Sonntag, 21. Februar 2010

Welt aus Blei

"Kein Schiff wird kommen" – Nis-Momme Stockmann von Annette Pullen in Stuttgart uraufgeführt

Jens Winterstein und Matthias Kelle, Foto: Cecilia Gläske, Quelle: www.staatstheater-stuttgart.de

Stuttgart - Wahrlich, unsere Zeiten sind gefräßig, rasend, nervtötend. Wir sind alle fremdbestimmt, unfrei. Nicht einmal der Theaterdichter ist mehr das, was er einmal war. Den Geniebegriff kann er sich in die Haare schmieren: Vor dem Marketingcharakter der Theaterwelt kann er nicht bestehen, wenn er sich nicht anpasst. Was er schreibt, bestimmt nicht er, sondern Dramaturgen, Intendanten und Lektoren. "Welthaltig", "nachhaltig" sollen seine Stücke sein. Und worüber soll er schreiben im Jahr 2009? "Von überall schreit es her: Wende Wende Wende. Überall spukt der Geist der Wende. Und ich glaube nicht an Gespenster. Kein kalter Hauch, kein Schaudern überkommt mich. Nichts. Nur leere Worte – du musst du musst du musst."

So zumindest geht es dem jungen, wütenden Theaterautor in Nis-Momme Stockmanns neuestem Stück "Kein Schiff wird kommen", das am Freitag im Depot des Staatstheaters Stuttgart zur Uraufführung gebracht wurde. Es ist erst das dritte Stück des 28-jährigen Stockmann, und schon bricht es heraus aus ihm: ein Überdruss an den Gegebenheiten und an der Unmöglichkeit, in dieser Gesellschaft zu sich selbst zu finden. Der Dichter in seinem Stück will ja nicht für die Schublade produzieren, sondern Cash machen. Und so verhält er sich normgerecht und schreibt über die Wende und damit über etwas, das ihn eigentlich nicht die Bohne interessiert. Aber das Thema führt ihn bald zum wesentlichen Kern seines Ichs: zu seiner eigenen verdrängten Familientragödie.

Worte des Vaters an das ewige Kind

"Kein Schiff wird kommen" ist weniger ein Theaterstück als vielmehr ein Bericht über die Entstehung und finale Verwerfung eines solchen. Natürlich auch die Geschichte einer Vergangenheitsbewältigung, an deren Ende die Selbstbefreiung steht. Es ist kein Zufall, dass "Kein Schiff wird kommen" auch als Hörspiel produziert wird. Es verarbeitet viel Text. Es ist ein pointenreiches, klug aufgebautes Stück, das Sprache phasenweise appetitlich zubereitet auf einem goldenen Tablett serviert und die Sinne erfreut. Dialogszenen werden geschickt implantiert in den übergeordneten Erzählbericht des Protagonisten, der jede Impression, jeden Gedankenfetzen, jedes Gespräch wie ein Journalist auf einem Diktiergerät aufzeichnet und auch das Abhören desselben virtuos in den Plot einarbeitet: Ein gekonntes Vexierspiel mit der Fiktion des Geschriebenen und der Realität des darin Erzählten.

Natürlich ist der anonyme Autor auch ein bisschen Stockmann, der in seinem Stück Biographisches mit Erfundenem verbindet. Um sich dem Thema zu nähern, beginnt sein Protagonist seine Recherche auf der Nordseeinsel Föhr, wo er (wie Stockmann) aufgewachsen ist. Dort befragt er seinen Vater: Wie die Maueröffnung auf der Insel, so weit weg von der damaligen Grenze, wahrgenommnen wurde. Er selbst war zu diesem Zeitpunkt erst fünf Jahre alt, kann sich an nichts mehr erinnern. Auch der Vater hat dazu nicht viel zu sagen, ohnehin nervt man sich vor allem an. Der Rückfall in alte Strukturen, wenn sich Nachwuchs und Eltern begegnen, das kennt man: Die wohlmeinenden Worte des Vaters an das ewige Kind rufen beim Sohn Aggressionen hervor. Der klugscheißende Sohn aus dem hippen Berlin fühlt sich dem bodenständigen Vater haushoch überlegen, muss dennoch bemerken, dass dieser ihn ebenso durchschaut. Man säuft gemeinsam den Frust nieder. Sieben Kästen Flensburger stehen drohend auf der Bühne.

Wild, wütend, klagend

Die Aggression und Larmoyanz des Sohnes beginnt langsam gehörig auf den Wecker zu gehen, da passiert es. Verdrängtes bricht sich Bahn. Der Vater berichtet stockend, was ihn zu Wendezeiten wirklich beschäftigt hat: Der Tod der Mutter. Ein Thema, was bis dahin von beiden totgeschwiegen wurde. Ein verschüttetes Kindheitstrauma bricht auf. Der Sohn erinnert sich: Die Mutter, geisteskrank, wahnsinnig geworden, wurde vom völlig überforderten Vater in das Zimmer des Sohnes gesperrt. Ihr Sterben ein Trauma: "Die Welt steht still, als wäre sie aus Blei."

Die Inszenierung von Annette Pullen vertraut ganz auf die fantastischen Fähigkeiten des Ensembles. Immer unter Hochdruck, wild, wütend, klagend und riesige Textmengen verarbeitend: Matthias Kelle als junger Schriftsteller. Sehr authentisch und glaubwürdig: Jens Winterstein als Vater. Und virtuos zwischen den unterschiedlichsten Charakteren hin- und herswitchend: Lisa Wildmann als Alter Ego des Autors, als Mutter, als Intendant. Ein Sofa, ein auseinander- und zusammenfaltbares weißes Stoffzelt, aus dem sich schnell allerlei Räume zusammentakeln lassen – das ist alles, was der spannende Theaterabend zusätzlich braucht (Bühne und Kostüme: Iris Kraft).

Etwas nervend gestaltete sich die häufige Untermalung der Monologe des Erzählers mit hippen Popklängen. Den Abend etwa mit dem wunderbar melancholischen Song "Worried shoes" von Daniel Johnston zu eröffnen und zu beenden, dagegen ist an sich nichts einzuwenden. Allerdings erklang das geglättete Cover aus dem Soundtrack zum Film "Wo die wilden Kerle wohnen" und leider nicht die schräge Originalversion mit Akkordeon. Die hätte doch viel besser zum Stück gepasst. Und der Kitsch wäre zu Hause geblieben.

Rezension für www.nachtkritik.de

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