Dienstag, 28. Juli 2015

Erotik im Konzertsaal?

Die in der Emanzipation des Bürgertums wurzelnden Rituale der klassischen Musik sind unsexy und bis heute konserviert - Wer das ändern will, wird schnell peinlich

Von Verena Großkreutz

Uniformes Streichen in uniformer Kleidung: Ein klassisches Konzert - hier die Wiener Philharmoniker mit Riccardo Muti und der Pianistin Mitsuko Uchida  - verbindet Arbeitsethos und Kunstreligion - aber keinen Eros.

Gegen das unverhohlen Sexuelle, Körperliche sträubt sich die instrumentale Kunstmusik - zumindest gemäß ihrer klassischen Ästhetik als absolute Musik, die nur sich selbst bedeuten will. Spannungssteigerungen, energetische Ballungen und ihre Entladung können alles Mögliche bedeuten. Aber eine Harmonie- oder Formenlehre des sexuellen Aktes in der Musik wurde nie geschrieben - auch nicht für jene programmmusikalischen Werke wie Richard Strauss‘ „Don Juan“ oder Arnold Schönbergs „Verklärte Nacht“, die laut literarischer Vorlage Erotisches in Klänge zu bannen trachten. Gerade Schönberg sprach ausschließlich von den „Bedürfnissen“ und „Sehnsüchten“ der Töne und vom „Triebleben der Harmonien“ - nicht der Menschen. Die Assoziation von Erotik, die beim Zuhörer möglicherweise ausgelöst wird, bleibt vonseiten des klingenden Materials also strikt binnenmusikalisch definiert.

Dem entspricht - etwa im Vergleich mit der Pop-Musik - eine äußerst zurückhaltende Körpersprache im Konzertsaal; beim mehr oder weniger reglos in den Reihen sitzenden Publikum sowieso, aber auch bei den Interpreten auf dem Podium. Hierarchisch gestaffelt wird zwar Dirigenten, Solisten und allenfalls noch Konzertmeistern gestische, pantomimische oder fast schon choreographische Beweglichkeit zugestanden, die als Ausweis von Musikalität akzeptiert oder sogar bewusst inszeniert wird. Doch der Rest vom Orchester hat unauffällig uniform zu musizieren.

Triumph über die Aristokratie

Und dem entspricht ein uniformierender Dresscode: Männliche Musiker stecken in aller Regel in anonymisierenden Fräcken - Relikten aus den Anfängen der bürgerlichen Konzertsaalkultur im frühen 19. Jahrhundert, als der Frack, eine typisch bürgerliche Bekleidung, noch antifeudale Zeichen setzen sollte. Der Adel trug damals bei repräsentativen Anlässen grundsätzlich prachtvolle, bunte Galauniformen. Der Frack stand für bürgerliche Schlichtheit und zugleich für den Stolz der ökonomisch Überlegenen. Ja, er wurde zum Symbol des Triumphs über die Aristokratie und damit einer bürgerlichen Umwertung der Kunst, die zuvor Sache des Hofes, des Adels, der Kirche war.

Die Antiquiertheit des Konzertfracks und sein Ursprung im reinen Männerorchester zeigt sich deutlich in der heutigen Aufweichung der Kleiderordnung durch die Musikerinnen. In Zeiten, da sich endlich die Gleichberechtigung der Geschlechter auch im Orchester anbahnt, zeigt auch das Outfit nicht mehr die gleichmachende Uniformität wie noch vor 30 Jahren. Frauen werden nicht genötigt, Fräcke zu tragen - was einerseits begrüßenswert, andererseits inkonsequent ist. Ob Rock und Bluse, Kleid oder Hosenanzug bleibt meist ihnen überlassen. Warum die freie Wahl der Kleidung nicht auch Männern zugestehen? Freudloses Schwarz muss es freilich auch für die Damen weiterhin sein.

Nur Solistinnen dürfen Farbe zeigen. Attraktiv sollten sie ohnehin sein. Gerne auch ein Paradiesvogel. Was zunehmend auch für männliche Solisten gilt. In Maßen exzentrisch darf es ebenfalls sein - und inzwischen auch ein bisschen erotisch. Letzteres ist eine Folge aus dem Spannungsverhältnis zwischen hehrem Kulturanspruch und Vermarktung. Einerseits hat das Erotik-Tabu in der sogenannten ernsten Musik ehernen Bestand. Schließlich geht es um „höhere“ Werte - in klarer Distanzierung zum Pop, der Sexualität ungeniert und pausenlos verbalisiert und rhythmisiert, durch Kleidung, Bewegung und Posen in der ganzen Inszenierung der Bühnenshows permanent ausstellt. Andererseits braucht heutzutage auch die ernsteste Musik PR-strategische Verlockungen, und da setzen die Marketing-Maschinerien der Agenturen durchaus auf wohltemperierten Sex-Appeal. Daher gleichen auch die Promo­tion-Fotos von Klassikstars immer häufiger Pin-Ups.

Doch Sex allein macht‘s in klassischen Klanggefilden eben auch nicht. Im Konzertsaal haben Herren wie Damen nach wie vor höchst diszipliniertes Arbeitsethos an den Tag zu legen. So fordern es die Notentexte. Leistung ist gefragt - aus dem bürgerlichen Selbstverständnis des 19. Jahrhunderts heraus. Die Körperlichkeit der Musizierenden tritt hinter dem wohlgeformten, präzisen Klangereignis zurück, ja, wird von ihm aufgesogen. Der musizierende Leib mutiert zum transzendierenden Körper. Das Bürgertum machte sich im 19. Jahrhundert die Künstler zu neuen Göttern, die Kunst zur Religion. Sie galt - obwohl vom Menschen geschaffen - als neue Offenbarung. So durchmischten sich Formen des Kunstgenusses mit jenen religiöser Verehrung. Was Erotik oder überhaupt alle „niedere“, körperliche Sinnlichkeit ausschloss. Konzerthallen wurden zu Kunsttempeln, in denen sich die versammelte Gemeinde der andächtigen Versenkung in die großen Werke hingab.

In scheinbarer, aber typisch bürgerlicher Paradoxie entspricht diesem quasi-religiösen Ergriffenheitspathos der nüchtern arbeitende Musikerkörper, der sich im Klang gleichsam ins Körperlose aufzuheben hat. Die in der Romantik und im Protestantismus wurzelnde Kunstreligion bindet sich damit - und in der Musik vielleicht am deutlichsten - an das protestantische Arbeitsethos und seine „innerweltliche Askese“ (Max Weber) als Zeichen überirdischer, ja göttlicher Berufung.

Höllisch Schweres himmlisch leicht

Das gilt ungemindert auch für heutige Klassik-Größen wie Sol Gabetta, Patricia Kopatchinskaja oder Hilary Hahn, Lang Lang, Igor Levit oder Daniel Müller-Schott: Was zählt, ist die Leistung der am höllisch schwer Spielbaren sich Abkämpfenden - und je himmlisch leichter es klingt, desto größer die Verehrung. Aber: Mit dem Publikum flirten, die Hüften schwingen, Pop-Posen imitieren? Das macht kein Hohepriester der Kunst. Lächeln? Nur als Dank für den Applaus! Wer doch mit äußeren Reizen - nicht nur sexuellen - kokettiert, erkauft den Erfolg bei dem einen Teil des Publikums mit dem Naserümpfen des anderen. So erging es etwa Roger Norrington, dem früheren Chefdirigenten des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart: gewiss ein hoch seriöser Musiker, aber mit eine Faible für humoristische Einlagen auf dem Podium. Und die wurden nur von einem Teil des Auditoriums goutiert. Andere, die ihre Coolness oder ihre Show-Talente zelebrieren, driften - wie etwa David Garrett - in Crossover ab, wo sich alsbald die hart erarbeitete Spieltechnik auflöst.

Auf erotische Selbstinszenierung ohne Preisgabe klassischen Klanganspruchs zielen hingegen Interpreten wie die georgische Pianistin Khatia Buniatishvili (27). Etwa kürzlich im Stuttgarter Beethovensaal mit dem Orchestre de Paris - in der Leitung des bürgerlichen Proto-Künstlertyps: Paavo Järvi, der Musik dienend, ohne Allüren, asketisch. In Griegs Klavierkonzert räkelte sich die schöne Brünette im eng anliegenden, silberblitzenden Paillettenkleid in ihren Spielpausen ziemlich lasziv dem dirigierenden Järvi entgegen oder atmete die Orchesterklänge zurückgelehnt mit geschlossenen Augen und bebender Brust ein, als erwarte sie einen Geliebten. Die posen­haft veräußerlichte Erotisierung des Spiels überträgt sich allerdings dann doch auf die Qualität des Tons: Statt auf musikalische Sinnhaftigkeit und Sinnlichkeit scheint er auf Attribute wie „wild und rassig“, „heißblütig und glutvoll“ erpicht; kurz: auf Kitsch und Klischee. Die Selbstdarstellung der Solistin legt sich obendrein über das Hören, sie reduziert die Musik zum Soundtrack für einen virtuosen Vamp, eine dionysische Diva. So wie der Film „Zehn. Die Traumfrau“ von 1979 Ravels „Boléro“ plump erotisierte, indem er ihn einem Geschlechtsakt unterlegte.

Analogien zwischen musikalischer und sexueller Lusterzeugung gelten freilich als neurophysiologisch untermauert, da offenbar alle Lustempfindungen sich derselben Grundmechanismen des Nervensystems bedienen. Die bürgerliche Konzertkultur machte sich das zunutze, aber unter den Vorzeichen der Triebsublimation. Was auch immer in der absoluten klassisch-romantischen Musik tiefenpsychologisch als erotischer Reiz ausgemacht werden kann: Es wird nie explizit, allenfalls - siehe Programmmusik - an der Krücke einer literarischen Vorlage, und es wird in jedem Fall überkompensiert durch die puritanischen, ja spießigen Konzertsaal-Rituale.

Voyeurismus und Läuterung


Die ästhetische Sublimation von Sexualität, Liebe und Eros zu sogenannter tiefer Empfindung und hoher, also körperloser Leidenschaft mündete allenfalls im Musiktheater, namentlich jenem Wagners, in eine eindeutigere erotische Sehnsucht, die jedoch mit Todessehnsucht einherging und sich in ihr wenn nicht zu bestrafen, so doch eben auch wieder zu sublimieren hatte: beispielsweise im Eros-und-Thanatos-Mythos von „Tristan und Isolde“. Das bürgerliche Publikum erkaufte sich mit der Eintrittskarte Voyeurismus und Läuterung zugleich: Teilhabe an den wogenden Ekstasen, aber um den Preis des Liebestodes - auf dass ja keine Begehrlichkeiten aufs wirkliche bürgerliche Leben abfärben.

Wer darüberhinaus etwa Debussys körperhafte und illuminierte Klänge erotisch findet, Bruckners Erlösungssinfonien als unendlich gedehnte Liebesakte deutet oder in Beethovens Sinfonien Orgasmen zu erahnen meint, die durch die Nacht zum Licht erkämpft werden, der tut dies auf eigene assoziative Rechnung.

An dieser Grundkonstellation einer rein werkimmanenten Sinnlichkeit und einer steril-ritualisierten Aufführungspraxis hat sich bis heute nichts geändert. Auch weil die klassische Konzertform kaum weiterentwickelt wurde, weil die Wiederholung des Bekannten den Veranstaltern sichere Einnahmen zu garantieren scheint, weil Experimente - etwa Konzerte an ungewohnten Orten - in ihrer Wirkung äußerlich oder - siehe Neue Musik - in ihrer Reichweite begrenzt bleiben. Da mögen Klassik-Rebellen noch so neidisch auf die Kollegen von der Pop-Fraktion blicken, aber das Dilemma ist bis auf weiteres unlösbar: Der Konzertsaal als Museum des 19. Jahrhunderts bleibt unsexy, und wer das Tabu bricht, wird peinlich.

Essay für die Eßlinger Zeitung vom 11. April 2015.

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Wer ist Eduarda?

Eduarda bin natürlich ich! Diesen Spitznamen verpasste mir ein Freund in meiner Anfangszeit als Musikkritikerin in Erinnerung an den berühmten Eduard Hanslick.

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