepp als Lucio besitzt großes Zukunftspotential: warm das Timbre, sicher die Höhe, phänomenal der Registerausgleich. Aber die Koloraturen verschmieren ihm. Und Berenike scheint geradewegs einer Bellini-Oper entstiegen: Sopran Ana Durlovski singt sie schön, aber etwas anämisch. Dünnhäutig wirkt Berenike, mit leicht wahnsinnigem Touch. Den Intriganten Aniceto, Lucios Diener, gibt Igor Durlovski, Bass und Altus zugleich – und deshalb mit einem ziemlichen Bruch zwischen Kopf- und Bruststimme. Vologeso dagegen, König der Parther, die von den Römern besiegt wurden, ist mit Sopran Sophie Mailley lyrisch besetzt. Sie singt den traumatisierten Kriegsversehrten mit phänomenaler Technik. Wie ein Bruder Werthers wirkt Vologeso in seiner grenzüberschreitenden Emotionalität. Ein Wilder, ein Gegenbild zum pathetisch-großspurigen Römer Lucio. Lucilla, die junge Verlobte Lucios, gibt Publikumsliebling Helene Schneiderman mit reifem Timbre: klar, vibratoarm, sauber. Da sitzt jeder Ton. Grandios Schneidermans darstellerische Gratwanderung zwischen geschäftstüchtiger Verstellung und wahren Gefühlen. Als Strippenzieherin darf sie das unvermeidliche Happy-End befehlen. Aber danach ist in Stuttgart Schluss mit lustig. Es droht im Hintergrund der graue, unvorhersehbare Alltag der Gegenwart. Das Spiel ist aus, Kostüme werden abgelegt, und flugs ist man sich wieder fremd.

Gesangsensemble und Orchester werden am Ende bejubelt, das Regieteam von einem Teil des Publikums ausgebuht. Das ist ungerecht. „Berenike“ bietet einen großartigen, spannenden Theaterabend.

Rezension für die Stuttgarter Nachrichten vom 17. Februar 2015.

Sonntag, 18. Januar 2015

Ein Heidenspaß

Christine Gnann inszeniert den „Frauenarzt von Bischofsbrück“ an der Esslinger Landesbühne

Slapstick, Trash und Telefon: Gesine Hannemann und Christian A. Koch im „Frauenarzt von Bischofsbrück“. (Foto: WLB)
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Esslingen - Fieser Haftrichter: Fragt den festgenommenen Dr. Julius Bork bei der Personendatenaufnahme, ob er „Sozialarbeiter“ sei. „Nee, ­Frauenarzt.“ Der Richter: „Sie sollten sich was schämen.“

Bork hat echt Pech. Wurde durch Zufall von der Polizei in einem sozialistischen Jugendtreff aufgegriffen und dann wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung ins Gefängnis geworfen. Daraus kann ihn nur der italienische Mafia-Boss Salvatore Calamari befreien, der wegen einer alten Liebe auf die entsprechende Bitte der Ordensschwester Mutter Maria von den heiligen Wassern eingeht. Am Schluss des Theaterabends in der Esslinger Landesbühne (WLB) ist Bork frei. Aber das Ende, das wie in jedem guten Arztroman der Hauptperson „die Liebe einer schönen Gräfin und ein erfülltes Leben in einem alten Försterhaus“ verspricht, ist noch lange nicht erreicht. Es folgen ja noch Hunderte von Kurzhörspielen, in denen das Genre auf die Schippe genommen und mit aktuellen gesellschaftlichen und politischen Bezügen - etwa zu Terrorismus, Pharmaindustrie, Lobbyismus, Kirche - gespickt wird.

Ja, der „Frauenarzt von Bischofsbrück“, die Kult-Hörspielserie von Alfred Marquart und Herbert Borlinghaus, die in den 80er-Jahren dem damaligen SDR Traumquoten bescherte, ist jetzt im Podium 2 des Esslinger Schauspielhauses zu sehen. Etwa die 30 ersten der Kurzfolgen verbrät der 90-minütige Abend - immer wieder unterbrochen von Chor-Jingles, wenn es gerade am spannendsten ist. Zwar bleibt der Hörspielcharakter erhalten - die Inszenierung von Christine Gnann spielt in einem Tonstudio, macht also sichtbar, was das Radio naturgemäß verbirgt. Aber waren die Originale recht „ernsthaft“ umgesetzte Parodien, so setzt das Theater sie mit den eigenen komödiantischen Mitteln gekonnt in Szene: trashig, anarchisch übertreibend, mit vielen Gags und Slapsticks.

Grauenhaft gut


Ausstatterin Katrin Busching verlegt den Abend in die Entstehungszeit der Serie. Die Bühne beherbergt eine Ansammlung von Trash: Vergilbte Gardinen im 70er-Jahre-Look, karierte Tapeten. Hinten zwei tresenartige, orange verkleidete Tische, an denen die beiden salbungsvoll deklamierenden Erzähler und Geräuschemacher stehen: rechts Martin Theuer in rot-schwarzem Polyesterhemd mit Seeadlerstickerei, links Marcus Michalski in schnittig aufgepumptem Jeansanzug, Collegeschuhen, Doppelsteg-Nasenfahrrad, mit Toma-Frisur (vorne Tolle, hinten Matte) und toupiertem Brusthaar, das aus dem Hemd quillt. Grauenhaft gut! Vorne in den Sesseln sorgen Christian A. Koch in gewagt gemustertem, lachsfarbenem Jackett und Gesine Hannemann in biederem Loden-Kostüm für die Dialog-Einwürfe und weiteres Geklirre und Gelärme. Und weil es ja heißt, dass auch Radio-Sprecher sich in ihre Rollen wirklich hineinversetzen müssen, zieht man sich pausenlos um, setzt hässliche Perücken auf und ab - wobei die Klamotten offenbar aus der letzten Kleidersammlung stammen. Mal schlüpft Koch in die Rolle des blonden Arztes, mal spielt er mit verstellter Stimme die dunkelgelockte, hysterische Annerose oder skandiert die Worthülsen-Rede eines bayrischen Ministerpräsidenten. Während Hannemann mal den raffinerten „kleinen Italiener Luigi“ mit Schnurrbart mimt, mal die vom Sohn „Anständigkeit“ einfordernde Arzt-Mutter röchelnd versterben lässt, um dann in ihrer Paraderolle zu landen: der knitzen Mutter Maria von den heiligen Wassern, die italienische Vorspeisenteller genauso liebt wie religiöse Traktate.

Dass der Abend ein echter Brüller wird, verdankt sich der Spiel-Leidenschaft des vierköpfigen Ensembles, das offenbar ein Heidenspaß antreibt. Virtuos etwa, wie Gesine Hannemann die diversen Ohnmachtsanfälle der Gräfin derer zu Retzlow zum Klingen bringt, indem sie sich seitlich mit dem Kopf auf eine Glasplatte fallen lässt, dass es donnert - bevor die Vöglein zwitschern. Aua!

Ein schön albernes Highlight ist auch Christian A. Kochs Darstellung des Mafiabosses, eine Parodie auf Marlon Brandos „Paten“: Ein gefühlt halbes Brötchen klemmt sich Koch hinter die Unterlippe, um ihm visuell und stimmlich möglichst nah zu sein - und das Brötchen am Ende einfach aufzuessen.

Knäckebrotbisse knacken ins Mikro

Unendlich scheint die Fantasie, mit der das quietschvergnügte Quartett Erzählung und Dialoge mit Geräuschen unterlegt: Da wird ein Knäckebrot ins Mikro zerkaut, um des Doktors Schritte im finsteren Treppenaufgang zu imitieren, da dient eine Stahlblech-Mülltonne als schwere Kerkertüre, und das Zuschnappen der Handschellen vertont ein Eiskugelausstecher. Das Geräuschemachen führt erwartungsgemäß zum Konkurrenzkampf: Etwa wenn Theuer verträumt die Polizeisirene singt und dann Kollege Michalski, der lieber mit technischem Schnickschnack arbeitet, angeberisch ein perfektes Tatütata zuspielt.

Den frenetischen Jubel am Ende hat sich das Ensemble wahrlich verdient. Wer einen richtig lustigen Abend erleben will, sollte zum „Frauenarzt“ gehen.

Besprechung für die Eßlinger Zeitung vom 17. Januar 2015.

Samstag, 10. Januar 2015

Lachen tötet Angst

Meinungsfreiheit mit spitzem Stift: Wie weit darf Satire gehen?

Von Verena Großkreutz

Paris – Ein Blutbad: Zwölf Tote in Paris. Zwei Islamisten schießen mit Kalaschnikows die Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ nieder. Wegen gezeichneter Witze. Vielleicht nicht immer besonders geschmackvolle Bilder: Mohammed mit entblößtem Gesäß – als Brigitte-Bardot-Parodie, die fragt: „Und mein Hintern, gefällt er dir?“ Oder Mohammed, der unter der Überschrift „Mohammed von Fundamentalisten überwältigt“ schreit: „Es ist hart, von Idioten geliebt zu werden!“

Aber was heißt Geschmack schon in der Welt der Satire? Sie darf doch alles, sagte Kurt Tucholsky. Tabu-Grenzen überschreiten, mit Stereotypen arbeiten, dabei auch politisch unkorrekt werden. Die ermordeten „Charlie Hebdo“-Karikaturisten Cabu, Tignous, Charb und Wolinski haben sich übers Christen- und übers Judentum und über den Islam gleichermaßen lustig gemacht. Sie haben für ihre Mohammed-Karikaturen jahrelang Todesdrohungen erhalten, haben trotzdem immer weitergemacht und bewusst ihr Leben riskiert.

Die Botschaft des Bleistifts

Jetzt, nach dem Massaker in Paris, trauerte die Welt. Aber sie erstarrte nicht. Sie regt sich und reagiert mit ihrer eigenen „Waffe“ der spitzen Feder, in Worten und Zeichnungen. Der gute alte Bleistift ist seit Mittwoch zum Symbol für die Werte der europäischen Aufklärung geworden: für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Presse- und Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung. Wer hätte das gedacht in unseren digitalen Zeiten? Ein Bleistift! Karikaturisten zeichneten damit ihre Kommentare zum Attentat. Gespitzte Stifte ragen als flugzeugdurchbohrte Twin Towers in die Höhe oder prasseln in Mengen vom Himmel hinunter auf einen erschreckten Dschihadisten.

Satire als Inbegriff der Meinungsfreiheit, in der krassen Form der „Charlie Hebdo“-Macher nur möglich seit Abschaffung der Zensur. Die Botschaft heute: Wir dürfen keine Furcht zeigen, wir sind doch alle Charlie. Nicht nur die Berufsstände, die in Paris angegriffen wurden: die Karikaturisten, Journalisten, Satiriker. Das deutsche Satiremagazin „Titanic“ ließ unmittelbar nach dem Attentat in seinem „Liveticker in eigener Sache“ verlauten: „TERRORHINWEIS: Für 16 Uhr ist in der TITANIC-Redaktion eine Pressekonferenz angesetzt, bei der RTL, Hessischer Rundfunk, Frankfurter Rundschau und sämtliche weitere Privat- und Systemmedien anwesend sind. Für Terroristen bietet sich hier die Möglichkeit, nicht nur eine Satireredaktion auszulöschen, sondern auch die gesamte deutsche Lügenpresse. Es gibt Schnittchen (hinterher)!“ Man mag das geschmacklos finden, aber es ist die konsequente und richtige Reaktion der Satiriker auf den Angriff auf die Satire. Sie können dem Unbegreiflichen nur mit der Distanz des Humors, und sei es des schwarzen, beikommen.

Eine der besten Karikaturen, eine aus der Feder des Niederländers Joep Bertram, zeigt einen verdutzten Turbanträger mit Backenbart und blutigem Schwert, der sein kopfloses Gegenüber, gekleidet in ein T-Shirt mit „Charlie Hebdo“-Aufdruck, verdutzt anstarrt: Denn aus dessen blutigem Halsstumpf streckt sich ihm eine riesige Zunge entgegen. Eine triftige Karikatur, in der sich nicht nur jener Humor artikuliert, „wenn man trotzdem lacht“, sondern einer, der angesichts der Schrecken dieser Welt die einzig mögliche Überlebensstrategie darstellt: die Selbstbehauptung in unerträglichen Zeiten. Sigmund Freud hat das einmal treffend formuliert: „Der Humor hat nicht nur etwas Befreiendes wie der Witz und die Komik“, schreibt er, „sondern auch etwas Großartiges und Erhebendes. Das Großartige liegt offenbar im Triumph des Narzissmus, in der siegreich behaupteten Unverletzlichkeit des Ichs. Das Ich verweigert es, sich durch die Veranlassungen aus der Realität kränken, zum Leiden nötigen zu lassen, es beharrt dabei, dass ihm die Traumen der Außenwelt nicht nahegehen können, ja es zeigt, dass sie ihm nur Anlässe zu Lustgewinn sind.“ Sigmund Freud nennt als Beispiel für diesen sprichwörtlichen Galgenhumor den Delinquenten, der, als er am Montag zur Hinrichtung geführt wird, spricht: „Na, die Woche fängt ja gut an“.

Satire darf alles. Die Grenzen setzt sie sich selbst. Sie darf sich über Regierungen lustig machen genauso wie über Religionen. Das ist die Errungenschaft der Aufklärung: alles, wirklich alles hinterfragen und aufs Korn nehmen zu dürfen, das Licht der Vernunft noch in den finstersten Winkel der Unvernunft scheinen zu lassen. „Habe Mut“, schrieb Immanuel Kant, „dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, um dich aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien.“

Subversives Lachen

Das betrifft auch die Religion. Aber das Lachen hat in seinem Kern etwas Subversives. Auch in Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“, der im Mittelalter spielt, ist es Motiv für zahlreiche Morde. Der blinde Kloster-Bibliothekar Jorge von Burgos ist der Bösewicht. Er will der Menschheit das offiziell als verschollen geltende „Zweite Buch der Poetik“ des Aristoteles, in dem die Komödie behandelt wird, vorenthalten. Über sein Motiv sagt der Mönch: „Lachen tötet die Furcht. Und ohne Furcht kann es keinen Glauben geben.“ Wer den Teufel nicht mehr fürchte, brauche keinen Gott mehr: „Dann können wir auch über Gott lachen.“

Die fanatischen, fundamentalistischen Vertreter eines Islam ohne Aufklärung vertreten „eine todernste, einzige ewige Wahrheit, und der Witz – egal wie klug oder lustig er im Einzelfalle sein mag – bedroht diese Wahrheit“, schrieb Tim Wolff, Chefredakteur der Titanic, anlässlich des Pariser Attentats. Religion sei Wahnsinn im Kleide der Rationalität, Satire und Komik Rationalität im Kleide des Wahnsinns, schreibt er weiter. „Das eine muss das andere missverstehen.“ Es sei das gute Recht der „Vertreter des heiligen Ernstes“, der Komik mit Zorn zu begegnen: „solange sie dies mit denselben Waffen wie Satiriker tun: mit Wort und Bild. Und nicht mit Maschinenpistolen.“

Blasphemie und Demokratie

Witze über die Gottheiten der Weltreligionen werden moralisch gerne als Gotteslästerung oder Blasphemie bewertet. Sogenannte Gotteslästerung war das Motiv für die Morde in Paris. Aber gerade sie gehört auch im aufgeklärten Deutschland noch immer zum unangreifbaren Tabu. In seinem Kommentar für „Spiegel online“ schrieb Markus Becker gestern: Vor dem Hintergrund des Attentats sei es „ein Skandal, dass Religionen und andere Weltanschauungen in Deutschland noch immer gesetzlichen Schutz vor allzu harter Kritik genießen.“

Im Paragraph 166 des Strafgesetzbuchs heißt es nämlich: „Wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die gee ignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ Eine freiheitliche Demokratie brauche aber Blasphemie, so Becker. „Denn Blasphemie stellt Dogmen infrage. Und Dogmen – seien es religiöse oder politische – sind mit ihrem absoluten Wahrheitsanspruch der natürliche Feind des kritischen Denkens.“

Beitrag für die Eßlinger Zeitung vom 10. Januar 2015.

Donnerstag, 8. Januar 2015

"Ich bin Charlie": Reaktionen der Karikaturisten

Karikaturisten weltweit reagieren auf den gestrigen Anschlag auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo" mit den eigenen Mitteln. Eine kleine, sehenswerte Sammlung dieser gezeichneten Kommentare findet sich hier auf den Seiten von Spiegel online.

Und hier einige bemerkenswerte Titelseiten heutiger Tageszeitungen.

Mittwoch, 24. Dezember 2014

Musikant im besten Sinne

Fabio Biondi und das Stuttgarter Kammerorchester im Mozartsaal

Meister subtiler Phrasierung: Fabio ­Biondi (Foto: Emile Ashley)

Stuttgart - Das Wort „Musikant“ hat heute einen abfälligen Beigeschmack. „Musikantenstadl“ ist im Feuilleton ein Schimpfwort, Musikanten machen Tanzmusik und Schlager, während sich wahre Musiker der hehren Kunst widmen. Als „Musikant“ gilt aber auch der, der das freie Zusammenspiel mit Gleichgesinnten pflegt, der nicht an den Noten hängt und mit seinem Publikum kommuniziert. Spontaneität prägen seine Auftritte. In diesem besten Sinne ist Fabio ­Biondi ein Musikant. Der Geiger, der mit seinem Ensemble L’Europa Galante längst zu den bedeutenden Protagonisten der historischen Aufführungspraxis gehört, reißt mit seiner Spielfreude und Klangfantasie Publikum und Orchester gleichermaßen mit, wie sich jetzt im Konzert mit dem Stuttgarter Kammerorchester (SKO) im Mozartsaal wieder einmal offenbarte.

In vier späten Werken Antonio Vivaldis und dem frühen vierten Violinkonzert Joseph Haydns zeigte das SKO, dass es unter entsprechender musikalischer Leitung ein hervorragendes Orchester sein kann. Da musste Biondi gar nicht so viel gestisch arbeiten, damit das Kollektiv ihm auch bei plötzlichen dynamischen Kontrasten und spontan wirkenden Tempoänderungen präzise und lustvoll folgte: in Vivaldis Streichersinfonia „Il coro delle muse“ etwa mit ihren Salven aus feurigen Abwärtsläufen oder seinem zackig akzentuierten Violinkonzert „Per Chiaretta“. Fein differenziert und transparent war auch das Klangbild in Vivaldis d-Moll-Konzert für Viola d’amore und Laute, in dem Biondi ein historisches fünfsaitiges Instrument spielte, das seine exotische Stimme fünf zusätzlichen Resonanzsaiten verdankt. Das SKO artikulierte dynamisch so flexibel, dass auch das Tongewebe der leisen Laute, die in diesem Stück gelegentlich aber auch mal brüllen darf und von Giangiacomo Pinardi gezupft wurde, immer gut hörbar blieb. Biondi als Meister der subtilen Phrasierung, des detailreichen Spiels und einer avantgardistisch anmutenden Farbensuche und -findung degradiert die virtuosen Möglichkeiten seines Instruments nicht zum Showelement, sondern integriert Läufe, Triller, Doppelgriffe in subtile Schatten- und Lichtspiele. Das ist wohl in dieser Feinheit nur mit dem gelenkiger zu handhabenden Barockbogen zu erreichen, den Biondi stets benutzt. Wegen der konvexen Krümmung, des geringeren Gewichts und der schmaleren Bespannung produziert der historische Bogen wesentlich obertonreichere Töne als der heutige. Das SKO verwendete zwar die moderne Variante, konnte die farblichen Unterschiede zum Solisten aber dank gespitzter Ohren und mit leichtem, luftigem, beweglichem und präzisem Spiel mildern. Biondi konnte sich an diesem Abend ohnehin blind auf SKO-Konzertmeisterin Susanne von Gutzeit verlassen.

Wenn man dem Geiger zuhört, verwandelt sich der Notenständer zur Staffelei. Vor allem in Johann Georg Albrechtsbergers D-Dur-Streicher-Divertimento und dessen Variationensatz: beeindruckend, wie Biondi mit dem Springbogen delikate Effekte wie kleine Trommelwirbel zaubert, wie er Farbtupfer durch überraschende Akzente setzt, wie er mit zarten Umspielungen lasiert. Seine Variationsmöglichkeiten scheinen unendlich. Und ziehen das atemlos folgende Publikum in den Bann.

Rezension für die Eßlinger Zeitung vom 23. Dezember 2014.

EDUARDAS UNIVERSUM

weblog für ernste kultur von verena großkreutz

Wer ist Eduarda?

Eduarda bin natürlich ich! Diesen Spitznamen verpasste mir ein Freund in meiner Anfangszeit als Musikkritikerin in Erinnerung an den berühmten Eduard Hanslick.

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